Zwölftes Kapitel

Auckland – Gegenwart

DS Ruben Jameson saß zusammen mit DC Kate Mills in einem zivilen Polizeiauto und überwachten einen Buchmacher in Glen Innes, South Auckland, Neuseeland.

„Bist du dir sicher, Ruben?“, fragte Mills in ihrem Kiwi-Akzent, während sie nervös an ihrem Pferdeschwanz herumfummelte. „Eine bewaffnete Verhaftung ohne entsprechende Befugnis durchzuführen. Wenn etwas schief geht, sind wir beide am Arsch.”

„Wir haben nicht genügend Zeit, um es genehmigen zu lassen ”, antwortete Jameson, der mit einem englischen Akzent mit Londoner Einschlag sprach. „Diese Sache wird bald über die Bühne gehen.” Er schaute seine Partnerin an und sah, dass sie nicht überzeugt war. „Hör mal – bis der Papierkram und die Risikobewertung erledigt sind, hat die Bande den Raubüberfall schon durchgeführt, wahrscheinlich irgendeinen armen Kerl erschossen und ist zu Hause und zählt ihr Geld. Glaub mir, so ist es besser.”

„Ich weiß nicht, Ruben.” Sie schüttelte den Kopf. „Es heißt, dass die Dienstaufsicht dich auf dem Kieker hat.” Sie stieß einen kleinen Seufzer aus. „Du hast eine Vergangenheit, Ruben. Du weißt, wie es in diesem Job zugeht. Es ist egal, ob du um die halbe Welt gereist bist – es dauert nie lange, bis dich deine Vergangenheit einholt.”

Er drehte sich zu ihr um. „Mach dir keine Sorgen um meine Vergangenheit. Ich kann auf mich selbst aufpassen.” Er schaute wieder geradeaus.

„Das hoffe ich”, sagte sie zu ihm, „und ich hoffe, du weißt, warum wir hier auf einen bewaffneten Raubüberfall warten, ohne jemanden zu informieren oder Verstärkung anzufordern.”

„Es ist abgesichert”, beruhigte er sie. „Der Informant hat es gerade erst herausgefunden und es direkt an mich weitergeleitet. Wir hatten keine Zeit, sie ins System einzugeben, oder? Und überhaupt, wir haben doch Verstärkung.”

„Was?”, fragte sie. „Ein Streifenwagen?”

„Frank ist ein guter Polizist”, argumentierte er. „Er weiß, was Sache ist.”

„Ich hätte nicht gedacht, dass ihr hartgesottenen Ex-Londoner Detectives den Polizisten in Uniform traut”, neckte sie ihn.

„Du hast zu viel ferngesehen, Millsie”, sagte er zu ihr. „Ein guter Polizist ist ein guter Polizist.”

„Was auch immer das heißen soll”, sagte sie und verdrehte die Augen. Doch bevor er etwas erwidern konnte, fuhr ein verbeultes altes Auto, in dem drei junge polynesische Männer saßen, zu schnell vor dem Buchmacher vor. Zwei von ihnen stiegen sofort aus, sie trugen trotz der Sommerhitze lange Mäntel, während der dritte im Auto blieb – der Motor lief weiter.

Sowohl Jameson als auch Mills waren mit einem Mal ganz aufgeregt. „Das sind sie”, rief er in sein Handfunkgerät. „Jetzt, jetzt, jetzt”, befahl er, bevor er das Funkgerät fallen ließ und mit heulendem Motor direkt auf das Auto der Verdächtigen zufuhr. Daher schauten sie in seine Richtung, als er im letzten Moment auswich und direkt davor anhielt – und ihnen so den Fluchtweg versperrte, gerade als ihre Verstärkung in einem normalen Polizeiauto kam und das Auto der Verdächtigen hinten blockierte.

Jameson und die anderen stiegen schnell aus den Autos aus, richteten ihre Waffen auf die Verdächtigen und riefen ihnen Befehle zu. „Keine Bewegung! Keine Bewegung! Bewaffnete Polizei! Keine verdammte Bewegung! Zeigen Sie uns Ihre Hände! Zeigen Sie uns Ihre Hände!” Der Fahrer und einer der Männer auf dem Bürgersteig erstarrten und hoben ihre Hände, aber der dritte zog eine abgesägte Schrotflinte unter seinem Mantel hervor und hob sie in Jamesons Richtung.

„Hören Sie auf, verdammt”, warnte er ihn, aber der bewaffnete Möchtegern-Räuber ignorierte ihn und hob weiter die Schrotflinte, bis Jameson einmal schoss – und den Verdächtigen an der Schulter traf, so dass der die Schrotflinte fallen ließ und zu Boden ging. Die Polizisten stürmten hin und legten allen dreien am Boden Handschellen an – auch dem verletzten Mann, der blutig und benommen, aber bei Bewusstsein war und vor Schmerzen schrie.

Jameson und die anderen sahen sich an und grinsten, mehr aus Erleichterung als vor Stolz. Jameson hob einen der unverletzten Verdächtigen vom Boden hoch, so dass sich die Handschellen enger zusammengezogen und er vor Schmerz stöhnte. „Du bist am Arsch, mein Freund”, sagte er ihm mit einer gewissen Schadenfreude. „Du wirst für eine lange, lange Zeit weg sein.”

„Ich will meinen Anwalt”, forderte der Mann.

„Es braucht mehr als einen Anwalt, um dich zu retten, mein Sohn”, sagte Jameson zu ihm. „Es bedarf eines verdammten Wunders.”

„Fick dich”, antwortete der Mann und kämpfte gegen die Handschellen.

„Wie auch immer”, kanzelte Jameson ihn ab und sah zu einem der uniformierten Polizisten hinüber. „Gute Arbeit, Jack”, sagte er zu ihm. „Ich schulde dir was.”

„Ja”, antwortete Sergeant Neil mit einem leichten Lächeln. „Und das nicht zum ersten Mal, was?”

Er nickte zustimmend, während er sich Mills zuwandte. „Okay, Millsie. Besorg einen Transport für diese Witzbolde und besser auch noch einen Krankenwagen für Ned Kelly da drüben”, sagte er zu ihr und sah auf den verletzten Möchtegern-Räuber hinunter. „Ich sage der Spurensicherung Bescheid, dass wir sie brauchen.”

„Klar”, versicherte sie ihm, während sie die Szene vor sich betrachtete. „Aber du solltest dir besser eine gute Geschichte überlegen, Ruben. Wenn die Dienstaufsicht nicht schon vorher hinter dir her war, dann wird sie es jetzt sein.”

„Du machst dir zu viele Sorgen, Millsie”, sagte er ihr. „Der Schuss war gerechtfertigt. Die Dienstaufsicht kann mir nichts anhaben. Selbst wenn sie es wollte.”

***

Jameson und Mills saßen im Großraumbüro im Hauptquartier der Polizei von Auckland und arbeiteten an ihren Computern, um den letzten Papierkram für den bewaffneten Raubüberfall zu erledigen. Jameson streckte sich plötzlich und gähnte, dabei achtete er darauf, dass Mills ihn sah. „Millsie”, rief er ihr zu. „Ich bin gleich fertig. Kannst du dich für mich um den restlichen Papierkram kümmern? Ich muss nach Hause. Ich hab Jenny die ganze Woche kaum gesehen.”

„Sicher”, stimmte sie mit einem wissenden Lächeln zu. „Kein Problem.”

„Danke, Millsie”, antwortete er, stand auf und zog seine Jacke an. „Ich bin dir was schuldig.”

„Du schuldest mir mehr als einen”, erinnerte sie ihn, als er ging. „Hey”, rief sie ihm nach, so dass er stehen blieb und zurückblickte. „Das war ein gutes Ergebnis heute, aber andere sehen das vielleicht nicht so. Sorg lieber dafür, dass alles bis aufs Letzte geregelt ist. Du weißt schon.”

„Entspann dich, Millsie.” Er lächelte spitzbübisch. „Das wird es sein. Wir sehen uns morgen.”

„Ja. Sicher”, sagte sie. „Bis morgen.”

***

Zehn Minuten später betrat Jameson eine schicke, moderne Bar irgendwo im Auckland Viaduct. Es war viel los, vor allem gut gekleidete Geschäftsleute aus der Stadt, aber er schaffte es, einen Platz an der Bar zu ergattern. Mit einem Fingerzeig erregte er die Aufmerksamkeit des Barmanns.

„Was darf ich Ihnen bringen?”, fragte der Barmann.

„Bourbon”, sagte Jameson zu ihm. „Mit Eis. Jack Daniels, wenn Sie den haben.”

„Groß oder klein?”, erkundigte sich der Barmann.

Jameson hob die Augenbrauen. „Was denken Sie?”

„Ein großer JD, kommt sofort”, antwortete der Barmann und drehte sich weg, so dass Jameson etwas verlegen auf seinen Drink wartete, sich umschaute und die Gäste musterte, bis sein Bourbon eintraf.

„Das macht zwölf Dollar”, sagte der Barmann.

„Machen Sie eine Rechnung auf”, wies er ihn an.

„Klar doch”, erwiderte der Barmann und ließ ihn mit seinem Drink allein. Nach ein paar Schlucken begann er sich ein wenig zu entspannen, als plötzlich eine große, schlanke, gut gekleidete attraktive Frau mit langem, gewelltem dunkelbraunem Haar auf dem Hocker neben ihm Platz nahm. Er sah sie aus den Augenwinkeln an, sagte aber nichts. Sie nickte dem Barmann zu, der schnell zu ihr kam.

„Was kann ich für Sie tun?”, fragte er und sah sie flirtend an.

„Wodka und Tonic”, sagte sie ihm, ohne auf seinen Charme zu achten. „Groß.”

„Natürlich”, antwortete er und wandte sich mit einem enttäuschten Blick ab.

Jameson lächelte vor sich hin, schaute aber weiter geradeaus. Nach ein paar Sekunden brach sie das Eis.

„Ich habe die ganze Nacht darauf gewartet, dass du hier hereinkommst”, sagte sie ihm.

Er sah sich um, um sicherzugehen, dass sie mit ihm sprach. „Entschuldigung.”

„Ich sagte, dass ich die ganze Nacht darauf gewartet habe, dass du hier hereinkommst”, wiederholte sie.

„Ich?” Er vergewisserte sich, dass er es sich nicht eingebildet hatte.

„Ja.” Sie lachte ein wenig. „Du.”

„Ach ja? Warum ich?”, fragte er und sah sich immer noch in der Bar um. „Der Laden ist voll von Männern.”

„Die sind echt nicht mein Typ”, antwortete sie.

„Ach?”, sagte er. „Wie das?”

„Geschäftsleute”, beschwerte sie sich. „Banker. Finanziers. Alles sehr langweilig.”

„Und woher weißt du, dass ich kein ... Geschäftsmann bin?”, fragte er.

„Oh, du bist ein Mann des Geschäfts”, antwortete sie. „Nur nicht das Geschäft des Geldverdienens.”

„Du scheinst dir ziemlich sicher zu sein.” Er erlaubte sich ein leichtes Lächeln.

Der Barmann unterbrach sie, als er ihr Getränk auf die Theke stellte. „Einen großen Wodka mit Tonic für die Dame.”

„Auf meine Rechnung”, sagte Jameson ihm.

„Natürlich”, sagte er, bevor er sie wieder allein ließ.

„Woher ich das weiß?” Sie machte da weiter, wo sie aufgehört hatten. „Oh, ich weiß nicht – so wie du hier reingekommen bist. Die Art und Weise, wie du alle anderen gemustert hast. Die Tatsache, dass du alleine hier sitzt.”

Sein Lächeln wurde noch ein wenig breiter. „Also, was denkst du, was ich mache?”

„Lass mich überlegen”, begann sie. „Du bist selbstbewusst genug, um allein zu sein. Möglicherweise bist du ein bisschen ein Einzelgänger. Du bist von Natur aus ein wenig misstrauisch gegenüber Menschen und weißt gerne, was um dich herum vor sich geht, und du hast einen intensiven Blick – als würdest du die Welt mit anderen Augen sehen als der Rest von uns.”

„Also ...?”, fragte er, wohl wissend, dass sie wahrscheinlich gleich richtig raten würde.

„Also ...”, wiederholte sie, „bist du ein ... Polizist? Ich denke, ein Detective, der in sehr ernsten Dingen ermittelt.”

Er nickte mit einem schiefen Lächeln. „So offensichtlich, was?”

„Ich denke schon”, antwortete sie. „Aber du bist kein Kiwi. Du bist ein Brite, richtig?”

„Das bin ich”, gab er zu.

„Warst du vor deiner Zeit hier auch schon Polizist?”, fragte sie.

„Ja”, antwortete er zurückhaltend.

„Also”, erwiderte sie in einem Tonfall, der betonte, dass er eine harte Nuss war. „Wie kommt ein Polizist aus England dazu, Polizist in Auckland zu werden?

„Ach”, antwortete er zögernd. „Ich war bei der Met. Du weißt schon – in London?”

„Ich weiß, was die Met ist.” Sie lächelte.

„Es ist etwas passiert.” Er zuckte mit den Schultern. „Etwas ist schief gelaufen ...”

„Etwas, das bedeutet, dass es für dich besser war, hierher zu ziehen?”, hakte sie nach.

„Kann man so sagen.” Er zuckte mit den Schultern und griff nach seinem Glas.

„Willst du nicht darüber reden?”

„Eigentlich nicht”, entgegnete er. „Und du?”, drehte er den Spieß schnell um. „Was machst du so?”

„Ich bin Marketing-Managerin bei Travel-Globe”, erklärte sie ihm und ließ es wie den langweiligsten Job der Welt klingen. „Die Reisebüros. Alles sehr uninteressant. Kennst du die?”

„Eigentlich nicht”, gab er zu und wünschte, er hätte stattdessen gelogen. „Ich fahre nicht oft in den Urlaub.”

„Man muss immer auf der Hut sein, was?”, sagte sie und machte sich über ihn lustig. „Willst im Urlaub nicht weich werden?”

„So ähnlich.” Er lächelte und trank einen Schluck Bourbon.

Sie sahen sich lange an, ohne etwas zu sagen.

„Also”, brach sie das Schweigen, „was hat dich heute Abend hierher geführt? Wieder ein schwieriger Fall?”

„Ich bin mir nicht ganz sicher”, antwortete er ehrlich. „Ich hatte es auch gar nicht vor.”

„Was hattest du denn vor?”

„Nach Hause zu gehen”, erwiderte er. „Zu meiner Tochter.”

„Oh”, sagte sie plötzlich und sah ein wenig enttäuscht aus. „Ich sehe keinen Ring an deinem Finger. Die meisten Männer geben einem Mädchen heutzutage einen Hinweis.”

„Nein.” Er schüttelte den Kopf, ein wenig verwirrt, bis er begriff, was sie meinte. „Nein, ich bin nicht verheiratet. Nicht mehr.”

„Ist das nicht etwas ungewöhnlich?”, fragte sie. „Dass der Mann das Sorgerecht für das Kind bekommt?”

„Nein”, erklärte er. „Nein, ich bin nicht geschieden. Sie ist gestorben – vor ein paar Jahren. Brustkrebs. Eine aggressive Form. Er hat sich schnell ausgebreitet.”

„Oh.” Sie spannte sich an. „Es tut mir leid.”

„Das kommt eben vor.” Er zuckte mit den Schultern. „Nicht deine Schuld.”

„Ich mache mich nicht sehr gut, oder?” Sie lachte nervös.

„Du machst dich gut.” Er lächelte. „Eigentlich sogar besser als gut.” Er hob sein Glas. Sie tat das Gleiche, dann stießen sie an und tranken beide einen Schluck. „Willst du dich mit mir ein bisschen betrinken?”, fragte er.

„Ja”, antwortete sie, und ihre Augen funkelten schelmisch. „Klar. Warum nicht?”

„Wie heißt du?”

„Lisa”, sagte sie ihm.

„Ruben”, antwortete er. „Ruben Jameson.”

***

Der einunddreißigjährige Alexander Knight saß auf der Veranda seines kleinen Farmhauses in Pukekohe, westlich von Auckland, und nippte an einer Tasse Kaffee, während er in den Nachthimmel blickte und die Sterne und die Satelliten beobachtete, die beim Wiedereintritt in die Atmosphäre verglühten. Das einzige Geräusch war der Wind und der Gesang der Zikaden. Plötzlich änderte sich in der Ferne der schwarze Himmel in ein blinkendes Blau und Rot, während das Geräusch eines Motors immer lauter wurde, obwohl keine Sirenen zu hören waren. Er schüttete seinen Kaffee weg, stand auf – und schaute angespannt in Richtung der sich nähernden Lichter, bis er das Polizeiauto sah, das auf dem Wirtschaftsweg auf ihn zufuhr. Er beobachtete, wie der Wagen dicht vor dem Haus anhielt. Der Motor und die Lichter erloschen, als zwei uniformierte Polizeibeamte mit ernster Miene aus dem Fahrzeug stiegen.

„Sind Sie Alexander Knight?”, fragte der ältere Polizist.

„Ja.” Er nickte. „Worum geht es?”

„Sir”, sagte derselbe Polizist zu ihm, „Sie müssen mit uns reingehen.”

„Können Sie mir sagen, warum?“, fragte Dolby, fasziniert, aber nicht beunruhigt.

„Kommen Sie erstmal mit rein”, sagte die jüngere Polizistin, als sie und ihr Partner auf seine Veranda traten.

Dolby erwiderte nichts, während er den Horizont absuchte, als ob er in dem dichten Buschwerk, das seine kleine Farm umgab, etwas sehen oder spüren konnte, und befürchtete, dass seine Vergangenheit ihn schließlich eingeholt hatte. Er nickte kurz und ging hinein, gefolgt von den Polizisten.