Im Herbst 2015 legte die nordirische Außenministerin Theresa Villiers einen vom PSNI und dem britischen Geheimdienst erstellten Bericht über paramilitärische Aktivitäten vor. »Alle wichtigen paramilitärischen Gruppen, die während der Troubles aktiv waren, sind weiter existent«, heißt es darin. Und dazu gehöre auch die Provisional IRA. Die Provos operierten weiter, wenn auch »sehr reduziert«, und hatten auch weiter Zugang zu Waffen. Bobby Storey hatte recht gehabt: Sie waren nicht weg.1
Gerry Adams qualifizierte den Bericht als »Unsinn« ab.2 Aber es gab einen Aufschrei. Villiers behauptete unter anderem, dass der IRA Army Council — das siebenköpfige Führungsgremium, das jahrzehntelang den bewaffneten Kampf dirigiert hatte — weiterhin nicht nur die IRA, sondern auch Sinn Féin »strategisch übergreifend« kontrolliere. Die Militärs hätten insgeheim, hinter den Kulissen, noch immer das Heft in der Hand. Der Bericht hielt explizit fest, dass die Organisation heute keine Gewalt mehr ausübe, sondern »rein politisch ausgerichtet« sei. Trotzdem verfestige sich, schrieb ein Kolumnist in der Irish Times, wieder »die Vorstellung, dass hinter der ganzen Politshow Männer und Frauen mit Sturmhauben stecken«.3
Fast zwei Jahrzehnte waren seit dem Karfreitagsabkommen vergangen, von gelegentlichen Attacken von Dissidenten abgesehen herrschte Frieden in Nordirland. Doch die Gesellschaft schien gespalten wie eh und je. Noch immer lagen katholische und protestantische Viertel abgeschottet hinter NATO-Draht und stählernen sogenannten Friedensmauern, die sich wie die Risse in einem Marmorblock durch die Stadt zogen. Es gab jetzt sogar mehr Friedensmauern als auf dem Höhepunkt der Troubles. Sie waren hoch und sorgten für eine gewisse Ruhe, weil sie die Stadtbewohner physisch voneinander getrennt hielten wie Tiere im Zoo. Aber sie waren weiter auf beiden Seiten übersät von Hassparolen — auf der einen Seite K.A.T. für »Kill all Taigs«, der verächtliche Name für Katholiken, auf der anderen K.A.H., »Kill all Huns«, was sich auf Protestanten bezog.
Belfasts Zentrum war belebt, beinah kosmopolitisch, und von den Kettenläden dominiert wie andere wohlhabende europäische Städte auch — Waterstones, Caffé Nero, Kiehl’s. Die Titanic Studios, eine Belfaster Produktionsfirma, waren jetzt berühmt, hier wurde Game of Thrones gedreht. Es gab sogar eine bei Touristen beliebte Troubles-Tour: Einstige Kämpfer, die mittlerweile Taxis hatten, kutschierten die Besucher durch die Problemzonen der schlimmen Jahre und erklärten ihnen die allgegenwärtigen Murals von berühmten Schlachten, Märtyrern und Revolverhelden. Ganz als wären die Troubles ferne Geschichte.
In Wahrheit lebten die meisten Einwohner weiter in religiös definierten Vierteln, und über neunzig Prozent der nordirischen Kinder gingen weiter auf segregierte Grundschulen.4 In manchen Teilen von Belfast waren selbst Bushaltestellen informell katholische oder protestantische Orte, und man ging ein, zwei Häuserblocks weiter und wartete da, wo man keinen Ärger befürchten musste. In protestantischen Vierteln flatterten weiter Hunderte Union Jacks, in katholischen dagegen prangten oft die irische Trikolore oder palästinensische Flaggen — eine Solidaritätsgeste und gleichzeitig ein Signal, dass viele Republikaner selbst jetzt noch den Norden als besetzt empfanden. Der US-amerikanische Diplomat Richard Haass hatte eine Zeit lang Mehrparteienverhandlungen über noch ungelöste Probleme des Friedensprozesses geleitet. Aber sie waren bald gescheitert, nicht zuletzt an der Flaggenfrage.5 Das Stammesdenken und seine Tücken waren noch immer so wirkmächtig, dass sich die verschiedenen Seiten nicht auf eine Regelung für die Präsentation der Hoheitszeichen verständigen konnten. 2012 stimmte der Belfaster Stadtrat mehrheitlich für die Begrenzung der Tage, an denen der Union Jack über dem Rathaus gehisst werden durfte, und sofort wollten Demonstranten das Gebäude stürmen, es kam quer durch die Stadt zu Unruhen, bei denen Unionisten Ziegelsteine und Benzinbomben warfen.6
Im Licht dieses Dauerzwists klingt eine Beobachtung im Villiers-Report spannend: »Die Existenz und die Bindungskraft der paramilitärischen Gruppen hat den Übergang von extremer Gewalt zu politischem Fortschritt nach der Waffenruhe entscheidend mit ermöglicht.« Ein Befund, der der gefühlten Realität widersprach und so subtil eingebaut, dass er im medialen Jubelsturm über den Report unterging. Die Existenz republikanischer und loyalistischer Truppen schadete dem Friedensprozess nicht etwa — sie half ihm. Wegen ihrer weiter bestehenden Hierarchien besaßen sie die »Autorität«, ihre Mitglieder »zu beeinflussen, im Zaum zu halten und zu lenken«, hielt der Report fest. Es gebe »bisher nur begrenzt Hinweise auf Meinungsverschiedenheiten«, und die würden »von der Führungsebene« stets rasch beseitigt.
Für Brendan Hughes, Dolours Price, Marian Price und Anthony McIntyre war es reiner Eigennutz, intolerant und grausam, dass Sinn Féin keinerlei Opposition duldete. Aber vielleicht, das schien der Villiers-Report nahezulegen, war es nur durch rücksichtslose Disziplin — und das eiserne Prinzip, nach dem der irische Republikanismus ein Monolith sein müsse und null Toleranz gegenüber Ausreißern zeigen dürfe — möglich, dass Adams und seine Leute den Deckel auf dem hochexplosiven Topf halten und ein Wiederaufflammen des Kriegs verhindern konnten.
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Etwa gleichzeitig mit dem Erscheinen des Villiers-Report gab die Belfaster Staatsanwaltschaft bekannt, dass sie beabsichtigte, gegen Ivor Bell Anklage im Zusammenhang mit dem Mord an Jean McConville zu erheben. »Es ist jetzt beschlossene Sache, diesen Beschuldigten anzuklagen«, erklärte ein Regierungssprecher.7 Bell war mittlerweile fast achtzig Jahre alt, ein gebückter Mann mit Strickjacke und einem schneeweißen Schnauzer und flaumigen Augenbrauen wie ein alter Zauberer. Er kam nur mit Mühe die Treppen im Gericht hinauf.8 Für Gerry Adams, der zwar vernommen, aber wieder auf freiem Fuß und noch nicht angeklagt worden war, bedeutete diese Entwicklung womöglich eine gefährliche Wende. Wenn gegen Bell wegen »Beihilfe zum Mord und Begünstigung der Tat« an Jean McConville verhandelt würde, müsste er auch aussagen, wer den Mord in Auftrag gegeben und wer ihn ausgeführt hatte. Ein loyaler Sinn-Féin-Funktionär wie Bobby Storey würde zum Schutz des Chefs vielleicht in den Knast gehen, aber Bell war alles andere als loyal gegenüber Adams.
In den frühen Jahren der Troubles waren die beiden Verbündete. Sie arbeiteten engstens in der Belfast Brigade zusammen und saßen auch zusammen in Long Kesh.9 Bell hatte 1972 darauf bestanden, dass Friedensgespräche nur stattfinden könnten, wenn Adams aus dem Gefängnis käme, und Bell war auch mit ihm nach London gefahren. Bell war ein überzeugter Verfechter körperlicher Gewalt, er war IRA-»Botschafter« in Libyen gewesen und hatte aus dem Pariastaat Unmengen von schweren Waffen beschafft.10 Mitte der 1980er-Jahre war er zum IRA-Stabschef aufgestiegen. Aber als Sinn Féin während Bobby Sands’ Hungerstreik auf Parlamentsarbeit zu setzen begann und weitere Kandidaten aufstellte, wuchs Bells Sorge, dass die Wahlkampagne Aufmerksamkeit und Ressourcen vom bewaffneten Kampf abziehen würde.11 Zu viel Wahlurne, zu wenig ArmaLite. Irgendwann wurden die Zweifel bei Bell und ein paar Verbündeten so stark, dass sie Gerry Adams’ Entmachtung planten. Aber er bekam Wind davon und handelte rasch, er stellte Bell wegen Hochverrats vors Kriegsgericht — was das Todesurteil nach sich ziehen konnte. Bell wurde für schuldig befunden, aber als es um die Strafe ging, schritt Adams ein — vielleicht aus Loyalität gegenüber seinem alten Freund, vielleicht aus Image-Erwägungen — und ließ ihn am Leben. Bell zog sich aus der Bewegung zurück und führte ein ruhiges Leben in Belfast, immer unter dem Damoklesschwert eines möglichen Todesurteils.12 Mit Journalisten hatte er seitdem nie über seine IRA-Erfahrungen gesprochen. Er half auch Bobby Storey nicht, als der in den 1990er-Jahren bei ehemaligen Provos herumfragte, was sie über den Fall Jean McConville wussten. »Frag Gerry«, sagte er.13 Mit demselben Satz wie Dolours Price. »Er ist derjenige, welcher.«
Es war tatsächlich nur ein Mal bereit gewesen, etwas über seine IRA-Karriere zu Protokoll zu geben: für die Oral History des Belfast-Projekts, im Interview mit Anthony »Mackers« McIntyre. Beim Prozess trug der Staatsanwalt vor, ein Teilnehmer des Projekts, der auf den Bändern des Boston College nur als »Z« registriert war, habe eine Mitwirkung beim Mord an McConville zugegeben.14 (Der ursprüngliche Vorwurf der »Beihilfe und Begünstigung« wurde später in »Anstiftung zum Mord« umgewandelt.)15
Aber Bells Verteidiger, der prominente Belfaster Anwalt Peter Corrigan, konterte, die Boston Tapes seien »ein gänzlich unzulässiges Beweismittel«.16 Das Oral-History-Archiv sei zwar »ein intellektuelles, akademisches Projekt, aber gespickt mit Ungenauigkeiten«, argumentierte Corrigan, es sei »subjektiv und nicht glaubwürdig« und entspreche folglich nicht den strengen Vorgaben für die Beweisführung in einem Strafverfahren.17 Überdies sei sein Mandant 1972 zu der Zeit, als McConville entführt wurde, gar nicht in Belfast gewesen, er könne ein Alibi dafür präsentieren.18
Aber das waren Nebenaspekte für Bells Verteidigung, das kühne Hauptargument lautete: Er sei nicht Z. Mackers hatte auf den Bändern wie auf den Transkripten nie die Namen der Interviewten, sondern nur Buchstabencodes beigefügt. Ihre Klarnamen standen nur auf Extraformularen, ohne die sich die Codenamen nicht übersetzen ließen. Diese Dokumente waren wegen ihrer Sensibilität auch nie elektronisch versendet, sondern dem Bibliotheksdirektor Bob O’Neill persönlich übergeben worden. Aber das Boston College hatte in der Zwischenzeit, wie jetzt ans Licht kam, ein paar der Formulare verloren — unter anderem das von Z. Die Anklage habe also nichts, womit sie beweisen könnte, dass der interviewte Z tatsächlich Ivor Bell war. Ed Moloney und Anthony McIntyre wussten das natürlich genau, teilten jedoch mit, sie hätten nicht die geringste Absicht, mit dem Gericht zu kooperieren.19 Der Prozess »steht und fällt mit einer Frage«, erklärte Corrigan, »ist die Person auf dem Band Ivor Bell?20 Und dafür gibt es keinen Beweis.«
Vermutlich kalt erwischt von diesem gewagten Schachzug, kündigten die Staatsanwälte an, einen Stimmenanalytiker zu laden.21 Solche Experten für »forensische Phonetik« werden öfter als Zeugen geholt, sie untersuchen nicht nur Tonhöhen und Frequenzen von Stimmen, sondern auch Wortschatz, Satzbau und charakteristische Füllsel wie »ähm« oder »ahh«.22 Bells Behauptung, er sei nicht Z, hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Gerry Adams’ Behauptung, er sei nicht in der IRA: Es war in beiden Fällen eine Täuschung, die zur Farce geriet. Die meisten Interviewten hatten stundenlang mit Mackers gesprochen, und Mackers mit seiner kollegialen Beflissenheit hatte sie oft aus Versehen beim Vornamen genannt. Es musste auf den Bändern also eigentlich Stellen geben, an denen Mackers zu Z Ivor sagt. Abgesehen davon, auch andere Aussagen in Bells Interview machten seine Behauptung, er sei nicht Z, zunichte: Wie viele IRA-Männer waren gemeinsam mit Adams 1972 zu den Londoner Friedensgesprächen gefahren, Botschafter in Libyen gewesen, Stabschef geworden und wegen Hochverrat vor dem IRA-Kriegsgericht gelandet?23
Laut Gutachten des Stimmenanalytikers war Z »wahrscheinlich« Ivor Bell. Aber Corrigan hielt dagegen, dass sein Mandant nicht schuldig im Sinn der Anklage sei, selbst wenn die Staatsanwaltschaft beweisen könnte, dass er Z war. Er empfahl, das Band genau anzuhören, denn »da sagt Z explizit, dass er nicht am Mord an Jean McConville beteiligt war.«24 Ein Detective des PSNI, der das Interview abgehört hatte, widersprach: Z gebe sehr wohl seine wichtige Rolle bei »Beihilfe, Anstiftung, Beratung und Durchführung in Bezug auf den Mord« zu.25
Wenn sich die Anklage nur noch auf Anstiftung konzentrieren sollte, blieb die Frage: Wen hatte Bell angestiftet? Brendan Hughes und Dolours Price beharrten standhaft darauf, dass Adams den Mord befohlen hatte. Aber Adams schien inzwischen sicher vor Strafverfolgung zu sein. Nach der PSNI-Vernehmung 2014 war seine Akte an die Staatsanwaltschaft gegangen. Deren Leiter Barra McGrory hatte sich aus dem Fall zurückziehen müssen, weil sein Vater, ebenfalls Anwalt, Adams einst vertreten hatte.26 Solche potenziellen Interessenkonflikte gab es überall in Nordirland. Den Haftbefehl gegen Adams hatte ein PSNI-Beamter namens Drew Harris unterschrieben.27 Dessen Vater wiederum war von der IRA ermordet worden. Die Staatsanwaltschaft hatte die Bostoner Bänder damals zwar abgehört, war aber zu dem Schluss gekommen, dass die Indizien gegen Adams allenfalls unbestätigte Behauptungen und damit keine Erfolg versprechende Grundlage für eine Anklage seien.28 Falls Adams Jean McConvilles Hinrichtung tatsächlich angeordnet hatte, war er durch die Feststellung der Staatsanwaltschaft offiziell mit einem Mord davongekommen. Anscheinend durfte eine Oral History, in der man sich selbst beschuldigte, zur Strafverfolgung herangezogen werden, eine, in der man andere beschuldigte, dagegen nicht. Ivor Bell hätte sich lieber an das Credo halten sollen, das Adams schon als Jugendlicher befolgt hatte: Nie irgendwas sagen. Es hätte ihn vielleicht gerettet.
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Wer sollte für die gemeinsame Gewaltgeschichte zur Rechenschaft gezogen werden? Die Frage trieb ganz Nordirland um. »Mein Mandant hat einen Anspruch auf rechtliche Gleichbehandlung«, erklärte Bells Anwalt Peter Corrigan. Kämen die britischen Soldaten, die am Bloody Sunday auf unbewaffnete Zivilisten geschossen hatten, etwa auch vor Gericht?29 »Warum werden nicht alle gleichbehandelt, wenn es um Delikte bei Auseinandersetzungen geht?« Aber es gab nun einmal keinen allgemein geregelten juristischen Umgang mit der Vergangenheit, deshalb mussten jahrzehntealte Gräueltaten jeweils als Einzelfälle bearbeitet werden, was niemanden zufriedenstellte. Was es gab, waren Untersuchungen und Ermittlungen durch die Ombudsstelle der Polizei und regierungseigene Nachforschungen. Die Strafjustiz hatte mit der Vergangenheit alle Hände voll zu tun. Die Belfaster Zeitungen berichteten tagtäglich über einen neuen Cold Case, der wiederaufgerollt werden sollte. Der PSNI hatte extra eine »Altlasten«-Abteilung eingerichtet, die ausschließlich zu Verbrechen im Zusammenhang mit den Troubles ermittelte.30 Dort stauten sich fast tausend Fälle.
Selbst wenn man davon ausging, dass die Polizei mit gutem Willen und guten Absichten handelte — was viele Leute nicht taten —, ein solches Mammutprojekt konnte man nicht durchziehen, ohne Befangenheit vorgeworfen zu bekommen. Die Ressourcen der Behörden waren begrenzt. Etats wurden gekürzt. Und die Polizei hatte auch im gegenwärtigen Nordirland für Recht und Ordnung zu sorgen. Den Detectives des Altlastenteams kam es manchmal vor, als lebten sie in einerTwilight Zone-Folge: Draußen im Leben ist 2018, aber drinnen im Dienst ist gerade 1973 oder 1989 oder irgendein anderes blutiges Datum aus fernen Zeiten. Mark Hamilton, der Teamleiter, war Katholik und Sohn eines der wenigen katholischen Polizisten der alten RUC. Als er 1994 den Dienst antrat, war der Friedensprozess schon im Gange. Er bezeichnete sich gern als »Waffenruhe-Cop«. Er wolle eigentlich nur ein normaler Polizist sein. Er wolle nicht seine Laufbahn mit dem Wiederaufrollen der Troubles verbringen.
Hamilton trat manchmal bei Veranstaltungen zu irgendeinem lange zurückliegenden Blutbad auf und übernahm als Vertreter der Polizei pflichtschuldigst die Rolle des Prügelknaben. Immer beschwerten sich trauernde Familien, dass sie seit Jahrzehnten litten und nie Antworten bekamen. Sie trauten dem Staat nicht, zu Recht, ihrer Meinung nach. Manchmal brüllten sie Hamilton an und beschimpften ihn. Meistens nahm er es hin. Auch das gehörte zu seinem Job, und er empfand tiefes Mitgefühl für die Opfer, deren ganzes Leben durch die Gewalt auf den Kopf gestellt worden war. Hin und wieder protestierte er auch: »Als dieses Verbrechen passiert ist, war ich ein Baby. Ich hatte noch Windeln um«, sagte er. »Ich bin nicht der Feind hier.«31
Manche historischen Nachforschungen waren so umfangreich oder sensibel, dass sie aus der Abteilung ausgelagert wurden. 2016 begannen neue Ermittlungen zum Fall Stakeknife. Unter der Leitung von Jon Boutcher, dem Chief Constable von Bedfordshire, England, sollten fünfzig Detectives bis zu fünf Jahre daran arbeiten, der Etat durfte mehr als dreißig Millionen Pfund betragen. Boutcher war klar: »Nach so langer Zeit und wegen der Art dieser Verbrechen ist die Wahrheit keine leichte Beute, sondern schwer zu packen.«32
Die Vermutung, dass sich weder Freddie Scappaticci noch seine britischen Agentenführer für Dutzende, offenbar abgesprochene Morde je würden verantworten müssen, war nicht unbegründet. Scappaticci war immer noch untergetaucht, angeblich lebte er unter neuem Namen im Zeugenschutzprogramm ebenjenes Staates, der jetzt gegen ihn zu ermitteln behauptete.33 Aber im Januar 2018 wurde er von der britischen Polizei aufgegriffen. »Ein 72-Jähriger wurde festgenommen«, teilte Boutcher in ausgewogenen Worten mit. »Er befindet sich gegenwärtig in Gewahrsam an einem ungenannten Ort.«34 Scappaticci wurde mehrere Tage lang vernommen und ohne Anklage entlassen.35 Es war kaum wahrscheinlich, dass britische Behörden dem Stakeknife-Komplott wirklich auf den Grund gehen würden, denn das hätte auch den ganzen Staat zutiefst belastet.
Obendrein wäre ein Prozess gegen Scappaticci hochriskant, denn er wusste bekanntlich, in welchem Ausmaß die Regierung Ihrer Majestät die Gemetzel der Nutting Squad geduldet oder sogar gefördert hatte. Es wäre also außerordentlich gefährlich, Stakeknife in eine Lage zu bringen, in der er sich zum Reden gezwungen sehen könnte. Auch bei seinen ehemaligen IRA-Genossen genoss er vermutlich Immunität. Er wusste zu viel über zu viele Leute. Womöglich hatte er ein Geheimdepot mit Beweisen, Dossiers in irgendeinem Safe, die ans Licht kämen, falls ihm etwas zustoßen sollte.36 Als sein Vater im Frühjahr 2017 starb, wurde in Belfast gemunkelt, dass Freddie heimlich wieder da sei und an der Beerdigung teilnehmen werde.37 An der Spitze der Trauerprozession fuhr der Eiswagen der Familie.38 Es wäre für jeden, der Groll gegen ihn hegte, die Gelegenheit gewesen, den absoluten IRA-Topspitzel zur Rede zu stellen. Aber niemand tat es, falls er wirklich da war.
Wenn Scappaticci aber nicht strafrechtlich verfolgt würde, könnte man ihn vielleicht zivilrechtlich verklagen. In dem Verantwortungsvakuum, das in der Strafjustiz herrschte, warben Rechtsanwälte um mögliche Mandanten für Zivilklagen.39 Zahlreiche Opferfamilien verklagten Scappaticci.40 Die sogenannten Kapuzenmänner, die während der Internierung gefoltert worden waren, gingen ebenfalls juristisch gegen ihre damaligen Häscher vor. 2015 wurde Brigadegeneral Frank Kitson, der Guru der Aufstandsbekämpfung, verklagt. Er war jetzt ein alter Mann und längst im Ruhestand. 2002 hatte er bei einer Untersuchung zu den Ereignissen vom Bloody Sunday noch einmal einen kurzen öffentlichen Auftritt gehabt und die Fallschirmjäger, die dreizehn unbewaffnete Zivilisten erschossen hatten, in seiner Aussage als »famose Truppe« gepriesen, »in null Komma nichts Gewehr bei Fuß«.41 Ansonsten führte er ein ruhiges Leben. In letzter Zeit ging er seiner Frau zur Hand.42 Lady Elizabeth Kitson schrieb ein erbauliches Buch über ein Zirkuspony, das sie in ihrer Jugend besessen hatte.
Kitson wurde von einer Frau namens Mary Heenan verklagt.43 Ihr Mann war 1973 von Loyalisten ermordet worden. »Das hat niemanden interessiert«, sagte sie. »Wir wurden alleingelassen. Wir erfuhren nichts.« Heenans verklagte Kitson, weil er als Architekt der britischen Antiaufstandsstrategie in den frühen Troubles-Jahren »billigend in Kauf genommen habe, dass Staatsdiener an Morden beteiligt waren«.44 Die Frage, ob sie es angemessen finde, einen alten Mann vor Gericht zu zerren, beantwortete die zweiundachtzigjährige Klägerin mit dem Hinweis, dass Kitson »ein Jahr jünger als ich« war.45
Der kleine Brigadegeneral bestritt alle Beschuldigungen und führte an, er sei 1973 schon nicht mehr in Irland gewesen. Er sei auch nur ein einfacher Truppenkommandeur gewesen, niemand, der amtliche Regeln aufstelle oder für die Verschärfung der britischen Strategie während der Troubles verantwortlich zu machen sei.46 Und matt fügte er hinzu: »Wir haben niemals den Einsatz paramilitärischer Gangs veranlasst.«47
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Wenn Polizei und Staatsanwaltschaft gegen ehemalige britische Soldaten ermittelten, hieß es sofort, das sei eine »Hexenjagd« gegen junge Männer, die doch nur ihre Arbeit in einem schwierigen Umfeld getan hätten.48 Auf den Vorwurf der Befangenheit entgegnete der leitende Staatsanwalt Barra McGrory, man sei bei den Ermittlungen keineswegs »unausgewogen vorgegangen« und untersuche bei Weitem mehr Gräueltaten von Terroristen als von Staatsdienern.49 Aber war das nicht selbst eine Art Befangenheit? Kann man Ermittlungen zu republikanischen und zu loyalistischen Morden angemessen gegeneinander aufrechnen? Würde ein anderes Verhältnis als eins zu eins ausreichen? Nordirland diskutierte über die Gefahr einer »Hierarchisierung der Opfer«.50 Und nicht die Art einer Gräueltat, sondern die Zuordnung von Opfern und von Tätern bestimmt das Maß der Empörung. Soll man gegenüber Staatsdienern mehr Milde walten lassen, weil der Staat von Rechts wegen das Monopol auf Gewaltanwendung hat? Oder soll man umgekehrt an Soldaten und Polizisten höhere moralische Maßstäbe anlegen als an Paramilitärs?
Das »ideale Opfer« während der Troubles war einem Soziologen zufolge der passive, nicht selbst kämpfende Zivilist.51 Viele sahen Jean McConville als das perfekte Opfer: als verwitwete Mutter von zehn Kindern. Andere sahen sie überhaupt nicht als Opfer, sondern als Auftragskämpferin, die ihr Schicksal selbst herausgefordert hatte. Aber selbst wenn man versuchsweise davon ausgeht, dass sie Informantin war — es gibt kein moralisches Universum, in dem der Mord an ihr und ihr Verschwinden zu rechtfertigen wären. Kann sich die Wahrnehmung einer Tragödie wirklich immer nur nach der eigenen Position richten? Der Anthropologe Claude Levi-Strauss hat einmal festgestellt: »Für die menschliche Spezies in ihrer Mehrheit und seit Zehntausenden von Jahren existiert die Vorstellung überhaupt nicht, dass die Menschheit jeden Menschen auf dem Erdball einschließt. Die Zugehörigkeit endet an der Grenze des jeweiligen Stammes oder Sprachumfelds, manchmal sogar am Rand eines Dorfs.«52 Im Fall der Troubles setzte sich ein Automatismus fest, der als »Whataboutismus« bekannt wurde. Jemand nennt den Namen Jean McConville, und jemand anders fragt sofort: Und was ist mit Bloody Sunday? Worauf man fragen könnte: Was ist denn mit Bloody Sunday? Worauf wiederum käme: Und was ist mit Pat Finucane? Was ist mit der La-Mon-Bombe? Was ist mit dem Ballymurphy-Massaker? Was ist mit Enniskillen? Was ist mit McGurks Bar? Was ist hiermit? Was ist damit?
Als bekannt wurde, dass der PSNI alle Bostoner Bänder im Zusammenhang mit der Tötung von Jean McConville haben wollte, kam wieder der Vorwurf der Befangenheit. Die neue Polizei, fanden manche, das seien bloß die verbitterten Reste der alten RUC, Rechtsverdreher beim letzten Versuch, ihre Nemesis zu schnappen, Gerry Adams. Wenn sich der PSNI so für historische Verbrechen interessierte, wieso holte er sich nicht die Bänder der Interviews mit Loyalisten? Auch die hatten während der Troubles reichlich gemordet. Und das Boston College gab ein Statement heraus: Die Polizei habe, indem sie die »Bänder von UVF-Mitgliedern ignorierte«, selbst den Vorwurf bestärkt, dass die Herausgabeverfügung politisch motiviert war.53 Die britische Regierung reagierte auf die Kritik nicht etwa durch die Rücknahme des Herausgabeantrags für die Interviews der Republikaner, sondern mit einem Antrag zur Herausgabe eines Interviews mit einem Loyalisten. Gewissermaßen auf Einladung des Boston College.
Die Polizei bekam einen weiteren Gerichtsbeschluss, diesmal für die Aufnahmen von Winston Churchill Rea, ehemals Paramilitär und Mitglied in einer Gruppe namens Red Hand Commando.54 Rea, irreführend harmlos »Winkie« genannt und nicht verwandt mit Stephen Rea (und schon gar nicht mit Winston Churchill), verklagte das Boston College, um die Herausgabe der Bänder zu verhindern. Aber er war ebenso erfolglos wie Moloney und Mackers, auch seine Bänder wurden der Polizei übergeben. Rea stand am Ende selbst vor Gericht, unter anderem wegen eines Mordkomplotts gegen zwei Katholiken 1991. Beim Prozess saß er im Rollstuhl, ein zusammengesackter Mann mit weißen Stoppelhaaren und trüben Augen.55 Ed Moloney verurteilte das Verfahren in einem Statement als »zynischen Versuch des PSNI, zu beweisen, dass man bei den Boston-College-Bändern ausgewogen« vorgehe. Winkie Rea sei »deren Alibi-Protestant«.56
Auch Anthony »Mackers« McIntyre sah die Anklage gegen Rea äußerst kritisch. Wie solle eigentlich je die Wahrheit über all das herauskommen, was während der Troubles wirklich passiert war, wenn der Staat einfach jeden mit Mordanklagen überzog, der darüber zu reden wagte? »Ich würde die Haltung des PSNI so beschreiben: Man will die Wahrheit nicht beschaffen, sondern abschaffen«, sagte er in einem Interview.57
Der PSNI kannte die Kritik. Bei der Behörde hörte man genau hin, wenn Mackers etwas öffentlich äußerte. Er war redselig, er sprach gern mit Journalisten, und sie sprachen gern mit ihm. Er hing an der Idee, dass man den Mächtigen die Wahrheit sagen muss, und war nicht der Typ, der hinter dem Berg hielt, wenn es um staatliche Niedertracht ging. Der PSNI hatte besonders gut zugehört, als Mackers bei einem Fernsehinterview 2014 etwas herausgerutscht war. Es ging darum, wie sensibel und vertraulich das Bostoner Archiv war, und er hatte gesagt: »Ich werde hier nicht ins Detail gehen, aber ich bin exakt dasselbe Risiko eingegangen wie alle anderen.«58
Mackers hatte nicht nur Aussagen von Republikanern gesammelt. Er hatte auch seine eigene Oral History aufgezeichnet. Ein Detective des PSNI zitierte das in einem Brief an die Generalstaatsanwaltschaft mit der Bemerkung, Mackers habe »nicht nur über seine eigenen terroristischen Aktivitäten geredet … sondern sich auch dagegen ausgesprochen, dass der PSNI Interviewinhalte bekommt.59 Er geht offenbar unausgesprochen davon aus, dass die Herausgabe der Interviews an die Ermittler strafrechtliche Verfolgung nach sich ziehen könnte.«
Im April 2016 saß Mackers zu Hause in Drogheda, sah sein Postfach durch und fand eine E-Mail von einem Anwalt in Boston: »Hiermit setze ich Sie in Kenntnis über die erfolgte Zustellung des beigefügten Gerichtsbeschlusses bezüglich Ihres Belfast-Projekt-Interviews an das Boston College.«60 Die Ermittlungsbehörden vermuteten, dass Mackers in verschiedene Straftaten verwickelt war, von der Mitgliedschaft in einer paramilitärischen Organisation über den Besitz einer nachgebildeten Waffe während der Haft 1978 bis zur Beteiligung an einer Operation in Belfast, bei der eine Rohrbombe explodiert war.61 Mackers erschrak: Seine Oral History war eine Chronik seiner Jahre in einer verbotenen Organisation. Was er, ebenso wie die anderen ehemaligen Paramilitärs, erzählt hatte, war prallvoll mit illegalen Taten. Wenn die Beamten ihn drankriegen wollten, was er annahm, und es für diese Art Taten keine Verjährungsfrist gab, dann konnte sich die Justiz fröhlich an seiner Oral History bedienen und ihn bis in alle Ewigkeit mit erlogenen Anklagen überziehen.62
Das beste Indiz für die staatliche Böswilligkeit war aus Mackers’ Sicht die schlampige Ermittlungsarbeit. Hätten die Polizisten ihre eigenen Akten wirklich gelesen, wüssten sie, dass Mackers nicht an dem Rohrbombenanschlag beteiligt gewesen sein konnte — er hatte zu dem Zeitpunkt in Polizeigewahrsam gesessen.63 Wahrscheinlich käme es nie zu einem förmlichen Verfahren gegen ihn, aber ein großer Trost war das nicht. Seine Frau und er waren seit einiger Zeit arbeitslos. Sie hatten Kinder zu versorgen und waren seit jetzt fast zehn Jahren praktisch rund um die Uhr mit den Nachwehen des Belfast-Projekts beschäftigt. Sie fürchteten noch immer Vergeltung durch die IRA und mussten sich obendrein mit dem Staat herumschlagen. Und dessen Motiv war nach Mackers’ Überzeugung die pure Rachlust — Rache für seine öffentliche Kritik am PSNI, aber auch dafür, dass er sich geweigert hatte, bei der Identifizierung von Z zu kooperieren. Inzwischen wünschte er sich fast täglich, er hätte die Finger von der Vergangenheit gelassen und das Belfast-Projekt gar nicht erst aufgezogen.
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Unterdessen gingen auf dem Land die Grabungen weiter. 2010 wurde die Leiche von Peter Wilson entdeckt, einem von der IRA ermordeten jungen Mann mit Lernschwierigkeiten.64 Seine sterblichen Überreste wurden an einem malerischen Strand im County Antrim exhumiert. Genau an diesem Strand war seine Familie unwissentlich in den Jahrzehnten nach seinem Verschwinden immer wieder gewesen.
Für die Independent Commission for the Location of Victims’ Remains war der Skandal um die Bostoner Bänder frustrierend.65 Die Mitglieder fühlten sich verpflichtet, der Öffentlichkeit zu versichern, dass sich trotz des Boston-College-Fiaskos jeder, der irgendetwas über den Aufenthaltsort von Verschwundenen wisse, »in absoluter Vertraulichkeit« an die Kommission wenden könne.66 Im Herbst 2014 bekamen sie einen Hinweis, dass sich Joe Lynskeys sterbliche Überreste in einer bestimmten Gegend im County Meath befinden könnten. Ein Team unter der Leitung von Geoff Knupfer, dem pensionierten Detective aus Manchester, ging an die Arbeit. Sie hatten einen Leichenspürhund und einen forensischen Anthropologen dabei und durchsuchten den Boden mit einem Georadar nach Auffälligkeiten.67 Im Dezember 2014 sagte Lynskeys Nichte Maria vorsichtig optimistisch: »Wir hoffen und beten, dass Joes Überreste gefunden werden und wir ihn anständig beerdigen können.«68 Die Grabungen gingen noch Monate weiter, aber gefunden wurde er nicht.
Im darauffolgenden Sommer rief plötzlich jemand eines Mittags: »Hier ist was!«69 Die Ermittler ließen den Bagger stehen, krochen selbst im Dreck herum und trugen vorsichtig mit Spachteln Erde ab. Nach und nach legten sie mehrere Knochen frei. Der ruhige, methodische Knupfer war aufgeregt vor Freude, obwohl solche Entdeckungsmomente unvermeidlich auch etwas Bittersüßes hatten. Jemand benachrichtigte Maria Lynskey, und sie kam zur Fundstelle.70
Gegen halb neun Uhr abends ertönte plötzlich ein Schrei von der Grabungsstelle. Das Team arbeitete noch und hatte etwas unter den Knochen entdeckt, nämlich einen zweiten Satz menschlicher Überreste.71 Sofort war allen klar: Hier lagen zwei Leichen übereinander vergraben. Sie hatten die ganze Zeit nach Joe Lynskey gesucht, aber gefunden hatten sie die beiden jungen Doppelagenten, die Dolours Price zur Hinrichtung gefahren hatte, Seamus Wright und Kevin McKee.72 Maria Lynskey war am Boden zerstört, auch wenn sie sich für die Familien der beiden freute. Bei der Totenmesse für Seamus Wright bat dessen Schwester Breige eindringlich um Informationen zu Lynskey und den anderen noch nicht entdeckten Opfern.
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2016 hatte Cyprus Avenue Premiere am Dubliner Abbey Theatre, ein provokatives neues Stück des East Belfaster Dramatikers David Ireland. Die schlüpfrige schwarze Komödie handelt von einem Belfaster Loyalisten namens Eric Miller. Seine Tochter hat vor Kurzem ein Mädchen zur Welt gebracht, aber Eric plagt eine wahnwitzige Einbildung: Das Baby sieht aus wie Gerry Adams. Das wird zunächst als Witz inszeniert. Eric fragt seine Tochter, ob der Sinn-Féin-Präsident etwa der Kindsvater ist. Irgendwann ist er mit dem Baby allein, nimmt einen dicken Filzstift und malt ihm einen schwarzen Bart auf die Wangen. »Der Gerry-Adams-Bart ist integraler Bestandteil der Gerry-Adams-Figur«, erklärt er. »Er symbolisiert seine revolutionäre Glut, seine Leidenschaft für einen konstitutionellen Wandel. Jetzt wird der Bart immer weißer und zementiert seinen Status als éminence grise, als alternder Philosophenkönig.«73
Stephen Rea spielt Eric. Er hatte seit dem Tod seiner Ex-Frau ständig gearbeitet, im Film und auf der Bühne, und sich bisher nie eingehender zu Dolours Price’ Leben und Vermächtnis geäußert. Jetzt spielte er einen Mann, der von Gerry Adams besessen ist und daran zugrunde geht. Erics Wahnvorstellungen werden heftiger, Adams verkörpert alles, was seine Identität als Belfaster Protestant und Loyalist bedroht. Irgendwann hält er das Baby selbst für Gerry Adams. Er trifft sich im Stadtpark mit einem loyalistischen Schützen namens Slim und vertraut ihm an: »Ich glaube, Gerry Adams hat sich als Neugeborenes getarnt und geschafft, bei mir und meiner Familie zu Hause einzudringen.«74
Slim antwortet, ohne mit der Wimper zu zucken: »Sieht ihm absolut ähnlich!«
Es ist urkomisches, absurdes Theater, aber es endet in grauenvoller Gewalt. Das Stück ist eine Studie über geistesgestörte Borniertheit, ein Porträt von Nordirland als von fieberhafter Pathologie zerfressenes Land, eine Erkundung der Unfähigkeit, abzuschütteln, was früher war.
»Das ist Vergangenheit«, sagt Eric einmal zu Slim.
»Nein, das ist das Jetzt«, verbessert ihn Slim.75
»Nein«, sagt Eric, »es ist Vergangenheit.«
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Im Sommer 2017 starb Billy, einer der beiden Jüngsten, an Krebs, und die McConville-Kinder kamen noch einmal zusammen. Billy hatte vor seinem Tod noch bei einer Untersuchung zum Kindesmissbrauch in nordirischen Anstalten ausgesagt, gemeinsam mit einigen Geschwistern. »Ich war nach einer Weile wie — wie nennt man das? — wie ein Roboter, wissen Sie, was ich meine? Ich war programmiert, ein Heimkind«, hatte er geschildert.76 Als der Krebs aussichtlos wurde, hatte er einen letzten Wunsch geäußert: Bei der Trauerfeier solle ihn seine Familie mit den Füßen voran in die Kirche tragen, eine letzte widerspenstige Geste.77
»Du warst so stark und unglaublich tapfer, tapferer als alle, die ich kenne«, sagte seine Tochter bei der Trauerfeier.78 Als sie Jean geholt hatten, war er erst sechs gewesen. Als er starb, war er fünfzig. »Die ganze Welt kennt den Namen dieser einfachen Belfaster Mutter, die ihre Kinder geliebt hat und die im Dezember 1972 grausam entführt, ermordet und heimlich vergraben wurde«, sagte ein Pfarrer. Ihr Verschwinden sei »ein frevelhafter Akt und unverzeihlich«, er habe »Billy und seine Brüder und Schwestern lebenslänglich in einen Albtraum gerissen«.79
Ob ihre Kinder noch jemals erleben würden, dass jemand dafür zur Rechenschaft gezogen wurde, blieb unklar. Bei Ivor Bells Prozess saßen die Geschwister schweigend auf der Zuschauergalerie und hörten zu, eine Art moralische Zeugen. Im Dezember 2016 trug Bells Anwalt bei einer Verhandlung vor, dass ein rechtmäßiges Verfahren nicht mehr möglich sei — sein Mandant leide an vaskulärer Demenz und könne »dem Prozessgeschehen nicht ordnungsgemäß folgen«.80 Die Staatsanwaltschaft kündigte an, Einsicht in Bells Krankenakte zu beantragen und ihn von einem Spezialisten untersuchen zu lassen.81 Aber es wurde immer unwahrscheinlicher, dass wegen dieses Mordes jemals irgendjemand vor Gericht stehen würde.
Als die Staatsanwaltschaft mitgeteilt hatte, gegen Gerry Adams keine Anklage zu erheben, wandte sich Helen McConville an eine Londoner Kanzlei. Die hatte bei einem Prozess gegen vier Real-IRA-Mitglieder wegen einer Autobombe in Omagh 1998 einen bahnbrechenden Vergleich in Millionenhöhe erreicht. Die Kanzlei gab bekannt, dass Helen ihr das Mandat erteilt hatte, die Möglichkeiten für eine Zivilklage gegen Adams zu prüfen.82 »Die Familie McConville bleibt bis zum bitteren Ende dran«, sagte Michael. »Wir kämpfen seit über vierzig Jahren für Gerechtigkeit, wir werden nicht jetzt damit aufhören.«83