Man kann jeden Menschen anwerben. Liam O’Flaherty erzählt 1925 in seinem Roman The Informer die Geschichte des Polizeispitzels Gypo Nolan.1 Gypo identifiziert einen wegen Mordes gesuchten Dubliner Republikaner, der anschließend von der Polizei getötet wird.2 Schon in dem Augenblick, in dem er die Information liefert, wird Gypo schmerzhaft bewusst, dass er zum »Outcast« geworden ist, denn in Dublin kennt jeder jeden. Er fühlt sich verfolgt, dem Untergang geweiht und hat panische Angst aufzufliegen: »Wie durch ein böses Wunder war schon der gewöhnliche Klang menschlicher Schritte zur Bedrohung geworden.« In der irischen Vorstellungswelt ist der Spitzel übermäßig präsent — als Volksteufel, als Inbegriff des Verräters.3 Gerry Adams hat einmal bemerkt, Informanten seien »in allen gesellschaftlichen Bereichen dieser Insel geächtet«.4 Tatsächlich haben die Engländer in Irland jahrhundertelang Spione eingesetzt und Doppelagenten herangezüchtet.5 Frank Kitsons Erkenntnisse zu Beginn der Troubles trugen Früchte: Aus den Aktionen rudimentärer counter-gangs der Military Reaction Force (MRF) wurden bald raffinierte, flächendeckende Operationen, mit denen Militär und Geheimdienste der Briten sowie die Royal Ulster Constabulary in paramilitärische Kreise einzudringen versuchten.
Trevor Campbell, ein stämmiger, stattlicher Belfaster Polizist, gehörte zur Special Branch der RUC. Nach zwei Jahren Derry (für ihn immer Londonderry) war er 1975 nach Belfast versetzt worden und hatte in den folgenden siebenundzwanzig Jahren mit dem Konflikt zu tun. Die Führung von Informanten war seine Spezialität.6
»Am Anfang gab es keine richtigen Regeln. Keine Gesetze. Es war Catch-as-catch-can, erinnerte er sich. Niemand hatte ein System, wen man ins Visier nehmen und wie man mit Informanten umgehen sollte. Aber ganz allmählich wurde man szenekundiger. Die größte Herausforderung bestand darin, dass Nordirland wie eine Petrischale war. Mit Belfaster Quellen durfte man sich nicht in Belfast treffen, die Stadt war einfach zu klein. Man musste sie in einen Vorort oder aufs Land bestellen. Aber oft waren sie kiezverwurzelt und nie aus der Gemeinde weggekommen, in der sie aufgewachsen waren. Zu viel Fahrerei mit Bus und Bahn und sie verfuhren sich. Campbell bestellte Informanten oft in ein Küstendorf, wo sie so ehrfurchtsvoll aus dem Bus stiegen, als wären sie am Ende der Welt gelandet. Er traf sich gern auf dem Land mit seinen Kontaktpersonen, aber nicht zu weitab. In manchen ländlichen Gegenden, South Armagh zum Beispiel, kannten die Einheimischen jedes Auto. Ein einziges unbekanntes Fahrzeug und sie schlugen Alarm.
Einen sicheren Ort zu finden, war jedoch oft längst nicht so kompliziert wie die Verabredung. In den Anfangsjahren der Troubles gab es in vielen Haushalten kein eigenes Telefon. Und falls doch, war es oft Teil einer Gemeinschaftsleitung, sodass neugierige Nachbarn mithören konnten — keine ideale Lösung zum Kommunizieren mit einem verdeckten Kontaktmann. Der hätte theoretisch natürlich ein Münztelefon nehmen können. Nur waren praktisch fast alle Belfaster Telefonzellen durch Vandalismus zerstört, und falls ein Spitzel mit viel Glück doch mal eine fand, die noch funktionierte, kam garantiert zufällig ein neugieriger Bekannter vorbei, sah ihn und wollte wissen, mit wem er telefonierte.
Also ließ sich Campbell allerlei Möglichkeiten einfallen, wie er seine Leute zu Treffen bestellen konnte. Anfangs griff er zu den platten Tricks aus dem Lehrbuch für Kalter-Krieg-Spionage, Kreidezeichen auf einer Hauswand zum Beispiel. Aber bald kam er auf kreativere Methoden. Er veranstaltete plötzlich mit viel Getöse eine Razzia in irgendeinem Haus — nicht dem seiner Quelle, sondern dem irgendeines unverdächtigen Bürgers, der das Pech hatte, gegenüber zu wohnen. Es war zwar zugegebenermaßen hart für die unschuldigen Bewohner, deren Haus auseinandergenommen wurde, aber es funktionierte als unmissverständliche Botschaft: Wir müssen uns treffen.
Belfast ist nicht Berlin — noch nicht einmal Ost-Berlin —, in einer so kleinen, provinziellen Stadt können solche Spionagespielchen schon mal zu surrealen Situationen führen. Einmal vernahm Campbell einen hartgesottenen IRA-Mann in Castlereagh, dem festungsartigen Verhörzentrum in East Belfast, berüchtigt für rüde Vernehmungen und Foltermethoden.7 Der Mann war schon bei anderen Gelegenheiten verhaftet worden, und Campbell versuchte immer wieder, ihn anzuwerben, bisher erfolglos. Er durfte ihn höchstens drei Tage in Gewahrsam behalten, dann musste der Mann entweder angeklagt oder entlassen werden. Also saß Campbell in einem muffigen Verhörraum ohne Fenster drei Tage lang mit ihm zusammen und redete auf ihn ein. Bei solchen Begegnungen schwiegen IRA-Leute oft eisern, durchbohrten Campbell mit Blicken und sagten keinen Ton. Andere redeten und redeten, versuchten umgekehrt, ihn zu bearbeiten und ihm Informationen zu entlocken: Wo war er geboren? Für welchen Rugbyclub war er? Hatte er Familie? Wo wohnte die? Campbell wollte eine Beziehung zu den Verhörten aufbauen, wusste aber genau, dass das kleinste Detail, das ihm entwischte, zum Todesurteil werden konnte. Also plauderte er weiter in lockerem Ton, ohne harte Fakten über sich preiszugeben. Der IRA-Mann diesmal war zwar redselig, aber auch genauso diszipliniert wie Campbell: Er rückte nichts raus, womit Campbell arbeiten konnte, und er würde sich mit Sicherheit nicht anwerben lassen. Er laberte nur herum und ließ hin und wieder eine scherzhafte Drohung fallen, was Campbell Respekt abnötigte. Der Mann saß einfach die Zeit ab. Die war nach drei Tagen vorbei, und Campbell musste ihn gehen lassen.
Er hatte seine Frau jetzt seit zweiundsiebzig Stunden nicht gesehen. Sie hatte schon oft gemurrt, dass er sich nie abends mal freinahm. Also fuhr er, nachdem er den Mann entlassen hatte, nach Hause, räumte auf und ging mit seiner Frau aus. Sie besuchten ein nettes Fischrestaurant an der Küste. Der Laden brummte, er war beliebt bei Touristen, und Campbell und seine Frau hatten einen Tisch mit Meerblick. Sie hatten gerade die Vorspeise hinter sich, als Campbell hochsah und einen Mann an der Bar entdeckte. Er stand mit dem Rücken zu ihm, doch hinter der Bar war ein großer Spiegel, und oberhalb der Schnapsflaschen trafen sich ihre Blicke. Es war der Mann, den Campbell gerade drei Tage lang vernommen hatte.
»Vielleicht lassen wir den Hauptgang lieber aus«, sagte Campbell zu seiner Frau, ohne den Mann aus den Augen zu lassen. Eigentlich achtete er beim Autofahren immer sorgfältig auf die anderen Autos, und er glaubte nicht, dass ihnen jemand bis ins Restaurant gefolgt war. Das war offensichtlich ein irrer Zufall. Aber er fühlte sich gefährlich an. Campbell gab seiner Frau keine Erklärung über die delikate Situation, er entschuldigte sich nur kurz, stand auf, ging zur Bar und begrüßte den IRA-Mann mit der gleichen barschen Nonchalance wie jemanden, den er tagtäglich sah.
Der Mann grüßte zurück. Dann fragte er beiläufig: »Ist das Ihre Frau?«
»Sie ist die Frau von jemandem«, erwiderte Campbell.
»Wie ich Sie kenne, vermutlich die von jemand anderem«, feixte der Mann.
Campbell quittierte den Spruch mit einem schmalen Lächeln. Dann sagte er in wohlgesetzten Worten: »Bleiben Sie den ganzen Abend an der Bar? Oder gehen Sie zum Telefon und rufen jemanden an?«
Nach einer sorgfältig inszenierten Pause murmelte der Mann: »Gehen Sie wieder zu der guten Frau. Genießen Sie das Essen. Und dann verpissen Sie sich.«
»Wer war das?«, fragte Campbells Frau, als er wieder bei ihr war.
»Jemand, den ich kenne, von der Arbeit.« Dabei beließ er es.
*
Campbell hatte ein festes Prinzip: Man kann jeden Menschen anwerben, man muss meistens nur den richtigen Knopf finden. Manchmal hatte man jemanden fünfzehn Mal in der Mangel, und der fiel nicht um, aber plötzlich, beim sechzehnten Mal, passierte etwas. Umstände können sich ändern. Jemand war inzwischen schlecht auf seine Leute zu sprechen. Oder er saß in der Patsche und brauchte Geld. Informanten aus den ethnischen Gettos, den Brutkästen der Belfaster Paramilitärs, waren meistens arbeitslos und schlugen sich mit Transferleistungen durch. Wenn man den Eröffnungszug richtig setzte, konnte man jemandem genau in dem Moment einen Rettungsschirm anbieten, wenn er ihn am dringendsten brauchte.
Wenn man jemanden wirklich fest im Visier hatte, sich dessen Umstände aber nicht änderten, änderte man sie eben selbst. »Man sorgt dafür, dass er seinen Job verliert«, erzählte Campbell. »Oder sein Haus.« Nichts schärft einem Mann oder einer Frau, die eine Familie ernähren müssen, den Verstand besser als drohende Obdachlosigkeit. Musste der Anzuwerbende mit dem Auto zur Arbeit fahren, sorgte Campbell für einen Defekt mit hohen Reparaturkosten. »Man holt sich den Mann, wenn man weiß, er ist fix und fertig«, pflegte Campbell zu sagen.
Geld war sicher ein tauglicher Köder, konnte aber ebenso gefährlich sein. Viele Informanten waren sogenannte five-pound touts, Fünf-Pfund-Spitzel: kleine Fische, die hin und wieder mindere Tipps für ein paar Kröten lieferten. Hatte man jemanden, der tiefer drinsteckte — also wertvolle Informationen lieferte und als Agent für die Briten taugte —, hatte man das Problem, ihn angemessen zu bezahlen, ohne dass seine Tarnung aufflog. So jemand lebte meistens in einer heruntergekommenen Gegend, wo kein Mensch Geld hatte. Wie zahlt man jemandem Hunderte oder gar Tausende Pfund so, dass es niemandem auffällt? Man kann eine Geschichte über einen unverhofften Geldsegen basteln. Einen Wettsieg bei einem Rennen. Das funktioniert genau ein Mal. Und wie erklärt man die nächste Zahlung?
Die besten Informanten arbeiteten Jahre, oft Jahrzehnte für die Polizei. So ein Doppelleben war gefährlich in einem Land, in dem als Strafe für Spitzel eine Kugel in den Kopf und für ihre Familien die lebenslange Schande winkte. Einsam war es auch. Campbells Informanten entwickelten oft ein emotionales Vertrauen zu ihm. Ja, er beutete ihre Bereitschaft aus, ihr Leben zu riskieren. Ja, er hatte sie anfangs zur Kooperation erpresst und erpresste sie weiter, wenn sie aus dem Spitzelgeschäft rauswollten. Aber sehr oft war er auch der Einzige, der ihr Geheimnis kannte, das machte ihn zum Arzt, Sozialarbeiter und Priester gleichzeitig. Ihre Probleme wurden seine Probleme: Reparaturen im Haus, Weihnachtsgeschenke für die Kinder.
Nach gängiger Meinung möchte jeder Agentenführer möglichst hochrangige Quellen haben. Für Campbell dagegen waren die besten Quellen oft »Leute mit Zugang« — nicht die Zielperson selbst, sondern der Mann dicht daneben. Rekrutier denjenigen, der Gerry Adams herumkutschiert, und du kriegst wertvollere Informationen, als wenn du Gerry Adams selbst rekrutieren würdest. (Roy McShane, Adams’ persönlicher Fahrer während der 1990er-Jahre, wurde 2008 als Informant der Briten enttarnt.)8
Der IRA war die Gefahr, von den Briten infiltriert zu werden, durchaus klar. Brendan Hughes und seine Leute wussten schon durch die Verhöre von Seamus Wright und Kevin McKee in den 1970er-Jahren Bescheid über die »Freds« und Kitsons Pläne, die republikanische Bewegung von innen zu zerschlagen. Die Provos hatten Ende der 1970er-Jahre eine Einheit extra für interne Sicherheit eingerichtet, die neue Volunteers überprüfte und mutmaßliche Spitzel verhörte. Ein Elitetrupp, der als Nutting Squad bekannt werden sollte — so genannt, weil geständige Verräter eine nut in den Kopf bekamen, eine Kugel.9
Jahrzehntelang der gefürchtetste Inquisitor der Nutting Squad war Alfredo »Freddie« Scappaticci, ein Maurer mit Zwirbelbart und fassgroßem Brustkorb, als Kind italienischer Einwanderer in South Belfast aufgewachsen.10 Seinem Vater gehörte ein beliebter Eiswagen mit dem Familiennamen, und Freddie hieß bei allen nur »Wop«, etwa: Itaker, oder noch einfacher »Scap«, nicht nur als Abkürzung seines Nachnamens — es hieß auch »Ratte«. Er war zu Beginn der Troubles zur republikanischen Bewegung gestoßen und in Long Kesh interniert gewesen.
Gemeinsam mit John Joe Magee verhörte Scap alle IRA-Mitglieder, die im Verdacht standen, mit den Briten zu kooperieren.11 Seine Methode war fast immer dieselbe: Er brachte den Betreffenden in ein Safehouse und setzte ihn mit dem Gesicht zur Wand und verbundenen Augen auf einen Stuhl.12 Dann fragte er ihn stunden-, oft tagelang aus, drohte ihm, erniedrigte ihn und schlug und folterte ihn schließlich so lange, bis er gestand. »Alle Armeen ziehen Psychopathen an«, sagte Brendan Hughes gern.13 Aber Scap war ein besonderer Fall. Oft versprach er Verdächtigen, sie am Leben zu lassen, wenn sie ein Geständnis ablieferten. Und wenn sie dann schluchzend irgendein Vergehen gestanden — oder erlogen, damit die Folter aufhörte —, nahm Scap es auf Band auf. Aber was immer er seinen unglücklichen Opfern erzählte, während er sie folterte, auf Verrat an der IRA stand stets die Todesstrafe. Die Beweise für Scaps handfeste Methoden fanden sich irgendwann in Brachen am Stadtrand oder an Holperpisten auf dem Land: Leichen mit gefesselten Gliedmaßen, die Gesichter versengt oder zerschmettert, die Augen erloschen unter Fetzen von Malerkrepp.14
Wenn die Leichen auftauchten, besuchte Scap gern die Familien der Toten, spielte das Geständnis vor und erläuterte, warum ihre Lieben hingerichtet worden waren.15 Hin und wieder schilderte er auch die Art der Hinrichtung in allen Einzelheiten. Trevor Campbell wusste Bescheid über Scappaticci. Er wusste auch genau, welches Schicksal diejenigen erwartete, die zur Nutting Squad vorgeladen wurden. Frank Hegarty, ein Quartiermeister der Provos, hatte seinen Spitzelführern im britischen Geheimdienst einmal ein IRA-Geheimlager mit Waffen aus Libyen verraten. Er war nach England geflohen und hielt sich in einem Safehouse des MI5 verborgen. Wäre er dort geblieben, hätte er vielleicht überlebt. Aber er bekam Heimweh und rief seine Mutter in Derry an. Sie sagte ihm, Martin McGuinness sei da gewesen und habe ihr persönlich versichert, ihr Sohn dürfe am Leben bleiben, wenn er wieder nach Derry käme und der IRA alles erklärte.16 Hegarty kam zurück und wurde von der Nutting Squad verhört, seine Leiche wurde an einem Straßenrand an der Grenze gefunden. (McGuinness beteuerte 2011, »nicht die geringste Rolle« bei der Hinrichtung gespielt zu haben.17 Aber er hatte 1988, zwei Jahre nach dem Mord an Hegarty, in einem Interview auch getönt, republikanische Aktivisten wüssten schon, was kommt, wenn jemand »zur anderen Seite überläuft«. Auf die Frage, was das denn sei, hatte McGuinness geantwortet: »der Tod selbstverständlich«.)18 Seinen eigenen Informanten gab Campbell immer den Rat: »Egal, was passiert, niemals gestehen. Wenn du gestehst, bist du tot.«19
*
Hughes beharrte in allen Gesprächen mit Anthony »Mackers« McIntyre darauf, dass Jean McConville ein tout gewesen und deshalb hingerichtet worden sei. In ihrer Wohnung sei ein »Sender« entdeckt worden — ein Funkgerät, vermutlich von den Briten gestellt. McConville habe auch »ihre eigenen Kinder losgeschickt, damit sie Informationen sammeln und das Treiben von IRA-Volunteers um die Divis Flats herum beobachten«.
Hughes erzählte weiter, die McConvilles seien ins Visier der Provos geraten, weil ein Volunteer aus der Nachbarschaft einen der Söhne getroffen und der erwähnt habe, seine »Mami« hätte etwas zu Hause. »Ich habe eine Einheit hingeschickt, einen Trupp, der das überprüft«, erinnerte sich Hughes. Dabei sei das Funkgerät entdeckt worden. Die IRA habe McConville festgenommen und zum Verhör mitgenommen. Dort habe sie laut Hughes zugegeben, Informationen an die britische Armee gefunkt zu haben. Hughes betonte aber, er sei »damals nicht vor Ort« gewesen, seine Erinnerungen beruhten auf Informationen aus zweiter Hand. Nach Jean McConvilles Geständnis hätten seine Männer den Sender beschlagnahmt, sie verwarnt und zu ihren Kindern zurückgeschickt.
Einige Wochen später sei wieder ein Sender in ihrer Wohnung entdeckt worden, erzählte Hughes. »Beim ersten Mal hatte ich sie verwarnt«, sagte er, und jetzt »wusste ich, dass sie hingerichtet wird«. Aber selbst angenommen, dass Jean McConville tatsächlich Informantin war, wie Hughes behauptete — dass sie mehr als Lappalien hätte verraten können, ist kaum vorstellbar. Hughes und seinen Genossen war das egal. Egal, wie gering der praktische Schaden der mutmaßlichen Spitzelei sein mochte — für die IRA galt, ein tout ist ein tout und wird mit dem Tod bestraft.
Hughes beteuerte, persönlich nicht gewusst zu haben, dass die IRA Jean McConville heimlich begraben wollte, »oder ›verschwinden lassen‹, wie man heute sagt«. Er hatte sich immer als linker Freiheitskämpfer verstanden, aber diese Methode klang doch sehr nach Tyrannei. Nach Mackers’ Ansicht war »Menschen verschwinden zu lassen die Visitenkarte von Kriegsverbrechern, ob in Chile oder in Kambodscha«.20 Hughes insistierte, die Provos hätten aber nicht einmal im Chaos von 1972 jemanden einfach so getötet und verschwinden lassen. Aber so barbarisch der Beschluss wirkt, eine Mutter von zehn Kindern irgendwo zu verscharren, es hatte vorab ernsthafte Diskussionen darüber gegeben.
Nach Hughes’ Darstellung war insbesondere ein Mann aus der Belfaster Führung gegen die Entscheidung gewesen: Ivor Bell, ein Hardliner und Veteran der Kämpfe in den 1950er-Jahren. Er hatte Gerry Adams zu den erfolglosen Friedensverhandlungen im Sommer 1972 nach London begleitet.21 Bell und die Belfaster Führung hatten laut Hughes kaum ein halbes Jahr nach dem Londoner Gipfel darüber gestritten, was mit Jean McConville passieren sollte. »Wenn ihr die töten wollt, dann legt sie auf irgendeine Scheißstraße«, habe Bell gesagt. »Was soll das denn bringen, die zu begraben, wenn kein Mensch weiß, warum sie getötet wurde?« Besser wäre es, anderen Anwohnern, die auf die Idee kamen, selbst Spitzel zu werden, eine Lektion zu erteilen. Wenn man die Leiche nicht offen ausstellte, war so ein Mord seiner Meinung nach »reine Rache«.
Aber er wurde überstimmt, sagte Hughes — von Gerry Adams.
»Adams hat das Argument abgeschmettert?«, fragte Mackers nach.
»Er hat es abgeschmettert«, bestätigte Hughes.
»Und befohlen, sie verschwinden zu lassen?«
»Zu vergraben«, sagte Hughes. Er vermutete dahinter die Sorge, dass die Ermordung einer verwitweten Frau und Mutter den Ruf der IRA schädigen könnte. Aber Jean McConville war nun mal als Informantin enttarnt worden, und das erforderte die Höchststrafe. Deshalb entschieden die Provos, sie heimlich zu töten und einfach verschwinden zu lassen. Und wer so etwas in der hierarchisch organisierten IRA letztendlich entschied, war laut Hughes eindeutig klar. »Es gab nur einen, der die Hinrichtung dieser Frau befehlen konnte«, erklärte er Mackers, »und dieser Scheißkerl ist jetzt der Kopf von Sinn Féin.«22
1972 gab es noch keine Nutting Squad, also hatte Adams die heikle Aufgabe, Jean McConville über die Grenze zu bringen, Wee Pat McClures Geheimtruppe übertragen. Die Unbekannten bekamen die Verantwortung für den Transport zur Hinrichtung, und zwar vor allem ein Mitglied: Dolours Price.
*
Dolours Price gehörte zufällig zu Mackers’ engsten Freunden. Sie hatten sich nach dem Karfreitagsabkommen näher kennengelernt und festgestellt, dass sie beide politisch unzufrieden waren.23 Dolours lebte seit Mitte der 1990er-Jahre mit ihrer Familie in Dublin.24 Sie mochte die Stadt, hoffte aber auch, dass ihre Söhne den Belfaster Akzent nicht ganz verloren.25 Ihre Ehe mit Stephen Rea war nach spannungsreichen Jahren 2003 geschieden worden.26 Sie lebte weiter im gemeinsamen großen Haus in Malahide, einem wohlhabenden Vorort an der Küste nördlich von Dublin, umgeben von Memorabilien aus ihren berühmt-berüchtigten Tagen.27 An den Wänden hingen Zeitungsausschnitte, verblichene Fotos und patriotische Transparente. Ihre Beziehung zum Essen war nie wieder normal geworden. Wenn sie jemanden zum Tee einlud, servierte sie frisch gebackenen Kuchen, sah dem Besuch beim Essen zu und nahm selbst kein Stück.28 »Essen schmeckt mir nicht besonders«, sagte sie.
Sie war nicht weit gekommen mit ihren schriftstellerischen Ambitionen. Memoiren hat sie nie veröffentlicht. Aber sie ging einmal kurz wieder auf die Uni, in ein Juraseminar am Trinity College.29 Für die jungen Dubliner Kommilitonen war sie eine ziemlich ungewöhnliche Erscheinung, eine exzentrische ältere Frau mit bunten Hüten, die in Vorlesungen immer den Kopf komisch zur Seite gekippt hielt und sich nicht meldete, bevor sie eigene Einwürfe machte. Sie hatte offenbar Spaß daran, den Dozenten charmant in die Parade zu fahren.
Einmal kam sie in die Damentoilette, vor der eine lange Schlange stand. Sie wurde gerade saniert, manche Kabinen hatten noch keine Türen. »Worauf wartet ihr denn alle?«, fragte sie.
»Da sind keine Türen am Klo«, erklärte eine Studentin in der Schlange.
»Man merkt, dass ihr noch nie im Knast wart!«, rief Dolours Price, schritt zu einer türlosen Kabine und verrichtete ihr Geschäft.30
Ihren beißenden Witz hatte sie sich bewahrt. Manchmal schien sie geradezu darin zu baden. Aber es gab auch Anzeichen von quälender Ruhelosigkeit. Sie hatte manchmal das Gefühl, endlos lange in ihrem Kopf herumzugraben und immer neue Fetzchen aus der Vergangenheit hochzuholen.31 Sie war aufgewühlt von dem, was sie als junge Frau erlebt hatte — von Dingen, die sie anderen und sich selbst angetan hatte.32 Viele ihrer alten Genossen litten unter PTBS und Flashbacks aus Jahrzehnte zurückliegenden, albtraumhaften Begegnungen und fuhren in kalten Schweiß gebadet aus dem Schlaf.33 Manchmal beim Autofahren sah sie kurz in den Rückspiegel, und auf dem Rücksitz saßen nicht ihre Söhne Danny oder Oscar, sondern ihr toter Genosse Joe Lynskey und starrte zurück.34 Einmal, bei einer Vorlesung im Trinity College über politische Gefangene, stand sie wutentbrannt auf, ratterte die Namen von hungerstreikenden Republikanern herunter und stürmte aus dem Raum. Sie kam nie wieder.35
Price fühlte sich persönlich hintergangen vom Karfreitagsabkommen. »Das Abkommen war der Verrat an allem, in das sie hineingeboren wurde«, erinnerte sich ihr Freund Eamonn McCann.36 »Für Dolours hatte es intensivere und tiefere Auswirkungen als für viele andere.« Sie hatte Bomben gezündet und Banken überfallen und Freunde sterben sehen und war selbst fast gestorben — immer in der Erwartung, dass all die Gewaltexzesse am Ende zur nationalen Befreiung führen, für die ihre Familie seit Generationen kämpfte. »Für das, was Sinn Féin heute erreicht hat, hätte ich mir kein gemütliches Frühstück entgehen lassen«, sagte sie im irischen Radio.37 »Volunteers sind nicht nur gestorben«, erklärte sie, »Volunteers mussten auch töten, verstehen Sie?«
Es gibt in der Psychologie den Begriff der »moralischen Verletzung«.38 Sie ist etwas anderes als ein Trauma, sie beschreibt, wie unterschiedliche ehemalige Soldaten versuchen, die gesellschaftlichen Grenzüberschreitungen zu begreifen, die sie während des Krieges begangen haben. Dolours Price verspürte eine tiefe moralische Verletzung: Sie fühlte sich aller ethischen Rechtfertigungen für ihr Verhalten beraubt. Eine Kränkung, die noch bitterer wurde, weil ausgerechnet Gerry Adams, ihr einstiger Freund und Oberkommandeur, die republikanische Sache auf einen Friedenspfad lenkte. Er hatte ihr Befehle erteilt, sie hatte sie getreu befolgt, aber anscheinend wollte er mit dem bewaffneten Kampf im Allgemeinen und Dolours im Besonderen jetzt nichts mehr zu tun haben. Es erfüllte sie mit rasendem Zorn.
2001, bei einer republikanischen Gedenkfeier im County Mayo, stand sie auf und verkündete, sie kriege »zu viel«, wenn sie hören müsse, wie Leute heute erzählen, sie seien nie in der IRA gewesen.39 »Gerry war mein Oberkommandeur«, rief sie. Solche Freimütigkeit war nicht beliebt bei Sinn Féin, und Price bekam nicht nur ein Mal Besuch von energischen Männern, die ihr empfahlen, Ruhe zu geben.40 Sinn Féin hatte offenkundig den Drang, alle Nachrichten zu kontrollieren, was Dolours Price nur noch wütender machte. Als sich die IRA in den 1990er-Jahren immer deutlicher einer Friedensstrategie zuwandte, bildeten sich verschiedene Splittergruppen, von denen einige weiter auf Gewalt schworen. Manchmal ging Dolours Price zu Treffen, schloss sich jedoch nirgends an.41 42 »Was habt ihr denn davon, wenn ihr wieder in den Krieg zieht?«, fragte sie.43
Doch die Vergangenheit ließ sie nicht los. Ihre Söhne Danny und Oscar waren unpolitisch.44 Wenn sie aus ihrer stürmischen Jugend erzählte, sei das für sie weit weg wie die »Steinzeit«, spottete sie. Stephen Rea hatte 1998 nach einer Serie konfessioneller Morde einmal bemerkt: »Alle haben sich dermaßen an Krieg gewöhnt, dass sich kein Mensch mehr irgendwas anderes vorstellen kann.«45 Jetzt fiel es Dolours Price schwer, sich mit dem Frieden zu versöhnen. Mackers hatte die Zeitschrift The Blanket gegründet, in der etliche unzufriedene Republikaner veröffentlichten. Price hatte eine regelmäßige Kolumne, oft in Form von Drohbriefen an Adams’ Adresse. »Gerry Adams sagt immer, und er sagt das ganz sanft, damit die Basis ja keine Panik kriegt: ›Irgendwann werden die weg sein‹«, schrieb sie 2004. »Die IRA löst sich auf … die Waffen werden einbetoniert …46 Ein paar Leute kriegen Politikerjobs, andere kriegen ganz brauchbare Jobs (Sozialarbeit und dergleichen), manche kriegen Läden oder Taxis, ein bisschen Schiebung hier, Beschiss da. So ist die Welt eben.«
Price hatte das gleiche scharfe Gespür für die Kommerzialisierung der republikanischen Märtyrer wie Brendan Hughes. Sie wetterte gegen Adams’ Behauptung, wenn Bobby Sands noch lebte, würde er den Übergang in die Politik begrüßen. »Bobby, erzählt er uns, würde voll hinter dem Friedensprozess stehen«, schrieb sie.47 »Ich frage mich oft, wer wohl in meinem Namen reden würde, wenn mein Zustand im Gefängnis in Brixton den erwarteten Ausgang genommen hätte? Was für Loblieder auf das Karfreitagsabkommen würde ich angeblich singen?« (Auch Sands’ Familie nahm übel, dass Sinn Féin mit Bobbys Bild und Namen Spenden sammelte, und forderte die Partei auf, das zu lassen.)48 Price stellte erbost fest, dass sich Adams gern auf ihre geheiligte Tante Bridie berief, wenn er vor bestimmten republikanischen Zuhörern sprach.49 Und sie machte sich Gedanken über die Troubles insgesamt. Sie fragte sich: Haben wir dafür getötet?50 Sind wir dafür gestorben? Worum ging das alles eigentlich wirklich?51 Manchmal träumte sie sogar von Adams.52
Trotzdem blieb sie extrem stolz auf ihre turbulente Geschichte. Der US-amerikanischen Doktorandin Tara Keenan, die sie 2003 besuchte, erklärte sie: »Ich sehe es gern so, dass ich alles getan habe, um der Welt zu veranschaulichen, dass jeder normale Mensch fähig ist, an seine Grenzen und darüber hinaus zu gehen, geistig und körperlich, und zwar aufgrund eines tief empfundenen Glaubens.« Es klang, als beschreibe sie eine Art Ausdauersport, nicht paramilitärische Gewalt. »Ein gewöhnlicher Mensch war fähig zu außergewöhnlichem Handeln«, fuhr sie fort. »Da kann eine Frau ganze Autos stemmen, um ihre Kinder zu retten.53 Niemand von uns kennt die Grenzen seiner Fähigkeiten.«
Als Mackers ihr vom Boston-Projekt erzählte, sagte sie zu. Sie trafen sich bei ihr zu Hause und redeten stundenlang. Er schaltete den Rekorder an, und Dolours Price erzählte von ihrem stolzen republikanischen Stammbaum, von ihrer Radikalisierung in der Bürgerrechtsbewegung als Teenager, vom Londoner Bombenauftrag und vom Hungerstreik.
Vor einem der Gespräche sagte Price, sie wolle über ihre Rolle bei Jean McConvilles Verschwinden sprechen. Das Boston College hatte Mackers gerade deshalb als Interviewer ausgewählt, weil er alles andere als objektiv war. Er kam aus denselben Kreisen wie seine Interviewpartner. Dolours Price war eine liebe Freundin. Auf Fotos von seiner Hochzeit mit Carrie trägt sie ein goldglänzendes Kleid und umarmt Brendan Hughes. Sie wurde Patentante von Mackers’ Sohn. Aber als sie ankündigte, eines der furchtbarsten Geheimnisse der Troubles zu lüften, zuckte Mackers zurück. »Als Historiker will ich das sehr gern hören«, sagte er. »Aber als Freund muss ich dich warnen, Dolours. Du hast Kinder. Wenn du deine Beteiligung am Verschwinden von Jean McConville zugibst, tragen deine Kinder ein Kainsmal.«54
Dann drückte er auf AUFNAHME, und Dolours Price erzählte nichts. Mackers schickte alle Aufnahmen und Transkripte mit dem Kryptonym »H« ans Boston College. Jean McConville ist nirgendwo erwähnt.
»Ich war enttäuscht«, sagte Mackers später. »Sie hatte meinen Rat angenommen.«