Laut Zensus sind etwa dreiunddreißig Millionen US-Amerikaner irischer Herkunft. Das sind etwa zehn Prozent. Ich bin einer davon. Meine Vorfahren väterlicherseits sind im neunzehnten Jahrhundert aus Cork und Donegal ausgewandert. Eigentlich bin ich eher australisch als irisch — meine Mutter kommt aus Melbourne —, aber ich bin in Boston aufgewachsen, und da empfinden auch Amerikaner, die nie einen Fuß ins alte Land gesetzt haben, eine starke Heimatverbundenheit. Bei meinem unverkennbar irischen Namen müsste ich die eigentlich auch haben.

Aber das war zumindest in jungen Jahren nicht der Fall. Wenn die Unionisten in Ulster »britischer als die Briten« waren, dann wirkten manche irischen Amerikaner in Boston irischer als die Iren. Ich dagegen konnte meistens nichts anfangen mit dem Kleeblatt in der Guinness-Blume und der sentimentalen Stammesverbundenheit. Als ich in den 1980er-Jahren aufwuchs, gab es in Boston breite Sympathien für die IRA, selbst nach einigen ihrer verheerendsten Terroranschläge. Ich weiß noch, dass mein Vater mir von einem Irish Pub ein paar Häuser von uns entfernt erzählte, da gehe ein Mann mit einem Bierglas voller Münzen herum und nötige die Stammgäste zum Spenden »für die Jungs«. Über der Theke hing ein schwarzer Kranz zum Gedenken an die toten IRA-Leute. Trotzdem hat mich der Konflikt in Nordirland nie besonders interessiert. Herkunft hin oder her, was ich darüber las, machte mich nicht betroffener als alle möglichen Kriegsgeschichten aus dem Ausland.

Ich habe auch weder als Journalist über die Troubles geschrieben, noch einen besonderen Drang dazu verspürt, bis Dolours Price im Januar 2013 starb und ich den Nachruf in der New York Times las. Er skizzierte ihr dramatisches Leben, auch der damals noch schwelende Kampf um das Geheimarchiv im Boston College wurde erwähnt. Kollektives Leugnen hatte mich als Journalist schon lange fasziniert, das heißt die Geschichten, die sich Gesellschaften erzählen, um mit tragischen oder grenzüberschreitenden Ereignissen fertigzuwerden. Mich packte die Frage, was an einem Archiv mit persönlichen Erinnerungen ehemaliger bewaffneter Kämpfer so brisant sein sollte: Was darin war so bedrohlich für die Gegenwart? Ich dachte, wenn ich die Lebensläufe von Jean McConville, Dolours Price, Brendan Hughes und Gerry Adams verknüpfe, kann ich vielleicht eine Geschichte erzählen: Darüber, wie einer Sache kompromisslos verschriebene Menschen sich radikalisieren und wie Individuen — und die gesamte Gesellschaft — etwas über politische Gewalt begreifen können, nachdem sie durchs Feuer gegangen sind und endlich Zeit zum Nachdenken haben.

Als ich das Buch nach vier Jahren Recherche fast fertig hatte, war manches hartnäckige Mysterium noch immer da, und ich hatte mich damit abgefunden, dass die ganze Wahrheit hinter dieser düsteren Saga wohl niemals ans Licht kommen würde, weil ein paar Menschen, die sie kannten, sie mit ins Grab nehmen würden. Aber gerade als ich das Manuskript abschließen wollte, entdeckte ich etwas, das mich aufschreckte.

Dolours Price hatte Ed Moloney bei ihrer Beichte über Jean McConvilles letzte Lebensmomente erzählt, dass sie sie gemeinsam mit zwei anderen Mitgliedern der Unbekannten an ein frisch ausgehobenes Grab geführt hatte. Einer der beiden war Wee Pat McClure, der Kopf der Unbekannten.

Ich hatte lange nicht herausfinden können, was aus McClure geworden war. Ich wusste nur, dass er in den 1980er-Jahren verschwunden war. Ich interviewte einen Mann, der McClure 1978 gesehen hatte, direkt nach der berüchtigten Bombe im Belfaster Restaurant La Mon, einem grauenhaften Anschlag mit einer napalmartigen Ladung, bei dem ein Dutzend Menschen getötet worden waren und dreißig weitere schlimmste Verbrennungen erlitten hatten.1 McClure war nach dem Anschlag verhaftet worden und hatte eine Woche in Polizeigewahrsam gesessen. Das Erlebnis hatte ihn ziemlich erschüttert, er war besorgt, weil die Special Branch offenbar sehr viel über die Provos wusste. »Ich bin raus«, hatte er jenem Mann danach erzählt. Andere, die McClure in Belfast gekannt hatten, erzählten mir, er habe das Land verlassen, sei nach Kanada gezogen und dort irgendwann in den 1980er-Jahren gestorben.

Nun gibt es eine Menge McClures in Kanada, ich wurde also erst mal nicht fündig bei meiner Spurensuche. Aber eines Tages erfuhr ich von einem Freund, dass ich Wee Pat McClures Familie dort nicht finden würde: Sie war gar nicht nach Kanada gezogen.2 McClure war vielmehr bald nach dem La-Mon-Anschlag mit Frau und Kindern in die Vereinigten Staaten gegangen. Sie hatten die ganze Zeit in Connecticut gelebt, nicht weit von mir in New York.

McClure starb 1986.3 Davor hatte er fünf Jahre lang als Schließer im Hochsicherheitsgefängnis für Männer in Cheshire gearbeitet.4 Ein anderer der Unbekannten, Hugh Feeney, der mit den Price-Schwestern die Bomben in London gelegt hatte und später in Hungerstreik getreten war, reagierte mit leisem Entsetzen, als ich ihm berichtete, dass der Mann, den er so verehrt hatte, am Ende selbst ein screw geworden war. Ich nahm Kontakt zu McClures Witwe Bridie und den Kindern auf, vielleicht würden sie ja mit mir reden. Laut Dolours Price hatte Pat immerhin mit an Jean McConvilles Grube gestanden, sie hatte auch erzählt, an welchen berüchtigten Ereignissen er noch beteiligt gewesen war. Aber die Familie wollte nicht reden, und ich kam ins Grübeln, ob ihnen vielleicht gar nicht klar war, dass der Ehemann und Vater, den sie gekannt hatten und liebten, auch Kriegsverbrechen begangen hatte. In einem Nachruf stand, dass er Gemeindemitglied der katholischen Kirche seines Wohnorts gewesen war. Ob er vor seinem Tod gebeichtet hatte?5

Ich war ein paar Jahre lang oft in die Bronx gefahren und hatte mich mit Ed Moloney getroffen. Irgendwann vertraute er mir das unveröffentlichte Transkript eines seiner zwei langen Interviews mit Dolours Price an: dreißig Seiten, einzeilig getippt. Er hatte vorher nur etwas, allerdings Bedeutendes geschwärzt — nämlich alle Details, durch die der dritte Henker von Jean McConville identifizierbar gewesen wäre. Der Grund war klar: Price und McClure waren tot, aber der dritte Mann lebte noch. Moloneys jahrzehntelange Arbeit an der Faktensicherung zu den Troubles hatte mittlerweile so vielen Leuten juristischen Ärger eingebracht, dass er vielleicht nicht noch neuen schaffen wollte.

Ich habe trotzdem einige wenige Details zu der mysteriösen Person herausgefunden. Anthony »Mackers« McIntyre hatte mir einmal in Drogheda beim Abendessen erzählt, dass Dolours ihm nie bei den Aufnahmen für das Boston College, wohl aber »ohne Tonband« etwas zu Jean McConvilles Schicksal gesagt hatte. Sie hatte ihm dasselbe über die dreiköpfige Todesschwadron und das anonyme Grab berichtet wie Moloney. Und beide, Mackers und Moloney, hatten mir gesagt, dass Pat McClure dabei gewesen war. Aber wer noch, wollten mir weder Mackers noch Moloney verraten. Mackers erzählte mir jedoch, dass ebendiese dritte Person den tödlichen Schuss auf Jean McConville abgefeuert hatte. Und er gab mir noch einen Hinweis: Gerry Adams habe dieselbe Person einmal gebeten, sein Leibchauffeur zu werden.6

Eine vielversprechende Offenbarung, so schien es. Es konnte nicht so schwer sein, die Leute ausfindig zu machen, die Adams über die Jahre chauffiert hatten. Nur erzählte mir Mackers auch, dass jene Person Adams’ Angebot abgelehnt und den Job nie angetreten hatte. Er hatte mir also erst einen Köder hingehängt und mich dann mehr oder weniger wieder auf Anfang gesetzt. Ich kam zu dem Schluss, dass ich wohl nie erfahren würde, wer den tödlichen Schuss abgegeben hatte. Es würde buchstäblich jemand Unbekanntes bleiben.

Ich verschlang Moloneys Transkript und ging es immer wieder durch, vertiefte mich in bestimmte Abschnitte, exzerpierte Details, die für die Ereignisse, über die ich schreiben wollte, relevant sein könnten. Kurz vor dem Abschluss des Manuskripts beschloss ich, es noch einmal von vorn bis hinten durchzulesen, für den unwahrscheinlichen Fall, ein wichtiges Detail übersehen zu haben. Nach zwölf Seiten stieß ich auf etwas, das mir irgendwie entwischt war, und schoss senkrecht im Stuhl hoch.

Moloney fragt Price nach Gerry Adams’ Positionen in den verschiedenen Brigaden und Bataillonen der IRA Anfang der 1970er-Jahre. Und sie sagt an einer Stelle: »Da könnte er schon bei der Brigade gewesen sein — er wollte nämlich, dass meine Schwester sein Chauffeur wird.«7

Sie sagt das beiläufig, und Moloney fragt auch nicht weiter nach.

»Der brauchte ja immer jemanden, der ihn fährt«, erzählt Price weiter. »Aber sie hat abgelehnt, der Job war ihr zu langweilig.«

*

Marian Price wollte nicht mit mir sprechen. Ihr Belfaster Anwalt blockte alle meine Versuche ab. Ich machte eine ihrer Töchter ausfindig, aber die bat mich höflich, jeden weiteren Kontakt zu unterlassen. Jean McConvilles Verschwinden war in der öffentlichen Wahrnehmung inzwischen so mit Dolours Price verknüpft, dass ich gar nicht auf die Idee gekommen war, auch ihre Schwester könnte eine Rolle bei dem Mord gespielt haben.

Natürlich bestand die winzige Möglichkeit, dass das alles nur ein unglaublicher Zufall war, dass das Mosaik, das ich aus den Details zusammengefügt hatte, nicht zu Marian Price führte. In all den Jahren hatten bestimmt noch andere Leute abgelehnt, Gerry Adams’ Fahrer zu werden. Zu allem Überfluss schrieb mir noch ein Sprecher von Adams, jede Unterstellung, Adams könnte dem Mörder von Jean McConville einen solchen Posten angeboten haben, sei »wie so viele andere Behauptungen zu diesem Fall reiner Schwindel«.8

Man darf allerdings eins nicht vergessen: Moloney hatte den fraglichen Namen in dem Transkript, das er mir gegeben hatte, zwar geschwärzt — aber der Police Service of Northern Ireland hatte die Originalabschrift vom Boston College erhalten, und die ist unredigiert. Wenn Dolours Price ihre Schwester mit dem Mord an Jean McConville belastet hat und die Polizei in Belfast das wusste — wäre Marian Price dann nicht angeklagt worden?

Nicht unbedingt. Dolours Price hatte auch Gerry Adams belastet, und Brendan Hughes’ Oral History hatte ihre Aussage bestätigt — trotzdem ist Adams nie angeklagt worden. Die Prozesse gegen Ivor Bell und Anthony McIntyre scheinen nahezulegen, dass Interviewaussagen gegen sich selbst vor Gericht verwertet werden können, Aussagen gegen andere dagegen nicht als zulässiger Beweis, sondern als bloßes Hörensagen zählen.

Je mehr ich darüber nachdachte, desto plausibler schien mir, dass Marian Price das dritte Mitglied der Unbekannten gewesen war und den Schuss abgegeben hatte, der Jean McConvilles Leben auslöschte. Schließlich hatten beide Schwestern zu den Unbekannten gehört. Und beide hatten Pat McClure unterstanden. Sie hatten, wie Dolours oft sagte, immer alles zusammen gemacht. Dass Dolours Jean McConville gegenüber Ed Moloney wüst beschimpft und hartnäckig darauf bestanden hatte, dass sie zu Recht getötet worden war, könnte auch ein Zeichen dafür sein, wie angestrengt sie nicht nur ihr eigenes Handeln, sondern auch die noch schwerere Tat ihrer Schwester mit einem plausiblen Moralkodex zu vereinbaren versuchte.

Im Frühjahr 2018 flog ich zum letzten Mal nach Belfast und fuhr nach Drogheda. Ich hatte Mackers und Carrie gesagt, ich müsse etwas Wichtiges mit ihnen besprechen, und wir trafen uns zum Abendessen in einem Restaurant am Ufer des Boyne. Draußen ging die Sonne unter, und ich erklärte, warum ich glaubte, dass Marian Price Jean McConville umgebracht hatte. Mackers starrte in seinen Whiskey. Ja, er hatte die Sache mit Gerry Adams’ Angebot erwähnt, sagte er, aber er würde nie und nimmer bestätigen, dass Marian geschossen hatte. Carrie erinnerte mich, dass Marian bei ihrer und Mackers’ Heirat ihre Trauzeugin gewesen war. Beide betonten, dass Marian gesundheitlich angeschlagen war und es schlimme Folgen für ihre erwachsenen Kinder hätte, wenn meine Vermutung öffentlich würde. Wir aßen zu Ende, unsere Wege trennten sich, aber niemand von beiden hatte gesagt, dass ich mich irrte.

Es gab noch eine Person, mit der ich reden wollte, weil sich Dolours ihr vor ihrem Tod anvertraut hatte. Ich erläuterte, was ich kombiniert hatte, und fragte, ob Dolours je erwähnt hatte, dass Marian beim McConville-Mord dabei gewesen war. Die Person bestätigte es — Dolours habe gesagt, die Hinrichtung von Jean McConville war »etwas, dass die Schwestern zusammen getan hatten«.9

Zuletzt schrieb ich an Marian Price’ Belfaster Anwalt, teilte ihm mit, was ich erfahren hatte und zu veröffentlichen plante, und fragte an, ob Marian es abstreiten würde. Ich habe nie eine Antwort bekommen.10

*

Ende 2017 kündigte Gerry Adams an, als Sinn-Féin-Präsident zurückzutreten und seiner langjährigen Stellvertreterin Mary Lou McDonald die Führung zu übergeben. McDonald war achtundvierzig und erst nach dem Karfreitagsabkommen beruflich durchgestartet, also unbefleckt von paramilitärischer Geschichte. Manche Beobachter spekulierten, dass Adams hinter den Kulissen weiter die Fäden ziehen würde, aber er versicherte, er habe kein Interesse an der Rolle des »Puppenspielers«, er plane wirklich den Ruhestand.11

Er war jetzt fast siebzig und strotzte immer noch vor Kraft, aber seine Bewegungen wurden allmählich behäbiger, und die Stimme, sein größtes Kapital, war nicht mehr ganz so respekteinflößend. Der berühmte Bart war inzwischen schneeweiß. Im letzten Frühjahr war Martin McGuinness, sein langjähriger Genosse in Kriegs- und Friedenszeiten, an einer seltenen Erbkrankheit gestorben. »Martin McGuinness war kein Terrorist«, tönte Adams unter Beifall in seiner Grabrede. »Martin McGuinness war ein Freiheitskämpfer.«12

Natürlich galt Adams selbst auch weiter als nicht ungefährlich, bei Anhängern wie bei Gegnern. Laut Umfragen glaubten nicht einmal Sinn-Féin-Wähler, dass er nie in der IRA gewesen war, wie er weiterhin behauptete. In Nordirland heißt es oft, er habe noch immer einen »Hauch von Schießpulver« an sich.13 Aber Adams ist nun mal ein Rätsel, und mit seinem Rückzug aus der Politik modelte er seine öffentliche Persona noch einmal erfolgreich um. Er gab jetzt öfter den augenzwinkernden Promi-Opa — den ikonischen, aber nahbaren Granden. Die Verwandlung erreichte ihren surrealen Höhepunkt mit seinem Twitter-Account, wo Adams seine beflissen langweiligen Tweets gern mit einem Schwall Katzenbilder und Lobliedern auf Schaumbäder, Gummientchen und Teddybären garnierte.14 (»Ich liebe Teddybären«, erzählte er der BBC, »ich habe eine Riesensammlung Teddybären.«)15 Dem irischen Schriftsteller Damien Owens kam das Geplänkel vor, »als ob Charles Manson seine Teemützensammlung vorführt«, und das überbetont Schrullige klang oft eher nach zynischem Kalkül.16 Malachi O’Doherty, Journalist und Adams-Biograf aus West Belfast, schrieb, der Sinn-Féin-Chef habe den »Hang, Propaganda für sein eigenes Menschsein zu machen«.17

Insgesamt wirken die Tweets, als ob sich Adams besonders aufgekratzt gab, weil er ja langen aussichtslosen Zeiten getrotzt hatte. Er war von bewaffneten Loyalisten angeschossen und fast umgebracht und vom britischen Staat gefangen gehalten und gefoltert worden. Er hatte den Konflikt wider alle Wahrscheinlichkeit überlebt, zu seinem Ende beigetragen und eine enorm erfolgreiche Partei aufgebaut, die nicht nur in Nordirland, sondern auch in der Republik zur politischen Kraft geworden war.

Für Adams, schrieb der Historiker Alvin Jackson, war demokratisches Handeln »ein Weg, das von den bewaffneten Kämpfern aufgehäufte politische Kapital flüssig zu machen, das sonst verloren gegangen wäre«.18

Brendan Hughes hat es gegenüber Anthony McIntyre mit einer Metapher ausgedrückt: Der bewaffnete Kampf, das sei so, wie ein Boot zu Wasser zu lassen, »man braucht hundert Leute zum Anschieben.19 Das Boot steckt im Sand fest, es muss also rausgeschoben werden, ja? Und dann segelt das Boot davon und lässt die hundert Leute zurück, ja? So empfinde ich das. Das Boot ist weg, das segelt jetzt auf hoher See mit allem Luxus, der dazugehört, aber die armen Leute, die es ins Wasser geschoben haben, sitzen weiter fest, im Matsch und im Dreck und in der Scheiße und im Sand.«

Es fällt schwer, nicht emotional auf Hughes’ Seite zu stehen. Aber es wäre politisch gesehen dumm, nicht auf Adams’ Seite zu stehen. Vielleicht hatte er einen soziopathischen Selbsterhaltungstrieb, und es hat etwas klirrend Kaltes, dass er sich auf seinem sicheren Platz an Bord nicht einmal kurz zu zurückbleibenden Genossen wie Hughes umdreht. In Wirklichkeit war es jedoch die Geschichte, hinter der Hughes zurückblieb. Nordirland hatte genug erlitten. Wie herzlos Adams’ Motive auch immer waren, welche Täuschungsmanöver auch immer er vollführt hat — er hat die IRA aus einem unlösbaren blutigen Konflikt in einen brüchigen, aber andauernden Frieden gelenkt.

Auch nach dem Karfreitagsabkommen erklärte Adams beharrlich, er habe das fundamentale republikanische Ziel eines vereinten Irlands nie aufgegeben. Nur seien die Mittel, um es zu erreichen, jetzt andere. Vielleicht sei der Krieg langfristig auch demografisch zu gewinnen.20 Laut Schätzungen könnten schon 2021 mehr Katholiken als Protestanten in Nordirland leben.21 Das heißt aber nicht unbedingt, dass die Briten bald komplett weggewählt werden. Nach der Finanzkrise von 2008 und der anschließenden Rezession in Dublin ergaben einige Umfragen, dass auch die meisten Katholiken im Norden lieber weiter zum Vereinigten Königreich gehören wollten.22 »Unionisten durch Fortpflanzung zu überbieten, mag ja ein netter Zeitvertreib für Leute sein, die die Energie dafür haben«, hat Adams einmal bemerkt.23 »Eine politische Strategie ist das aber kaum.«

Im Sommer 2016 stimmten die Briten mit hauchdünner Mehrheit für den Austritt aus der Europäischen Union. Die britische Öffentlichkeit merkte erst nach dem Referendum, welche weitreichenden Folgen der Brexit haben sollte. Seit dem Freitagsabkommen besteht zwischen Nordirland und der Republik praktisch keine Grenze mehr. Soldaten und sandsackbewehrte Checkpoints sind lange verschwunden, täglich passieren Zehntausende Menschen und unzählige Lkw mit Gebrauchsgütern die Grenzlinie in die eine oder die andere Richtung. Nordirland genießt den Vorteil, gleichzeitig Teil des Vereinigten Königreichs und der EU zu sein. Diese Doppelidentität wird jetzt unweigerlich komplizierter, der Brexit könnte, je nachdem, wie er umgesetzt wird, Nordirland zu einer endgültigen Entscheidung zwingen.24

Adams hat die Möglichkeit längst im Visier. »Wer von uns ein Vereinigtes Irland will, muss sehr vorsichtig vorgehen, damit man uns nicht beschuldigt, den Brexit auszunutzen«, warnte er. »Trotzdem glaube ich, die Idee der irischen Einheit, im Sinne einer öffentlichen Debatte, ist heute viel weiter verbreitet.«25 Er sähe gern ein neues Referendum innerhalb der nächsten fünf Jahre, verkündete er, nämlich darüber, ob Nordirland Teil des Vereinigten Königreichs bleiben sollte.26

Es wäre eine Ironie der Geschichte, wenn das Brexit-Referendum ungewollt langfristig ein vereintes Irland nach sich ziehen würde — diesen Ausgang hatten selbst drei Jahrzehnte grauenhaftes Blutvergießen und gut dreitausendfünfhundert Tote nicht bewirken können. Er ist jedoch gewissermaßen die über Gerry Adams’ Vermächtnis schwebende entscheidende Frage. Als junger Mann hatte er politische Gewalt mit einem wichtigen Vorbehalt gerechtfertigt: »Nur wenn ich eine Situation erreiche, in der mein Volk ernsthaft gedeihen kann, kann ich selbst all mein Handeln als gerechtfertigt ansehen.«27

Adams wird die Vereinigung Irlands vermutlich nicht mehr erleben, aber eines Tages kommt sie, unweigerlich. Die eigentliche Frage ist, ob es auch ohne das gewaltsame Eingreifen der IRA irgendwann dazu gekommen wäre. Dolours Price und Brendan Hughes hat diese Frage umgetrieben — der späte Gerry Adams dagegen bleibt von derlei quälender Selbstprüfung anscheinend verschont. Auf die Frage, ob er Blut an den Händen habe, sagte er 2010 der Sunday Life: »Habe ich nicht. Ich bin vollkommen im Reinen mit mir. Absolut.«28

*

Hinter dem lichten modernen Haus, das Michael McConville außerhalb von Belfast für seine Familie gebaut hat, liegt eine leuchtend grüne große Wiese, gesäumt von kleinen Gehäusen aus Holz. Sie beherbergen Hunderte von Verschlägen mit Dutzenden von gurrenden und hüpfenden und trappelnden Tauben. Als Kind war Michael auf der Suche nach wilden Tauben durch die Belfaster Kriegsruinen gestreift, später hatte er Hunderte Tauben gehalten und für Wettbewerbe dressiert. »Zwischen protestantischen und katholischen Taubenzüchtern hat es während der ganzen Troubles nie Krach gegeben«, sagte er einmal und hielt dabei eine Taube behutsam umfasst.29 Sie beäugte ihn unruhig und rollte den Nacken, sodass das schiefergraue Gefieder plötzlich magentarot und seegrün aufblitze und schillerte wie das eines Pfaus.

Tauben gehören zu den ersten Tieren, die der Mensch domestiziert hat, vor über fünftausend Jahren.30 Sie sind monogam und verteidigen ihre Brut erbittert. Tauben bauen genau wie menschliche Athleten dadurch Durchhaltevermögen auf, dass sie nach und nach immer längere Strecken trainieren. Irische Brieftaubenzüchter fahren oft bis nach England oder Frankreich und lassen dort ihre Vögel auf, und die fliegen wieder nach Hause, über das Wasser, in schlechtem Wetter, Hunderte von Meilen zurück zu ihrem Schlafplatz. Wenn sie nach einem langen Flug zu Hause ankommen, haben sie durch die Strapazen manchmal die Hälfte ihres Gewichts verloren.31 Aber wenn man sie mit Trost und Körnern füttert und päppelt, bauen sie schnell wieder Kraft fürs nächste Rennen auf.

An Renntagen lässt Michael seine Tauben frei, sie verschwinden am Horizont, und irgendwann kommen sie wieder nach Hause. Das hatte er an Tauben immer geliebt. Sie gehen auf Wanderschaft. Aber der angeborene Instinkt trägt sie immer zurück an ihren Geburtsort.