Father Reid ließ den Mann mit der Waffe nicht aus den Augen. Er hatte sich bereit erklärt, gemeinsam mit dem methodistischen Pfarrer Harold Good die Entwaffnung der IRA zu überprüfen. Der Prozess verlief in Phasen.1 Die genauen Methoden, mit denen die IRA ihre Waffen »außer Betrieb« nahm, waren ein streng gehütetes Geheimnis, aber angeblich gehörte auch Einbetonieren dazu. 2005 war die Vernichtung der letzten Charge dran und die beiden Kirchenmänner als Zeugen bestellt worden. Sie sahen also genau zu, aber einmal wurde Reid durch einen Provo-Mann mit einer AK-47/Kalaschnikow ganz in der Nähe abgelenkt. »Wo immer wir hinkamen, war diese Kalaschnikow, und sie war erkennbar geladen«, berichtete er später. Er kam zu dem Schluss, dass das Gewehr demonstrativ gezeigt wurde, aber nicht, weil die Provos Angst hatten, dass die Kirchenmänner etwas tun könnten.2 Sie fürchteten Attacken durch paramilitärische Dissidenten, die den Kampf noch nicht wirklich aufgeben wollten und scharf auf das Waffenarsenal waren.

Die Waffenvernichtung verlief jedoch ohne Zwischenfälle, und nachdem das scheppernde Sammelsurium aus Sturmgewehren, Flammenwerfern, Mörsern und schultergestützten Raketenwerfern entsorgt war, blieb nur noch jene eine Kalaschnikow übrig.3 Father Reid beobachtete den Schützen bei der feierlichen Übergabe und sah, dass er gerührt war. Ihm war offensichtlich sehr bewusst: Dies ist »die letzte Waffe«.4

Während die IRA die Waffen abgab, erfüllte sich Brendan Hughes einen Lebenstraum. Er flog mit seinem Bruder Terry nach Kuba.5 Die beiden ergrauten Iren besuchten Che Guevaras Denkmal in Santa Clara und erwiesen ihm am Mausoleum ihre Ehre. Sie trafen sich mit ein paar kubanischen Revolutionsveteranen und freundeten sich mit ihnen an. Sie ließen sich fotografieren, wo Che gekämpft hatte. Brendan war begeistert.

Danach in Belfast ging es mit seiner Gesundheit bergab, er schlug sich mit allen möglichen Folgen des Hungerstreiks vor fünfundzwanzig Jahren herum.6 2008 fiel er eines Tages ins Koma und kam ins Krankenhaus. Familienangehörige scharten sich um ihn, nach und nach erschienen Veteranen der D Company, die wussten, dass ihr ehemaliger Kommandant bald sterben würde, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Und eines Abends schlich sich Gerry Adams ins Krankenhaus. Brendans Geschwistern war nicht wohl dabei. Wäre Brendan bei Bewusstsein, würde er Adams bestimmt nicht gern sehen. Er hatte in letzter Zeit oft gesagt: »Es gab mal eine Zeit, da hätte ich jede Kugel für Gerry Adams abgefangen. Jetzt würde ich ihm selber eine reinjagen.« Aber die Geschwister beschlossen, sich nicht einzumischen, Adams ging allein ins Zimmer und saß schweigend am Krankenbett.7 Am Tag darauf starb Brendan Hughes. Er war neunundfünfzig.

Seine Beerdigung an einem frostigen Februartag war ein Riesenereignis. Mackers und seine Frau Carrie nahmen teil, ebenso Dolours Price. Einmal sah sie sich um und entdeckte eine vertraute Gestalt, die aus der Menge ragte. Es war Adams. Für den Parteiführer der Sinn Féin war es nicht angenehm, hier aufzutauchen.8 Er reiste mittlerweile durch die Welt und wurde überall umarmt. Er war jetzt Mitglied einer Regierung, ein Friedensstifter. Die Leute standen Schlange, um ihm die Hand zu schütteln. Oder zupften ihn am Ärmel. Hier nicht. Hier, unter lauter Männern und Frauen, die einst seine Befehle befolgt hatten, beim Begräbnis eines Mannes, der einst einer seiner engsten Freunde gewesen war, war Adams ein Außenseiter. Brendans Bruder Terry war sicher, dass Adams keine Wahl hatte, er musste sich zeigen. Brendan Hughes war eine republikanische Ikone. Und in der symbolischen Werteskala der IRA war jedes Begräbnis eine Bühne — Adams konnte es sich leisten, sich im Leben von Hughes abzuwenden, aber nicht im Tod.9

Dolours Price beobachtete ihn und verspürte überrascht einen kleinen Stich Sympathie. Die Menschenmenge schien ihm unbehaglich zu sein. Er sah einsam aus.10 Trotzdem war er durch und durch entschlossen. Er stürzte sich in den Trauerzug, wühlte sich durchs Gedränge und arbeitete sich vor bis zwischen die Männer, die den Sarg trugen.11 »Wir waren zum Trauern da, nicht für tolle Fotos«, schimpfte Price hinterher.12 Aber der Vorwurf, Adams sei nur noch auf Politik fixiert, kam ein bisschen spät. Er selbst sagte der Sinn-Féin-Zeitung An Poblacht nach dem Begräbnis, Hughes genieße »höchste Wertschätzung« bei allen, die ihn gekannt hatten, auch wenn er »mit der in den letzten Jahren eingeschlagenen Richtung nicht einverstanden« gewesen sei. »Er war mein Freund«, erklärte er und schloss mit einem gälischen Aphorismus, übersetzt etwa: »Er ist auf dem Weg zur Wahrheit.«13

Ein Gedanke, der sich bald als zutreffender erweisen sollte, als Adams sich hätte vorstellen können.

*

Als Hughes starb, war die Existenz des Belfast-Projekts noch ein streng gehütetes Geheimnis. Aber es deutete sich bereits an, dass Sinn Féin immer weniger kontrollieren konnte, wie IRA-Geschichte zu Zeiten der Troubles erzählt zu werden hatte. Ricky O’Rawe hatte zwar erst in seiner allerletzten Sitzung mit Mackers enthüllt, dass die IRA unter Adams’ Führung ein Angebot der britischen Regierung ausgeschlagen hatte, mit dem der Hungerstreik von 1981 vielleicht hätte beendet werden können, bevor die letzten sechs Streikenden starben. Aber die Erfahrung, sich von einer Last zu befreien, hatte ihn so beflügelt, dass er danach beschloss, die Welt solle seine Geschichte nicht erst nach seinem Tod erfahren, sondern jetzt.14 O’Rawe war noch relativ jung und gesund, ein Mann mit einem breiten runden Gesicht, raspelkurzen grauen Haaren und einem heiteren Gemüt. Bis zu seinem Tod konnten Jahrzehnte vergehen. Außerdem sollten seine Erinnerungen nicht nur zukünftigen Studenten des Boston College zugutekommen. Er wollte sie der ganzen Welt erzählen.

Am liebsten wollte er ein Buch schreiben. Die Idee klang etwas abwegig, womöglich gar gefährlich, und Projektleiter Ed Moloney riet dringend ab. Der Vorwurf, Gerry Adams habe das Leben von sechs Hungerstreikenden bewusst geopfert, um Sinn Féins Wahlaussichten zu verbessern, war einfach zu brisant. »Wenn du das veröffentlichst, nageln sie dich ans Kreuz«, sagte Moloney.15

Aber O’Rawe war nicht von der Idee abzubringen. »Wenn ich sterbe, bevor das rauskommt, sind die ganzen alten Säcke fein raus«, sagte er.16 2005 brachte er das Buch heraus. Es hieß Blanketmen, Deckenmänner, und zeichnete Adams als Visionär mit kühlem Kopf, aber auch als gerissenen Macher. »Wie immer die Geschichte Adams in Bezug auf den Streik dereinst bewertet«, schrieb O’Rawe, »ohne ihn und die Streikenden gäbe es heute in Irland nicht mal den Anschein von Frieden.«17

Aber selbst die differenzierte Darstellung reichte nicht zur Besänftigung der Leute, die der Ansicht waren, hier werde eine persönliche Geschichte als Waffe benutzt und direkt auf Gerry Adams gezielt. Der Sinn-Féin-Chef selbst reagierte nicht, er hielt sich einfach von O’Rawe fern. Aber er ließ, in O’Rawes Worten, »seine Dobermänner von der Leine«: Allerlei Stellvertreter und Verbündete von Adams machten Druck auf die Medien, das Buch zu verreißen. Bik McFarlane, der während der Hungerstreiks eng mit O’Rawe zusammengearbeitet hatte, spottete, es sei »reine Fiktion«, und behauptete, ein Angebot der Briten habe es nie gegeben, weshalb Adams die Insassen gar nicht zum Ablehnen aufrufen konnte.18 (Einige Jahre später änderte McFarlane seine Geschichte und gab zu, dass es zwar ein geheimes Angebot gegeben hatte, aber nicht die IRA-Führung, sondern die Gefangenen selbst hätten es für unwürdig gehalten und weiterstreiken wollen.)19

Falls die Attacken gegen das Buch O’Rawe mundtot machen sollten, gingen sie nach hinten los.20 Er ließ keine Gelegenheit aus, sich öffentlich mit allen zu streiten, die irgendein Detail bezweifelten, und beschloss, noch ein Buch über den Hungerstreik und dessen Nachwehen zu schreiben. Er stellte fest, dass er sogar Unterstützung bekam für seine Entschlossenheit, etwas zu erzählen, das der republikanischen Orthodoxie nicht passte. Dolours Price schrieb eine lobende Rezension in The Blanket und dankte O’Rawe, dass er »ein so wertvolles Puzzleteil zugänglich gemacht hat«.21

Auch Brendan Hughes war von Blanketmen eingenommen und hatte es vor seinem Tod noch verteidigt. »Ich war selbst Gefangener, und O’Rawe hat öfter mit mir über Dinge gesprochen, die ihn umtrieben und jetzt in diesem Buch stehen«, schrieb er in einem Leserbrief an die Irish Times.22 Er hatte sich in den letzten Lebensjahren hin und wieder mit O’Rawe getroffen und Erinnerungen an die Gefängnisjahre ausgetauscht. O’Rawe hatte oft gesagt: »Das musst du alles aufschreiben, Dark.«

Und Hughes hatte geantwortet: »Keine Bange, ich hab’s auf Band.«23

*

2009 wurde Dolours Price festgenommen, sie sollte eine Flasche Wodka bei Sainsbury’s gestohlen haben. Sie beharrte darauf, sie habe die Flasche nicht stehlen wollen, aber der Supermarkt habe Selbstbedienungskassen mit elektronischen Scannern, und sie sei mit der Technik nicht klargekommen. Sie erklärte lang und breit, es entspreche »weder ihrem Temperament noch ihrer Erziehung, in einem Laden etwas mitzunehmen, ohne zu bezahlen«.24 Die Anzeige wegen Ladendiebstahls wurde fallen gelassen. Eine Zeit lang hatte sie tatsächlich mit Alkohol- und Drogensucht zu kämpfen, und mit PTBS.25 2001 war sie mit einem gestohlenen Rezept erwischt und wegen Diebstahls verurteilt worden.26 Ein paar Jahre später wurde sie rausgeworfen, als sie im Gefängnis Maghaberry einen abtrünnigen republikanischen Häftling besuchte.27 Die Gefängnisbeamten behaupteten, sie sei betrunken gewesen, was sie bestritt. Ihre Freunde waren besorgt. Sie traf sich noch immer einmal in der Woche mit Eamonn McCann, ihrem alten Freund aus Derry. Sie wollte dann oft über die Vergangenheit reden, aber McCann versuchte immer sofort, das Thema zu wechseln. »Nein, nicht«, sagte er, »ich will das nicht wissen.«28 Sie wollte auch über ihre Zeit bei der IRA schreiben, wie Ricky O’Rawe. McCann riet ihr dringend davon ab. »Schreib über deine Kindheit«, sagte er. »Aber nicht über die IRA

Wer offen redete, zog sich noch immer wüste Kritik zu. 2009 schrieb ein weiterer IRA-Veteran ein Memoir, Gerry Bradley. Er empfand die gleiche Verachtung wie Price für die »Shinners«, wie Sinn-Féin-Mitglieder oft genannt wurden. Er hielt viele von ihnen für »Schmarotzer an dem, was die IRA erreicht hatte«.29 Seinem Co-Autor Brian Feeney, einem renommierten Troubles-Forscher, hatte Bradley versichert: »Eins weiß ich genau, ich bin kein Informant.«30 Aber kaum war das Buch erschienen, tauchten überall in seiner Nachbarschaft in North Belfast Graffiti auf, die ihn als tout denunzierten. Er protestierte: »Ich habe nur meine Geschichte erzählt«, und beharrte darauf, er wolle nur »die Wahrheit über das Leben in der IRA festhalten«.31 Am Ende musste er aus Belfast flüchten und ging nach Dublin ins Exil.32 Ausgegrenzt und gesundheitlich angeschlagen fuhr er eines Tages zum Belfast Lough und nahm sich auf dem Parkplatz eines normannischen Schlosses das Leben.33

»Dürfen etwa nur die selber Bücher schreiben?«, fragte Ricky O’Rawe nach Bradleys Tod empört. »Soll die Geschichte nie korrekt aufgezeichnet werden?«34

Doch Brendan Hughes hatte eigene Vorkehrungen getroffen. Er hatte Mackers und Ed Moloney das Versprechen abgenommen, seine Erinnerungen posthum in Buchform zu veröffentlichen. Als es so weit war, übernahm Moloney die Arbeit freiwillig. Er stellte aus den Transkripten von Hughes und von David Ervine, einem loyalistischen Paramilitär der Ulster Volunteer Front und ebenfalls Teilnehmer am Boston-Projekt, ein Buch zusammen: Voices from the Grave, Stimmen aus dem Grab.35 Es erschien 2010. Bob O’Neill und Tom Hachey vom Boston College präsentierten es im Vorwort als »Band eins einer geplanten Reihe mit Publikationen aus dem Archiv des Boston College zur Oral History der Troubles«.

Damit war das Geheimnis um das Archiv gelüftet.36 Das Buch zitierte Brendan Hughes mit vollem Namen. Der bestätigte nicht nur, dass Gerry Adams IRA-Kommandant gewesen war, sondern auch persönlich Mordaufträge erteilt hatte. Er erzählte mit eigenen Worten, dass Adams selbst ihn nach Amerika geschickt hatte, um ArmaLites zu besorgen. Dass Adams Dolours mit den Bomben nach London geschickt hatte. Dass Adams die Tötung von Jean McConville angeordnet hatte. Nach diesem Buch, versprach der Verlag Faber & Faber, »sind gewisse Versuche der Geschichtsleugnung in der Öffentlichkeit nicht mehr möglich«.37

Voices from the Grave erzeugte enorme Aufmerksamkeit — und wurde sofort verrissen. »Ich kannte Brendan Hughes gut«, sagte Gerry Adams, als er danach gefragt wurde. »Es ging ihm nicht gut, schon lange nicht, auch nicht, als er diese Interviews gegeben hat.38 Brendan war auch gegen die Auflösung der IRA und den Friedensprozess.« Adams stand kurz vor der Wahl zum Abgeordneten im Dáil Èireann, der gesetzgebenden Gewalt der Republik Irland, und wies die Behauptung, er habe etwas mit dem Fall Jean McConville zu tun, und »auch jede andere von Ed Moloney in Umlauf gebrachte Unterstellung absolut« zurück. Sinn Féin ließ pauschal verlautbaren, dass jeder, der am Belfast-Projekt teilgenommen habe, »bösartige Absichten« verfolge.39

Bald geriet der als Hughes’ Interviewer genannte Anthony »Mackers« McIntyre ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Er war im Kreis um Adams schon seit Langem in Ungnade gefallen, aber jetzt wurde er auch bedroht. Eines Abends beschmierte jemand das Haus eines Nachbarn mit Kot — offensichtlich die falsche Adresse.40 Die Aktion, eine Kombination aus Rachsucht und Pfusch, trug den Stempel der IRA. Laut einer Pressemeldung erklärte ein anonymer Republikaner, Mackers werde »denselben Weg nehmen wie Eamon Collins«. Der Provo aus Newry war 1999 erstochen worden, kurz nachdem er seine Memoiren über das Leben in der IRA veröffentlicht hatte.

Aber es gab auch positive Rezensionen, und Ed Moloney ging auf eine Buchtour. Er plante eine Dokumentation für das irische Fernsehen mit O-Tönen von Brendan Hughes. Und dann meldete sich eines Tages Danny Morrison, Gerry Adams’ langjähriger Freund und Verbündeter, beim Boston College und beantragte Zugang zu den Hughes-Bändern.

Morrison war während der Troubles der IRA-Chefpropagandist gewesen, er soll auch den Slogan »ArmaLite und Wahlurne« erfunden haben. Hughes habe dem Boston College seine Geschichte unter der Bedingung erzählt, dass sie erst nach seinem Tod veröffentlicht werden durfte, und Hughes sei ja inzwischen tot, also müsse er, Morrison, jetzt auch Zugang zu den Original-Transkripten bekommen. Als das College seinen Antrag an Moloney und Mackers weiterleitete, gerieten sie in Panik.41 Unter keinen Umständen durfte Morrison Zugang bekommen, sagte Moloney. Mackers schrieb eine E-Mail an Tom Hachey, dass Morrison »eine Hauptrolle bei den Spitzeljägern der IRA gespielt« habe. »Danny Morrison hat keinerlei intellektuelles Interesse an den Bändern. Er ist kein akademischer oder investigativer Autor, sondern ein Propagandamann.«42

Vielleicht war das Boston-Projekt nach dem Karfreitagsabkommen aus einem euphorischen Rausch heraus entstanden, dass so etwas passieren könnte, war den Machern jedenfalls nie in den Sinn gekommen. Das ursprüngliche Konzept enthielt tatsächlich einige nicht eindeutig formulierte Punkte. Mackers’ Pendant Wilson McArthur zum Beispiel hatte seine Interviews mit Loyalisten in dem Glauben geführt, sie würden erst nach dem Tod von allen Befragten veröffentlicht. Ihn hat es kalt erwischt, dass Moloney Voices from the Grave nur wenige Jahre nach dem Abschluss der Interviews veröffentlichen wollte und damit auch die Existenz des Archivs publik machen würde — nach dem Tod des ersten Teilnehmers und nicht erst Jahrzehnte später nach dem Tod des letzten.43

Es war auch nirgends festgelegt, wer Zugang zur Oral History haben sollte. Die Rede war immer von den »zukünftigen Studenten des Boston College«. Dessen historische Fakultät erfuhr jedoch erst, als Moloneys Buch erschien, von dem ganzen Projekt. Das Archiv war tatsächlich so geheim, dass im Boston College fast niemand außer Hachey und O’Neill davon wusste. Als ein Geschichtsprofessor davon erfuhr, schickte er eine Studentin in die Burns Library, sie sollte die Aussagen von Hughes und Ervine für ihre Doktorarbeit einsehen.44 Ed Moloney war strikt dagegen. »Ich rate dringend dazu, das Archiv ab sofort für jedweden weiteren Zugang zu schließen«, schrieb er an Hachey.45 Er schlug ein strenges Verfahren vor.46 Es dürfe zwar jeder Zugang zu den Interviews beantragen, aber die Bewerberliste müsse Moloney »zur Prüfung« vorgelegt werden.

Hachey schrieb eine empörte E-Mail an Mackers. Wenn von Anfang an klar gewesen wäre, dass das ganze Projekt »für lange Zeit auf Eis gelegt« werden sollte, mahnte er, dann wäre es womöglich nicht vom Boston College gefördert worden. »Wir bekamen nicht den geringsten Hinweis auf eventuelle Nachwehen«, beschwerte er sich. Niemand könne von der Universität erwarten, das Archiv »vor der gesamten akademischen und/oder journalistischen Welt außer Ed Moloney« verschlossen zu halten.47

Die beiden Iren und die beiden Amerikaner — Moloney, McIntyre, Hachey und O’Neill — hatten das Belfast-Projekt von Anfang an mit Schweigen umgeben, weil sie wussten, wie heikel und potenziell gefährlich es war. Aus Sorge um das ganze Unternehmen hatten sie den Kreis derer, die davon wussten, äußerst klein gehalten und fast ein Jahrzehnt lang, bis zu Moloneys Buch, peinlich genau auf das Prinzip »Kenntnis nur bei Bedarf« geachtet. Aber gerade, dass der Kreis so klein war, könnte sie verleitet haben, manches einfach für selbstverständlich zu halten und wichtige Fragen gar nicht zu stellen, zum Beispiel wie man damit umgehen sollte, falls das Projekt aufflog und ihre schlimmsten Befürchtungen eintraten.

*

Im Februar 2010, kurz bevor Voice from the Grave herauskam, gab Gerry Adams der Irish News ein langes Interview. Er wurde auch nach Joe Lynskey gefragt, dem »Mad Monk«, den die IRA während der Troubles hatte verschwinden lassen. Sie hatten ihn vor ihr Kriegsgericht gestellt, weil er einen Anschlag auf seinen Liebesrivalen befohlen hatte, der dann die Schießerei im Cracked Cup ausgelöst hatte. Als die IRA 1999 zugab, Menschen verschwinden lassen zu haben, und Namen — unter anderem Seamus Wright und Kevin McKee sowie Jean McConville — veröffentlichte, stand Lynskey nicht auf der Liste.48 Ed Moloney hatte, bevor er Lynskeys Geschichte in seinem Buch veröffentlichte, dessen Familie persönlich aufgeklärt, wer ihn hatte verschwinden lassen. Adams’ Antwort auf die Frage der Irish News kam beiläufig: »Das war ein Nachbar von mir.« Gefragt, ob er mit ihm befreundet war, sagte er: »Na klar. Ich kannte ihn, er ist verschwunden.«49 Und fügte noch hinzu, er rufe jeden, der etwas über sein Verschwinden wisse, auf, damit rauszurücken.

Dolours Price las das Interview zu Hause bei Dublin und wurde wütend.50 Sie hatte zwar seit Jahren nicht mehr direkt mit Adams gesprochen, kommunizierte aber über ihre Kolumnen in The Blanket weiter mit ihm. »Ich kenne dich noch von ganz früher«, schrieb sie darin einmal. Hatte ihn der »klerikale Einmischer« — eine Anspielung auf Father Reid — von der republikanischen Sache abgebracht? Oder waren es »die Schmeicheleien der Amerikaner«?51 Sind die »dir zu Kopf gestiegen«, fragte sie ihn direkt, »ist dein Ego in die Höhe geschossen und du hast endlich die Chance gesehen, jemand zu sein?« Immer wieder erwähnte sie ihr Gefühl, persönlich und politisch verraten worden zu sein. »Wegen ein paar Häusern und einem feinen Anzug am Leib hast du es doch sicher nicht getan, oder?«, fragte sie. »Ich bin total neugierig.«

Adams hat auf die Provokationen nie geantwortet, auch nicht, wenn Price auf die Nichtbeachtung mit Drohen reagierte. »Ich freue mich auf die Freiheit, meine eigenen Erfahrungen aufzudecken«, schrieb sie 2005, »das ist die einzige Freiheit, die ich noch habe.«52

Neuerdings rief sie Journalisten an, wenn sie Lust auf ein Gespräch hatte. Meistens hockte sie zu Hause, trank Alkohol und schlidderte in trübsinnige Tagträume über die Vergangenheit. Es war nicht nur die Einsamkeit. In solchen Augenblicken packte sie ein trotziger Drang, die Dinge geradezurücken. Zeugnis abzulegen. »Scheiße, Dolours, was machst du denn?«, schimpfte Eamonn McCann und erklärte ihr, dass es lebensgefährlich war, Journalisten anzurufen und über ihre Geschichte zu plaudern. Aber sie war offenbar von einer kaum kontrollierbaren »enormen Wut« gepackt.53 Im Februar 2010, als sie das Adams-Interview über Lynskey las, griff sie wieder zum Telefon.54

Am nächsten Morgen kam Allison Morris in ihr Büro bei der Irish News und fand einen Stapel Meldungen vor.55 Price hatte anscheinend die ganze Nacht lang in der Nachtredaktion angerufen. Morris war zufällig auch in Andersonstown aufgewachsen, wie Dolours Price. Und sie war eine aggressive Reporterin, blond, ein bisschen dreist, mit exzellenten Quellen bei Republikanern. Sie fuhr nach Dublin, denn Price wollte sie unbedingt treffen. Morris hatte viele ehemalige Paramilitärs interviewt, sie wusste, womit man rechnen musste: Die Männer und Frauen waren traumatisiert und schleppten sich oft in einem Nebel aus Alkohol und verschreibungspflichtigen Medikamenten durch den Tag. Sie hatte Brendan Hughes vor seinem Tod einige Male interviewt und manchmal abbrechen müssen, weil er zu betrunken war. Dolours Price dagegen wirkte nüchtern und bei klarem Verstand, als sie Morris und dem Fotografen die Tür öffnete. Sie hatte platinblond gefärbte kurze Haare, einen roten Schal locker um den Hals gewickelt und trug eine Strickjacke. Morris war tief beeindruckt von ihrem Auftreten und ihrer Schönheit.56 Auch ihr, wie so vielen, kam Dolours Price vor wie jemand vom Theater, eine Bohemienne.57

Price wollte über die Verschwundenen reden. Sie war aufgebracht, wie nonchalant Adams das Verschwinden ihres alten Freundes Joe Lynskey kommentiert hatte, so als ginge es um eine göttliche Fügung und nicht um eine Gräueltat, die er selbst angeordnet hatte. Lynskey sei »ein Gentleman« gewesen, erklärte sie Morris.58 Und dass sie ihn nicht in den Tod hätte fahren dürfen. Sie hätte ihm helfen müssen zu fliehen. »Es hat mich zerrissen und tut es noch«, sagte sie. »Ich hätte mehr tun müssen.«

»Ist Ihnen klar, dass Sie sich selbst belasten?«, fragte Morris.

»Das interessiert mich nicht mehr«, antwortete Price. »Der Mann ist ein Lügner.«59

Einmal sah Morris mitten im Gespräch hoch und zuckte zusammen, ein Junge stand zögerlich in der Tür. Er hatte sehr helle Haut und strubbelige dunkle Haare. Stephen Rea wie aus dem Gesicht geschnitten, dachte sie. Es war Danny, beider Sohn. Er hatte ein Telefon in der Hand und sagte zu Morris: »Meine Tante Marian möchte mit Ihnen sprechen.«60

Morris nahm das Telefon, und Marian Price fragte wütend, ob sie etwa Dolours interviewte. Dolours sei in St. Patrick’s behandelt worden, sagte sie, einer psychiatrischen Einrichtung in Dublin. »Sie ist nicht gesund«, verfügte Marian.61 »Sie darf gar nicht mit Leuten reden.«

»Ihre Schwester ist eine erwachsene Frau«, protestierte Morris.62 Aber Marian blieb stur.

Morris verließ Dolours und beriet sich mit ihrem Chefredakteur, wie man das Interview trotzdem retten könnte. Schließlich kam sie auf die Idee, eine etwas abgeschwächte Fassung zu veröffentlichen und zu ergänzen, dass Dolours Price vorhabe, vor der Independent Commission for the Location of Victims’ Remains auszusagen — wer der Kommission Informationen lieferte, wurde theoretisch nicht strafverfolgt. Der Artikel erschien ein paar Tage später mit der Schlagzeile »Dolours Price und das Trauma der IRA-Verschwundenen«. Price könne, stand darin, »entscheidende Informationen« zum Verschwinden von Joe Lynskey, Seamus Wright und Kevin McKee liefern.63 Einzelheiten waren nicht genannt, aber Morris erwähnte, dass Price etwas »über die letzten Tage von Jean McConville, der Mutter von zehn Kindern« wisse.64 Sie hatte auch, bevor der Artikel erschien, Price angerufen und gefragt, ob sie die Kommission kontaktiert hatte.65 Ja, habe sie, hatte Price gelogen.66

*

Drei Tage nach Morris’ Artikel kam auch die Belfaster Boulevardzeitung Sunday Life mit einer Geschichte raus. Der Artikel »Gerry Adams und die Verschwundenen« brachte exakt die Einzelheiten, die Morris ausgespart hatte, und legte sie einer »Terroristin im Minirock, die einen Filmstar geheiratet hat«, in den Mund, Dolours Price. Laut Sunday Life habe Price Adams frontal angegriffen, indem sie erklärte, er habe »beim Verschwindenlassen der Opfer eine Schlüsselrolle gespielt«.67 Sie habe Joe Lynskey abgeholt, bevor er getötet wurde, »auf Befehl von Gerry Adams«. Sie habe auch Jean McConville zum Sterben über die Grenze gefahren. Ein paar IRA-Mitglieder hätten »Jeans Leiche lieber mitten auf der Albert Street entsorgt«. Aber Gerry Adams habe »dagegen argumentiert«, beharrte sie, weil das nicht gut fürs Image gewesen wäre.

Diese Vorwürfe waren verheerend detailgenau und stimmten exakt mit den Aussagen von Brendan Hughes überein. Aber etwas an dem Sunday Life-Artikel war merkwürdig. Sein Autor Ciaràn Barnes hatte anscheinend nicht selbst mit Dolours Price gesprochen. Er zitierte vielmehr aus einem »Tonbandgeständnis« von Price, »das Sunday Life anhören konnte«. Was hatte es damit auf sich? Bei Barnes heißt es an einer Stelle, Price habe »gegenüber Akademikern der Universität Boston auf Tonband ihre Rolle bei den Entführungen gestanden«.68 Auch wenn der Name nicht stimmte — die Universität Boston und das Boston College sind verschiedene Institutionen —, eins war unmissverständlich klar: Ein Boulevardreporter namens Ciarán Barnes war offenbar irgendwie an Dolours Price’ Boston-College-Bänder gekommen, und zwar vor ihrem Tod.

Ed Moloney geriet in helle Aufregung, als er davon erfuhr. Der Sunday Life-Artikel suggerierte eindeutig, dass Barnes Zugang zum Bostoner Archiv gehabt hatte. Aber Moloney wusste, dass das nicht sein konnte. Die Aufnahmen lagen unter Verschluss in der Schatzkammer der Burns Library. Und Moloney kannte noch einen Grund, warum Barnes nicht an die College-Bänder gelangt sein konnte: Bei den Interviews mit Mackers hatte Dolours Price Jean McConville nie erwähnt — denn Mackers hatte ihr dringend davon abgeraten. »Dolours Price hat den Namen ›Jean McConville‹ kein einziges Mal erwähnt«, schrieb er später in einer eidesstattlichen Erklärung.

Wenn Barnes aber nicht die Bostoner Bänder abgehört hatte, auf was für ein Geständnis berief er sich dann? Moloney und Mackers brüteten eine Theorie aus. Allison Morris und Ciarán Barnes waren Kollegen bei der Andersonstown News gewesen und befreundet. Moloney und Mackers wussten von Morris’ Interview für die Irish News, das wegen Marian abgebrochen werden musste. Sie kamen zu dem Schluss, dass Morris, nachdem ihr eigener, entschärfter Artikel erschienen war, das Band mit ihrem Interview wohl ihrem Freund Barnes gegeben hatte.69 Bei Barnes stand sowohl, dass er »ein Tonbandgeständnis« abgehört habe, als auch, dass Dolours Price beim Belfast-Projekt etwas »auf Tonband gestanden« habe. Der Artikel legte also nahe, es gebe nur ein einziges Tonbandgeständnis. Doch tatsächlich gab es zwei.

Allison Morris bestritt, Barnes ihr Interview überlassen zu haben, Barnes sagte nur, es sei »nicht zulässig«, über seine Quellen zu sprechen. Unterdessen widersprach Gerry Adams erbost Price’ Behauptungen und teilte mit, sie »opponiere seit Langem gegen Sinn Féin und den Friedensprozess«.70 Sie sei »traumageschädigt« und: »Es gibt da offenbar Probleme, mit denen sie für sich noch abschließen muss.«71 Auf dieselbe Art hatte er Brendan Hughes fertiggemacht, auch er hatte seiner Beschreibung nach »so seine Probleme und Schwierigkeiten« gehabt.72

Wenn Adams tatsächlich sowohl Price’ wie auch Hughes’ oberster Befehlshaber gewesen war, dann darf man seine Bemerkungen als ausgesprochen kaltschnäuzig interpretieren: Beide waren aufgebracht, weil Adams ihnen erst brutale Taten befohlen hatte und sich dann von ihnen distanzierte und behauptete, sie allein trügen die moralische Verantwortung, da er ja nie in der IRA gewesen sei. Als sich beide schließlich selbst dazu äußerten, behauptete er, dass sie logen, und qualifizierte sie ab mit dem Hinweis auf das Trauma, unter dem beide in der Tat litten. Er selbst dagegen wirkte auffallend unbelastet von der Vergangenheit. Viele andere IRA-Leute litten Qualen wegen all dem, was sie während der Troubles erlebt hatten. Adams wirkte, als hätte er nie auch nur eine schlaflose Nacht. »Brendan hat gesagt, was er gesagt hat«, erklärte er in einem Interview.73 »Und Brendan ist tot. Also Schluss damit.«