London – 2005
Wenig später saß Harvey in einem fast identischen Vernehmungsraum, nur dass dieser sich im Polizeirevier Barnet befand. Matthews saß neben ihm und Michael Dolby auf der gegenüberliegenden Seite des billigen Schreibtischs, flankiert von seiner Mutter und seinem Anwalt, Dominic Powell. Harvey drückte die Aufnahmetaste und ein fünfsekündiges schrilles Summen erfüllte den Raum. Als es aufhörte, begann er.
„Dieses Gespräch wird sowohl auf Tonband als auch auf Video aufgezeichnet. Es findet am 10. Februar auf dem Polizeirevier Barnet statt, und es ist jetzt etwa 12:30 Uhr. Ich bin Detective Sergeant Fraser Harvey und die andere anwesende Beamtin ist ...”
„DC Connie Matthews”, stellte sie sich vor.
„Ich leite die Befragung”, fuhr Harvey fort. „Könnten Sie bitte Ihren Namen für das Band nennen?”
„Das Interview wird auch auf Video aufgezeichnet?“, fragte Dolby.
„Ja”, antwortete Harvey. „Das ist richtig. Ist das ein Problem?”
„Ich bin halt noch nie befragt worden”, sagte er. „Aber ich habe einige Vernehmungen im Fernsehen gesehen. Ich dachte, nur die wirklich schweren Fälle werden auf Video aufgenommen – Serienmörder und so.”
„Dies ist eine sehr ernste Angelegenheit, Michael”, erklärte Harvey. „Das müssen Sie verstehen.”
Dolby wirkte weiterhin ruhig und gefasst. „Sie glauben also wirklich, dass ich etwas damit zu tun habe”, stellte er eher fest, als dass er fragte. „Ich bin nicht nur hier, um aus Ihren Ermittlungen ausgeschlossen zu werden?”
„Darauf kommen wir noch zurück, wenn das Gespräch richtig beginnt”, antwortete Harvey. „Vorher müssen wir noch ein paar Dinge erledigen. Ihr Name?”
„Tut mir leid”, entschuldigte er sich. „Michael. Michael Dolby. Es ist einfach so, dass das alles neu für mich ist. Ich bin ein wenig nervös. Hab ein bisschen Angst, nehme ich an.”
„Das ist verständlich”, beruhigte Harvey ihn. „Wie ich schon sagte, ist Ihre Mutter ebenfalls als Ihre Sorgeberechtigte anwesend. Könnten Sie bitte deutlich Ihren Namen nennen?”
„Fiona Dolby”, antwortete sie verärgert. „Michaels Mutter.”
„Fiona”, erklärte Harvey. „Als Michaels Mutter haben Sie das Recht, an dem Gespräch teilzunehmen und ihm jeden gewünschten Rat zu geben, und alles zu hinterfragen, das Sie nicht verstehen oder von dem Sie denken, dass Michael es nicht versteht. Verstanden?”
„Ich verstehe”, antwortete sie und sah Dolby aus dem Augenwinkel an.
„Ebenfalls anwesend ist ...” Er sah Powell an, der die Routine kannte.
„Dominic Powell”, sagte der. „Anwalt von Hopkins, Powell und Lumen.”
„Danke”, sagte Harvey und verbarg seine tiefe Abneigung gegen Anwälte. „Michael – ich muss Sie daran erinnern, dass Sie nichts sagen müssen, es sei denn, Sie wollen es, aber es könnte Ihrer Verteidigung schaden, wenn Sie bei der Befragung etwas verschweigen, auf das Sie sich später vor Gericht berufen. Alles, was Sie sagen, kann als Beweismittel verwendet werden. Haben Sie diese Erklärung verstanden?”
„Ja.” Dolby zuckte mit den Schultern. „Ich denke schon.”
„Ich habe Michael seine Rechte ausführlich erklärt und bin überzeugt, dass er sie verstanden hat”, fügte Powell hinzu.
„Gut”, sagte Harvey. „Michael, Sie haben zu jeder Tages- und Nachtzeit das Recht auf einen kostenlosen und unabhängigen Rechtsbeistand, und Sie haben sich dafür entschieden, dass Ihr Anwalt, Mister Powell, während der Befragung anwesend ist. Wenn Sie sich zu irgendeinem Zeitpunkt privat mit ihm oder einem anderen Rechtsvertreter beraten möchten, sagen Sie es einfach, und ich unterbreche dafür die Befragung. Haben Sie das verstanden?”
„Ich habe es verstanden”, antwortete er, nervös, aber gefasst.
„Okay.” Harvey nickte. „Michael, es ist schon ziemlich spät, fast Mitternacht, und ich weiß, dass Sie erst fünfzehn sind, wenn Sie also meinen, dass Sie zu müde für eine Befragung sind, müssen Sie das sagen.”
„Nein.” Er schüttelte den Kopf. „Mir geht es gut. Ich möchte es lieber hinter mich bringen.”
„Mrs Dolby?”, erkundigte er sich bei ihr.
„Wenn Michael bereit ist, weiterzumachen, bin ich es auch”, stimmte sie zu. „Er ist ein intelligenter Junge. Er weiß, was er will.”
„Nun gut”, fuhr Harvey fort. „Michael – wissen Sie, warum Sie verhaftet wurden?”
„Man hat mir gesagt, es ginge um die mutmaßliche Vergewaltigung und Ermordung eines Mädchens”, antwortete er ohne zu zögern.
Powell schaltete sich so schnell wie möglich ein. „Mein Rat, alle Fragen mit kein Kommentar zu beantworten, bleibt gültig.”
„Tut mir leid.” Dolby zuckte mit den Schultern. „Kein Kommentar.”
„Das ist richtig, Michael”, bestätigte Harvey. „Sie wurden wegen der mutmaßlichen Vergewaltigung eines jungen Mädchens verhaftet. Ein vierzehnjähriges Mädchen, von dem wir glauben, dass es Abigail Riley ist. Können Sie mir dazu etwas sagen?”
Dolby schien es schwer zu fallen, nichts zu sagen, er seufzte, bevor er antwortete: „Kein Kommentar.”
„Brutal ermordet, nachdem sie zweifellos brutal vergewaltigt wurde.” Harvey versuchte, Emotionen zu wecken. „Über fünfzig Mal wurde auf sie eingestochen, und ihre Kehle wurde so weit durchgeschnitten, dass sie fast enthauptet wurde. Möchten Sie dazu etwas sagen?”
„Kein Kommentar”, antwortete Dolby, dann seufzte er erneut, als sei er frustriert darüber, dass er nicht frei sprechen konnte.
„Wir fanden sie fast nackt auf dem Boden eines alten Luftschutzbunkers in der Siedlung Falmouth ”, erzählte Harvey weiter. „Weggeworfen, als wäre sie ein Nichts. Einer der schlimmsten Tatorte, die ich je gesehen habe.” Er wartete ein paar Sekunden, um die Wirkung zu verstärken, bevor er weitersprach. „Man hat ihr die Brüste abgeschnitten.”
„Um Himmels willen”, sagte Mrs Dolby und wandte den Blick von ihrem Sohn ab.
„Kein Kommentar”, beharrte Dolby und schüttelte den Kopf.
Harvey bemerkte die Frustration des Jungen. „Sie sehen aus, als wollten Sie mit mir reden, Michael. Als wollten Sie etwas sagen. Sich etwas von der Seele reden.”
Dolby schüttelte erneut den Kopf und atmete tief durch die Nase ein, als kämpfe er gegen einen inneren Zwiespalt an. „Nein. Kein Kommentar.”
„Kannten Sie sie?“, fragte Harvey und nahm etwas Druck heraus. „Kannten Sie Abigail Riley?”
Dolby schaute an die Decke und schloss die Augen. „Kein Kommentar.”
„Hatten Sie eine Beziehung zu ihr?” Harvey fuhr fort, ihn zu befragen – und baute erneut Druck auf, der ihn schließlich zum Einknicken bringen könnte.
„Kein Kommentar”, wehrte Dolby ab.
„Vielleicht war sie Ihre Freundin?”
Dolby schüttelte den Kopf. „Kein Kommentar.”
„Sie schütteln den Kopf”, nutzte Fraser Dolbys unwillkürliche Körpersprache gegen ihn. „Heißt das, Sie hatten keine Beziehung mit ihr?”
„Kein Kommentar”, antwortete er und hielt bewusst den Kopf still.
„Dann war sie eine Fremde für Sie?”
„Kein Kommentar.”
„Warum haben Sie sie dann als Ihr Opfer ausgewählt?”, wechselte er die Taktik. „Weil sie so hübsch war? Wollten Sie sie – sexuell?”
„Kein Kommentar”, antwortete er mit geschlossenen Augen.
„Sergeant”, unterbrach Powell. „Ich glaube, Ihre Fragen laufen ein wenig aus dem Ruder. Sie haben noch nicht einmal die Beweise gegen meinen Mandanten vorgebracht.”
„Na gut”, antwortete er nach einer Pause. „Erzählen Sie mir von Ihrer Beziehung zu Paul Anderson.”
„Was meinen Sie?“, fragte Dolby, der jetzt anders klang – misstrauisch, aber auch neugierig.
„Ich meine, was ist er für Sie?”, stellte Harvey klar.
„Ein Freund, würde ich sagen”, antwortete Dolby achselzuckend.
„Michael”, warf Powell ein. „Ich möchte Sie an meinen Rat erinnern.”
„Tut mir leid”, sagte Dolby zu ihm. „Kein Kommentar.”
„Seltsame Freunde”, fuhr Harvey fort. „Sie und er.”
„Sie hätten nie Freunde werden dürfen”, meldete sich Mrs Dolby zu Wort. „Es war von Anfang an klar, dass Michael dadurch nur in Schwierigkeiten geraten würde, aber selbst Paul kann in so etwas nicht verwickelt sein. Es muss sich um eine Art Verwechslung handeln.”
„Wenn es so ist, werden wir das bald wissen”, sagte Harvey, bevor er fortfuhr. „Wie lange kennen Sie Paul schon?”
„Ein paar Jahre”, antwortete Dolby.
„Michael”, erinnerte Powell ihn mit leicht gereiztem Ton.
„Tut mir leid”, entschuldigte sich Dolby. „Ich vergaß. Ich bin so etwas nicht gewöhnt. Ich bin noch nie verhaftet worden. Es ist nicht so leicht.”
„Im Gegensatz zu Paul, der bereits mehrmals verhaftet und befragt wurde”, erinnerte Harvey ihn. Dolby antwortete mit Schweigen. „Und wie sind Sie beide dann Freunde geworden?”
„Paul ist in Ordnung ... Ich meine, nein, kein Kommentar. Tut mir leid”, sagte er und klang frustriert. „Ich will einfach nur nach Hause, wissen Sie.”
„Ich verstehe.” Harvey versuchte, mitfühlend zu klingen. „Aber diese Situation könnte gar nicht ernster sein, und uns liegen Aussagen vor, die darauf hindeuten, dass Sie dafür verantwortlich oder zumindest daran beteiligt sind. Sie müssen die Situation, in der Sie sich befinden, akzeptieren. Sie können nicht davor weglaufen, und sie wird auch nicht plötzlich verschwinden. Wenn Sie also etwas wissen oder mir etwas sagen wollen, dann ist hier und jetzt der richtige Zeitpunkt und der richtige Ort dafür.”
Dolby seufzte tief. „Kein Kommentar.”
Harvey ließ absichtlich eine lange, bedrückende Stille im Raum zu, bevor er fortfuhr. Er hatte genauso viele Verdächtige durch Schweigen einknicken gesehen wie durch eine Befragung. „Sie wurden von einem Zeugen gesehen, Michael”, erklärte er schließlich. „Sie und Paul. Man hat uns alles erzählt – wie Sie und Paul Abigail in den Bunker geführt haben und einige Zeit später ohne sie wieder herauskamen – in anderer Kleidung. Der Rucksack, den Sie dabei hatten. Sie müssen mit mir reden, Michael.”
Tränen bildeten sich Dolbys Augen. „Kein Kommentar.”
„Der Rucksack, Michael”, sagte Harvey ernst. „Der Rucksack und die Kleidung bedeuten, dass es geplant war. Dadurch sieht die ganze Sache noch schlimmer aus, falls das überhaupt möglich ist. Die Frage ist, wer hat es geplant? Sie oder Paul?”
„Kein Kommentar.”
„Paul steckte immer wieder mal in Schwierigkeiten”, erinnerte Harvey ihn. „Obwohl ich zugeben muss, dass dies viel ernster ist als alles, was er bisher getan hat. Für Sie hingegen ist das alles neu, Michael. Alles deutet darauf hin, dass Paul der Anführer ist, aber das können wir nicht beweisen, solange Sie nicht mit mir reden. Paul kann über Sie sagen, was er will, wenn Sie nicht zuerst über ihn reden. Er kann Ihnen die Schuld an allem geben – Ihnen alles in die Schuhe schieben.”
Dolby wischte sich die Tränen weg – schluchzte allerdings nicht – und blieb gelassen genug, um zu antworten. „Kein Kommentar.”
„Wissen Sie, Michael”, versuchte Harvey einen anderen Ansatz, „hier im Schutz dieser vier Wänden – in diesem kleinen Raum– ist es leicht, sich vorzumachen, dass alles ... unter Kontrolle ist. Dass es nur etwas zwischen uns fünf ist. Dass wir darüber reden und diskutieren können – darüber streiten –, und dass Sie irgendwie einen Ausweg aus diese r... Situation finden werden. Aber das ist eine Lüge, Michael. Da draußen, in der realen Welt, laufen die Medien schon auf Hochtouren. Sie werden mit Sicherheit wissen, dass wir inzwischen zwei Leute in Gewahrsam haben, und wenn sie Ihren Namen noch nicht wissen, werden sie ihn morgen früh kennen. Wahrscheinlich überlegen sie sich schon, wie sie Sie in ihren Zeitungen nennen werden – Minderjährige Monster, Killerkinder – so etwas in der Art. Es ist real, Michael. Es passiert wirklich, und Sie können es nicht verhindern. Sie stecken mitten in einem Albtraum. Wenn Sie sich retten können – wenn Sie sich überhaupt retten können, dann ist jetzt der Moment dafür.“
Dolby kämpfte mit den Tränen und schaute an die Decke. „Ich ... ich kann nicht. Es tut mir leid.”
„Was meinen Sie, Sie können nicht?“, fragte Harvey.
Dolby versteifte sich plötzlich, als ob er sich gegen die Befragung wappnen wollte – entschlossen, nicht zusammenzubrechen. „Kein Kommentar.”
„Sie haben gesagt, Sie können es uns nicht sagen”, drängte Harvey ihn. „Wie haben Sie das gemeint?”
„Kein Kommentar”, antwortete Dolby, jetzt mit steinerner Miene. Emotionslos.
„Hat Paul etwa gesagt, dass Sie nicht reden sollen?“, fragte Harvey. „Hat er Ihnen gedroht?”
„Kein Kommentar.” Dolby schüttelte den Kopf.
„Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie sich nicht selbst helfen, Michael”, warnte Harvey ihn.
„Kein Kommentar.” Dolby blieb reglos.
„Um Gottes willen, Michael”, meldete sich seine Mutter zu Wort. „Wenn Paul dich gezwungen hat, etwas zu tun, wenn er dich gezwungen hat, es mit ihm zusammen zu tun, dann musst du es uns sagen!”
„Nein”, schnauzte er sie wütend an, bevor er sich wieder fasste. „Kein Kommentar.”
„Ich glaube, wir haben für heute Abend alle genug”, mischte sich Powell ein. „Es ist schon sehr spät, und Michael ist rechtlich gesehen noch ein Jugendlicher. Ich habe das Gefühl, dass er unangemessen unter Druck gesetzt wird, um auf sein Recht, Ihre Fragen nicht zu beantworten, zu verzichten. Er braucht jetzt seine acht Stunden gesetzliche Ruhe – wie sie ihm nach dem Police and Criminal Evidence Act zusteht.”
„Gut”, stimmte Harvey nach einer längeren Pause zu. „Gut. Ich beende dieses Gespräch, damit Michael etwas schlafen kann. Morgen wird er sicher weiter befragt werden.” Er beugte sich vor und schaltete das Band aus.
***
Es war schon in den frühen Morgenstunden, als Harvey die kurze Strecke durch den Korridor in Colindale zurücklegte und vor der offenen Tür von Richards’ Büro ankam. Er klopfte an den Türrahmen, so dass sie von den auf ihrem Schreibtisch ausgebreiteten Berichten aufschaute.
„Sie arbeiten zu lange, Chef”, sagte er zu ihr.
„Das tun wir beide”, antwortete sie. „Kommen Sie rein und nehmen Sie sich einen Stuhl.” Er nahm ihr Angebot an, setzte sich schwer – gähnte und rieb sich die Schläfen. Richards öffnete eine Schreibtischschublade und holte zwei Gläser und eine Flasche Scotch heraus. „Hier”, sagte sie, schenkte beiden ein Glas ein und schob eines über den Schreibtisch. „Es sollte nicht zur Gewohnheit werden, aber ich denke, wir beide können es gebrauchen.” Sie erhob ihr Glas. Harvey tat es ihr gleich. „Prost.”
„Auf gute Gesundheit.” Er erwiderte die Geste, bevor sie beide einen großen Schluck tranken.
Richards machte eine Kopfbewegung in Richtung des Fernsehers, der in der Ecke lief – leise, aber hörbar. Er war ein Nachrichtensender eingestellt, der rund um die Uhr über die Ermittlungen berichtete. Ein Korrespondent meldete sich live aus der Siedlung.
„Die Medien sind bereits voll davon”, beschwerte sie sich. „Sie raten wie wild, was bei den Ermittlungen passiert, stellen Vermutungen an, was dem Opfer zugestoßen ist, wer sie ist. Sie wissen bereits, dass wir zwei Personen in Gewahrsam haben, und stehen kurz davor, ihre Identität herauszufinden. Sobald das droht, werde ich eine einstweilige Verfügung gegen sie beantragen, um sie daran zu hindern, ihre Identitäten preiszugeben, aber das wird sie nur eine gewisse Zeit aufhalten. Sobald sie herausfinden, dass wir Kindermörder im Visier haben, werden sie völlig durchdrehen. Das könnte die größte Story des Jahres werden. Ich werde sie so lange wie möglich von Ihnen und dem Team fernhalten, aber ...” Sie öffnete die Arme.
„Das weiß ich zu schätzen.” Er nickte und hielt ihr sein Glas hin, dann trank er noch einen Schluck und genoss den kurzen Moment des Vergnügens an einem ansonsten albtraumhaften Tag.
„Also – was jetzt?” Richards beendete ihre Atempause. „Können Sie sich vorstellen, dass es die beiden Jungen waren?”
„Ja, das kann ich”, bestätigte er. „Beide haben im Interview keinen Kommentar abgegeben, obwohl ich das Gefühl hatte, dass sie gerne geredet hätten. Die Anwälte haben dafür gesorgt, dass das nicht passiert. Ich vermute, dass Anderson die ganze Sache Dolby in die Schuhe schieben will.”
„Und Dolby?”
„Ich bin mir nicht sicher”, gab er zu. „Er scheint ein Gefühl von ... Loyalität gegenüber Anderson zu haben. Irgendwie. Ich weiß es nicht. Ich bin mir nicht sicher.”
„Könnte er Angst vor ihm haben?”, fragte sie.
„Ich denke schon”, antwortete er, klang allerdings nicht überzeugt. „Wenn wir ein paar physische Beweise finden, werden ihre Anwälte sie vielleicht ermutigen, die Schuld zuerst auf den anderen zu schieben.”
„Aber was denken Sie?”, drängte sie ihn, denn sie wusste, dass er sich bereits seine eigenen Gedanken gemacht hatte. „Glauben Sie, wir haben hier nur einen Akteur und einen Beobachter? Oder könnten wir es mit einer echten gemeinschaftlichen Tat zu tun haben? Zwei Gauner, die sich zusammengetan haben? Das ist zwar selten, aber es wäre nicht das erste Mal.”
„Ich weiß es nicht, und ich möchte nicht raten”, erwiderte er. „Nicht in diesem Fall. Wenn wir mehr Beweise haben, werde ich sie ihnen vorlegen und sehen, was passiert – selbst wenn es nur die formale Identifizierung des Opfers ist. Eines ist sicher: Wir werden mehr brauchen als nur den Augenzeugenbericht eines zwölfjährigen Mädchens. Das reicht nicht einmal für einen Prozess.”
„Hm ...” Richards überlegte einen Moment lang. „Und die Identifizierung des Opfers – gibt es einen Termin dafür?”
„Der sollte morgen sein”, sagte er ihr. „Gleich morgens, wenn wir Glück haben.”
„Glück?”, sagte sie mit einem ironischen Lachen. „Das fühlt sich nicht nach Glück an.”
„Nein”, stimmte er zu und nippte an seinem Drink. „Wohl kaum.”
„Das ist eine schlimme Sache, Fraser”, fuhr sie nach einer langen Pause fort. „Wirklich verdammt schlimm.”
„Da kann ich nicht widersprechen”, antwortete er mit einem schweren Seufzer.
„Die Art von Fällen, die einen für immer begleiten”, fügte sie hinzu. „Er verfolgt dich deine ganze Karriere, dein ganzes Leben lang. So ein Fall kann einen runterziehen – einen zerstören, wenn man es zulässt – und von innen heraus verbrennen. Es ist ja nicht so, dass man nach Hause gehen und mit seinem Mann oder seiner Frau und seinen Kindern darüber plaudern kann. Mit solchen Fällen müssen wir einfach leben – sie mit ins Grab nehmen.”
Harvey wusste nicht, was er sagen sollte, also schwieg er. Plötzlich klingelte das Festnetztelefon auf dem Schreibtisch laut und durchbrach die Stille. Richards nahm den Hörer ab.
„DCI Richards.” Harvey beobachtete sie aufmerksam und versuchte zu erraten, worum es ging. „Ich höre.” Er lehnte sich näher heran, denn sein Instinkt sagte ihm, dass es sich um etwas Wichtiges handelte. „Was genau?” Wieder Stille. „Irgendetwas an der anderen Adresse?” Sie wartete auf die Antwort. „Okay. Ich verstehe. Wenn Sie noch etwas finden, lassen Sie es mich sofort wissen.” Langsam legte sie den Hörer auf und drehte sich ausdruckslos zu ihm um. „Das war die Spurensicherung. Sie haben den Rucksack gefunden, versteckt hinter der Badewannenverkleidung in Dolbys Haus. Er ist voller blutgetränkter Kleidung.”
„Gott sei Dank”, antwortete er und klang dabei sowohl erleichtert als auch aufgeregt.
„Da ist noch mehr”, sagte sie ihm. „Das Messer war ebenfalls im Rucksack.”
Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Irgendetwas bei Anderson?”
„Nein”, antwortete sie. „Ich vermute, Dolby hat ihm nicht zugetraut, es loszuwerden.”
Harvey runzelte die Stirn.
„Du siehst nicht gerade überglücklich aus”, sagte sie. „Gibt es ein Problem?”
„Es ist nur ... wenn er es Anderson nicht zutraute, es loszuwerden, warum hat er es dann nicht selbst weggeschafft?”, fragte er. „Warum hat er es mit nach Hause genommen?”
„Weil er noch jung ist?”, schlug sie vor. „Ein junger Killer, der sein Handwerk noch lernt? Junge Kriminelle, sogar Mörder, machen dumme Fehler. Man sollte nicht zu viel darüber nachdenken. Das Wichtigste ist, dass wir die Beweise haben, die wir brauchen.”
„So ist das wohl”, stimmte er seufzend zu.
Richards hob ihr Glas. „Auf ein schnelles Ergebnis und die Chance, weiterzuziehen.”
Harvey erwiderte die Geste, konnte aber den besorgten Ausdruck auf seinem Gesicht nicht verbergen. „Auf ein schnelles Ergebnis”, wiederholte er, auch wenn sein Instinkt ihm sagte, dass es alles andere als schnell gehen und ein Weiterziehen so gut wie unmöglich sein würde.