Einundfünfzigstes Kapitel

Finch stand in seinem Büro und unterhielt sich gerade mit einem Detective aus seinem Team, als Inspector Warren hereinkam und sich räusperte. Als der Detective erkannte, wer da hinter ihm stand, begriff er den Wink und ging zur Tür.

„Ich komme später wieder”, sagte er zu Finch und nickte Warren kurz zu, dann ging er. Warren nahm unaufgefordert Platz.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte Finch.

„Ich hab gehört, dass Sie eine neue Mordermittlung begonnen haben”, sagte Warren und klang dabei unangenehm selbstgefällig.

„Dann haben Sie richtig gehört”, antwortete Finch und biss sich auf die Zunge.

„Irgendetwas Interessantes?“, fragte Warren neugierig.

„Nicht wirklich”, log er, in der Hoffnung, ihn so schnell wie möglich loszuwerden.

„Schade.” Warren zuckte mit den Schultern, bevor er unfreundlich lächelte. „Und, wie geht es Jameson?”, wechselte er das Thema. „Ich hab ihn in letzter Zeit kaum noch zu Gesicht bekommen.”

„Wirklich?“, fragte Finch und tat so, als sei er verwirrt. „Ich dachte, Sie hätten ihn gerade erst zu einer Befragung geladen?”

„Zu einem informellen Gespräch”, korrigierte Warren ihn. „Keine Befragung.”

„Dann haben Sie ihn doch gesehen?” Er genoss den Ausdruck auf Warrens Gesicht, als der seinen Fehler bemerkte. „Aber abgesehen davon, nein, er ist nicht oft hier gewesen.”

„Gibt es einen Grund dafür?” Warren grub weiter.

„Er hat einen Spezialauftrag”, sagte Finch. „Need-to-know-Prinzip.”

„Klingt wichtig”, meinte Warren neidisch.

„Ja, das ist es”, bestätigte er.

„Das ist kaum die Art von Officer, die ich für einen wichtigen Auftrag auswählen würde”, stichelte Warren.

Finch setzte sich hin, dann sah er ihm in die Augen. „Aber ich bin nicht Sie – nicht wahr?”

„Ich weiß Ihre Loyalität gegenüber einem Ihrer Beamten zu schätzen”, erwiderte Warren frustriert, „aber ich glaube, bei Jameson ist sie fehl am Platz. Der Mann ist ein Problem. Wir beide wissen das. Wenn das, was in Großbritannien passiert ist, ihn nicht erledigt hat, dann wird es seine neueste Aktion tun.”

„Ruben ist ein guter Polizist”, sagte Finch. „Wir haben Glück, dass wir ihn haben.”

„Da bin ich anderer Meinung”, blaffte Warren zurück. „Er ist gefährlich und rücksichtslos. Die Polizeiarbeit hat sich verändert, Finch. Es gibt keinen Platz mehr für Cowboys wie Jameson. Sie sind ... überholt. Jameson ist ein Dinosaurier – das Aussterben überfällig.” Er stand auf und ging zur Tür, doch als er sie erreichte, blieb er stehen und drehte sich um. „Seien Sie vorsichtig, Finch. Leute wie Jameson haben die unangenehme Angewohnheit, andere mit in den Abgrund zu reißen. Glauben Sie mir. Ich weiß es.” Er verließ das Büro, bevor Finch etwas erwidern konnte. Kaum war er weg, erschien Jones in der Tür.

„Was hast du, Jonesie?”, fragte er sofort.

„Wir haben auf den Überwachungsbändern des Hotels nach dem Verdächtigen gesucht, Boss”, erklärte Jones.

„Und?”, drängte Finch ungeduldig.

„Es ist seltsam, Boss.” Jones schüttelte den Kopf. „Wir haben Aufnahmen gefunden, auf denen er ankommt, aber keine, auf denen er geht. Nichts.”

„Könnte er sich durch eine Seitentür hinausgeschlichen haben?”, fragte er.

„Die sind alle videoüberwacht”, sagte Jones. „Wir haben sie überprüft. Nichts.”

„Er kommt, aber er geht nicht”, sagte Finch, stand auf und begann, in seinem Büro hin und her zu laufen. „Und doch ist er nicht da.”

„Ich weiß es nicht, Boss”, gab Jones zu.

Finch schüttelte leicht verwirrt den Kopf. „Dann ist er auf eine andere Weise entkommen”, schloss er. „Etwas, woran wir noch nicht gedacht haben.” Er ging schnell zu seinem Schreibtisch zurück und setzte sich, um sich wieder den Berichten auf seinem Schreibtisch zu widmen. „Okay. Bleib dran, Jonesie, und mach die Tür hinter dir zu, ja?” Jones nickte und schloss dann wie angewiesen die Tür hinter sich.

Finch nahm den ersten von vielen Berichten in die Hand, ließ ihn aber sofort wieder fallen, griff stattdessen nach dem Telefon auf seinem Schreibtisch und wählte Jamesons Nummer. „Verdammt”, stöhnte er, als er dem Klingelton lauschte und auf eine Antwort wartete, während er grübelte, was Jameson bloß getan hatte, um seinen Schutz zu benötigen.

„Harry”, antwortete Jameson schließlich.

„Ich dachte, du solltest wissen, dass ich gerade Besuch von deinem Freund Inspektor Warren bekommen habe”, sagte er ihm.

„Oh ja”, sagte Jameson und klang sofort misstrauisch. „Und was wollte diese verdammte Schlange?”

„Deinen Kopf”, warnte er ihn. „Auf einem Silbertablett.”

„Scheiß auf Warren”, sagte Jameson abwehrend. „Er kann mir nichts anhaben.”

„Warren ist gefährlich, Ruben”, sagte er. „Bist du dir sicher, dass dieser Informant in Ordnung ist?”

„Es ist alles in Ordnung”, beruhigte Jameson ihn. „Vertrau mir.”

Er ließ sich tief in seinen Stuhl sinken, die Stirn voller Sorgenfalten. „Wenn du das sagst.”

„Es ist so”, beharrte Jameson und wechselte dann das Thema. „Wie sieht es bei der Ermittlung aus? Seid ihr unserem gesuchten Mann schon näher gekommen?”

„Er ist ein interessanter Mann, unser Mann”, sinnierte er.

„Und weiter”, ermutigte Jameson ihn.

„Wir haben Videoaufnahmen von seiner Ankunft in seinem letzten Hotel”, erklärte er, „aber keine von seiner Abreise, obwohl alle Ausgänge mit Kameras ausgestattet sind. Er scheint sich für die Überwachungskameras unsichtbar gemacht zu haben.” Es herrschte einige Sekunden lang Schweigen, während er Jameson Zeit gab, seinen eigenen Gedankengang zu entwickeln.

„Dann ... dann müssen wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass er sowohl sein Aussehen als auch seine Identität geändert hat”, sagte Jameson schließlich zu ihm.

„Das wäre sehr ungewöhnlich.” Er seufzte. „Und etwas, das er in kürzester Zeit geschafft hat. Etwas, auf das er bereits vorbereitet war.”

„Das passt dazu, dass er mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung steht”, schloss Jameson. „Das habe ich direkt vermutet – und bisher noch nichts gehört, was mich von meiner Meinung abbringen könnte.

„Oder mit den Geheimdiensten?” schlug Finch als Alternative vor. „Das Opfer kam ihm bei etwas in die Quere, also hat er es beseitigt?”

„Nein”, wies Jameson die Theorie zurück. „Wenn es der Geheimdienst wäre, hätten sie ihn schon längst abgezogen. Glaub mir, ich weiß es. Sie würden ihn nicht in Auckland herumlaufen lassen. Wahrscheinlich hätten sie auch die Leiche entsorgt.”

„Organisiertes Verbrechen also”, hielt er fest und entschied sich für die einzige realistische Möglichkeit.

„Das würde ich vermuten”, stimmte Jameson zu. „Ein Australier, der für einen ganz bestimmten Auftrag hergebracht wurde.”

„Und Kimberly Hutchinson?”, fragte er.

„Wie wir vermutet haben.” Jameson zuckte mit den Schultern. „Kollateralschaden. Falscher Ort – falsche Zeit. Sie hat etwas entdeckt, das ihren Tod bedeutete.”

„Und selbst nach seinem ... Fehler gerät er nicht in Panik und rennt davon, sondern bleibt in der Stadt”, sagte Finch und ging alles durch. „Warum?”

„Weil er immer noch die Absicht hat, den Auftrag auszuführen, für den er hergebracht oder hergeschickt wurde”, antwortete Jameson. „Er ist ein Profi. Er will nicht, dass sein Ruf beschädigt wird, weil er die Arbeit nicht zu Ende gebracht hat.”

Finch atmete tief ein. „Die Frage ist also, welchen Auftrag er hier hat?”, fragte er, bevor er das sagte, was sie beide vermuteten. „Denkst du, was ich denke?”

„Wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen”, sagte Jameson mit einem Seufzer. „Dolby könnte sein Ziel sein. Der Anschlag in Kanada war das Werk von jemandem, der genau wusste, was er tat, und jetzt haben wir irgendwo in Auckland einen Profikiller. Falls er noch hier ist, und ich bin mir sicher, dass ist er.“

„Das hat mir gerade noch gefehlt”, stöhnte Finch und rutschte noch tiefer in seinen Stuhl. „Bleib dicht an Dolby, während ich versuche, Verstärkung für seinen Schutz zu bekommen”, befahl er. „Vielleicht sogar ein paar Scharfschützen und Aufklärer im Busch rund um die Farm. Aber das wird dauern. Der Commander wird sich nicht so leicht überzeugen lassen.”

„Wenn du glaubst, dass du die bekommen kannst”, sagte Jameson.

„Ich kann es versuchen”, antwortete er. „Hör mal – ich möchte, dass du und Millsie die Nachtschicht übernehmen.”

„Ernsthaft?”, erwiderte Jameson und klang äußerst unglücklich. „Ich muss die ganze Nacht mit diesem Tier verbringen?”

„Dolby ist in der Nacht am verwundbarsten”, erklärte Finch. „Ich würde mich besser fühlen, wenn ich weiß, dass du und Millsie alles im Griff habt.”

Es herrschte eine lange Stille, bevor er antwortete. „Gut”, stimmte er zögernd zu. „Aber du schuldest mir was.”

„Sorg einfach dafür, dass Dolby am Leben bleibt, Ruben”, sagte Finch zu ihm. „Zum Wohle aller. Ich sage Bescheid, wenn ich die Verstärkung organisiert habe.”

„Ich warte”, antwortete Jameson.

Finch legte auf, ohne noch etwas zu sagen, dann nahm er ein Foto von Kimberly Hutchinson von seinem Schreibtisch. „Zur falschen Zeit am falschen Ort”, murmelte er traurig. „Aber ich werde ihn finden”, versprach er ihr flüsternd und dachte dabei an Dolby. „Wie eine Motte, die vom Licht angezogen wird.”

***

O’Doherty stand vor seinem Wohnmobil und sah in Shorts und T-Shirt aus wie jeder andere Camper, während er sich auf einem kleinen Grill etwas zu essen machte und ein Bier trank. Er wusste, dass der beste Platz zum Verstecken oft der ist, an dem man sich in der Öffentlichkeit unsichtbar machen konnte. Hätte er sich in seinem Wohnmobil eingeschlossen, hätten die Leute vielleicht Verdacht geschöpft oder wären zumindest neugierig geworden. Es war viel besser, ein Chamäleon zu sein und mit seiner Umgebung zu verschmelzen.

Er blickte von seinem Kochgeschirr auf und bemerkte eine hübsche junge Frau, die vor einem der anderen Wohnmobile saß und mit einem koketten Lächeln auf den Lippen zu ihm hinüberschaute, bevor sie sich abwandte und in das Lachen der kleinen Gruppe einstimmte, zu der sie gehörte. Doch schon nach wenigen Sekunden blickte sie wieder zu ihm. Diesmal erwiderte er ihr Lächeln, dann erinnerte er sich daran, warum er hier war, und wandte den Blick ab. Dabei blitzten Bilder von Kimberly in seinem Kopf auf – vom Sex mit ihr, der sich mit Erinnerungen vermischte, wie er sie im Todesgriff hielt und das Leben aus ihr wich. Doch aus irgendeinem Grund konnte er nicht widerstehen, sich umzudrehen und wieder zu lächeln – so wie es jeder andere Mann auf einer Reise tun würde, wenn ihm eine hübsche Frau Aufmerksamkeit schenkte. Sie lächelte zurück, stand dann nach ein paar Sekunden auf und kam auf ihn zu.

***

Jameson und Mills saßen am Küchentisch, während Dolby am Herd eine Kanne Kaffee zubereitete – der Duft der frisch gemahlenen Bohnen stand in krassem Gegensatz zu der frostigen Atmosphäre im Raum. Mit der Kanne in der Hand drehte Dolby sich zu den Detectives um und hielt ihnen den Kaffee vor die Nase.

„Möchte jemand noch Kaffee?”, fragte er fröhlich.

„Ja”, sagte Jameson und versuchte, die Nachtschicht so erträglich wie möglich zu gestalten. „Warum nicht? Ich werde sowieso die ganze Nacht hier sein.”

„Ich habe langsam das Gefühl, dass jemand Sie nicht leiden kann”, sagte Dolby, während er dem sarkastisch lächelnden Jameson die Tasse füllte, dann wandte er sich an Mills. „Detective Mills?”

„Nein danke”, sagte sie kopfschüttelnd und drehte sich zu Jameson um. „Macht es dir etwas aus, wenn ich mich für ein paar Stunden hinlege?”, fragte sie. „Ein paar Stunden Schlaf und ich bin für den Rest der Nacht wieder fit.”

„Okay”, stimmte er zu, nachdem er kurz darüber nachgedacht hatte, sah aber nicht zufrieden aus. „Ich rufe dich dann nachher.”

„Danke”, sagte sie zu ihm und stand auf. „Ich schulde dir was.” Sie machte sich auf den Weg ins Gästezimmer und ließ Jameson mit Dolby allein, der sich langsam setzte. Beide Männer schienen darauf zu warten, dass Mills die Schlafzimmertür schloss, bevor sie etwas sagten. Dann sprach Dolby zuerst.

„Nun”, begann Dolby zögerlich. „Da wären wir.”

„Hier sitzen wir”, antwortete Jameson ohne großes Interesse.

„Unser altes Leben in London ist eine halbe Welt und ein ganzes Leben entfernt”, fuhr Dolby fort.

„Ist wohl so”, antwortete Jameson zögernd.

„Da fragt man sich doch, wie wir hier gelandet sind”, beharrte Dolby. „Ausgerechnet in einem Kuhkaff mitten in Neuseeland.”

„Nun.” Jameson beugte sich näher zu ihm. „Sie sind hier, weil Sie ein vierzehnjähriges Mädchen ermordet haben.”

Dolby spannte sich eine Sekunde lang an, dann antwortete er: „Für dieses Verbrechen wurde ich verurteilt ”, gab er zu.

„Leugnen es aber immer noch”, meinte Jameson.

„Das spielt keine Rolle mehr.” Dolby zuckte mit den Schultern. „Aber ja. Deshalb bin ich jetzt hier. Ich hatte keine andere Wahl. Aber Sie?”

„Das geht Sie nichts an”, sagte Jameson warnend.

„Es scheint halt ein seltsamer Schritt für einen Detective zu sein”, erwiderte Dolby. „Das berühmte New Scotland Yard zu verlassen, um hier in Neuseeland zu arbeiten.”

„Hören Sie zu”, knurrte Jameson. „Ich weiß, was Sie mit ihr gemacht haben. Sie denken, ich würde Sie plötzlich wie einen normalen Menschen behandeln. Ich weiß aber, was Sie sind.”

„Ich weiß, dass Sie über den Fall informiert sind”, erinnerte Dolby ihn. „Sie hatten gesagt, Sie hätten die Akten gelesen.”

„Nein”, sagte Jameson. „Ich habe die Akten nicht nur gelesen. Ich war an dem Fall beteiligt. An der ursprünglichen Ermittlung.”

„Das haben Sie mir bisher nicht gesagt.” Dolby klang besorgt.

„Ich muss Ihnen gar nichts sagen”, erwiderte Jameson. „Es sei denn, ich will, dass Sie es wissen.”

„Und jetzt wollen Sie, dass ich es weiß?“, fragte Dolby.

Es herrschte einige Sekunden lang Schweigen, dann beschloss Jameson, es zu erklären. „Ich war ziemlich neu bei der Kripo. Ich war gerade zur Zivilpolizei gewechselt und arbeitete bei der Kriminalpolizei in Kilburn. Hauptsächlich Straßenkram – Verfolgung von Drogendealern, Straßenräubern und so weiter. Als Abigails Leiche gefunden wurde, wusste das Morddezernat, dass es eine große Ermittlung werden würde. Sie brauchten zusätzliche Kräfte, also meldete ich mich freiwillig. Ich war nur am Rande an den Ermittlungen beteiligt – kein wichtiger Akteur –, aber ich wusste, was mit ihr geschehen ist. Viel genauer, als wenn ich nicht an den Ermittlungen beteiligt gewesen wäre, und ich wusste, dass derjenige, der sie getötet hatte, eine Art Monster sein musste oder halt völlig verrückt.”

„Sehe ich etwa so aus?”, unterbrach Dolby.

„Verrückt? Nein”, antwortete Jameson. „Und ob jemand ein Monster ist, ist nicht immer leicht zu erkennen.”

„Aber Ihr polizeilicher Instinkt”, beharrte Dolby. „Was sagt der Ihnen?”

„Nun”, sagte Jameson zu ihm. „Ich verspreche Ihnen eines. Bevor das alles vorbei ist, werden Sie so oder so erfahren, was ich denke.”

Es herrschte eine lange Stille. „Also”, brach Dolby sie schließlich, „wer ist es?”

„Wer ist was?“, fragte Jameson und blieb dabei höflich, wenn auch nicht freundlich.

„Wer gibt Ihnen die Jobs, die niemand machen will?”, erklärte er.

„Sagen wir einfach, ich habe in letzter Zeit ein paar Leute verärgert”, antwortete Jameson mit einem müden Seufzer.

„Wie zum Beispiel?”, versuchte Dolby sein Glück.

„Darüber kann ich nicht mit Ihnen sprechen”, sagte Jameson barsch.

„In Ordnung.” Dolby nickte, stand vom Tisch auf und ging zu einem Schrank, aus dem er eine Flasche Scotch und zwei Gläser nahm, dann kehrte er an den Tisch zurück und setzte sich. „Den habe ich für einen besonderen Anlass aufbewahrt.”

„Ist das ein besonderer Anlass?“, fragte Jameson.

„So besonders, wie er für mich nur sein kann.” Dolby lächelte. „Es wäre furchtbar, morgen zu sterben, ohne den mit jemandem geteilt zu haben.”

„Sie werden morgen nicht sterben”, versicherte Jameson ihm, ohne Mitleid zu zeigen oder auch nur interessiert zu klingen.

„Sind Sie sich da sicher?“, fragte Dolby. Jameson schaute ihm in die Augen, antwortete aber nicht. „Dachte ich mir”, sagte er, während er großzügig ein Glas einschenkte und es ihm entgegenschob, dann goss er sich selbst eine ordentliche Menge ein und erhob sein Glas. „Prost.”

Jameson nahm widerstrebend das Glas und erhob es, wenn auch nicht so hoch wie Dolby. Er hatte nicht die Absicht, mit ihm anzustoßen. Er brachte ein „Prost” heraus, dann tranken beide einen langen Schluck aus ihren Gläsern und verfielen in Schweigen, bis Dolby schließlich den Frieden brach.

„Sind Sie sauer, bestraft zu werden für was auch immer Sie angeblich getan haben?“, fragte Dolby.

„Wer sagt, dass ich etwas getan habe?”, entgegnete Jameson.

„Ich habe lange Zeit im Gefängnis verbracht, Detective”, erinnerte Dolby ihn. „Ich habe diesen Blick schon tausendmal gesehen – den Blick der Ungerechtigkeit. Nach einer Weile sind selbst die Schuldigen davon überzeugt, dass sie unschuldig sind oder dass es nicht ihre Schuld war.”

„Sie meinen, so wie Sie?”, fragte Jameson hämisch.

Dolby brauchte ein paar Sekunden, um seine Antwort zu formulieren. „Ich bin anders als Sie”, begann er. „Ich weiß, dass ich das Verbrechen nicht begangen habe, aber ich ärgere mich trotzdem nicht über meine Strafe. Ich habe sie verdient.”

„Wenn Sie es nicht getan haben, wie können Sie dann nicht sauer sein, dafür bestraft zu werden?”

„Es ist kompliziert.” Dolby seufzte. „Und wir beide kennen meine ziemlich traurige, erbärmliche Geschichte. Ich hingegen weiß nichts über Sie.”

„So soll es auch sein”, erinnerte er ihn. „So mag ich es.”

„Wenn Sie sich Sorgen machen, dass ich es jemandem erzähle, kann ich Ihnen versichern, dass ich niemanden kenne, dem ich es erzählen könnte, und die Nacht ist noch so jung”, versuchte Dolby, ihn zum Reden zu bringen.

„Trotzdem”, sagte Jameson. „Ich will lieber nicht reden.”

„Schon klar”, erwiderte Dolby verständnisvoll. „Über unsere Fehler zu sprechen, kann an dunkle Orte führen. Es erfordert eine Menge Mut, diese Türen zu öffnen.”

Wieder herrschte Schweigen, bevor Jameson plötzlich hektisch zu sprechen begann, so als wollte er die Worte schnell herausbringen, bevor sein Verstand ihn stoppte. „Angeblich habe ich einen Fehler gemacht, wodurch auf einen Kollegen geschossen wurde”, gestand er, immer noch unsicher, warum er Dolby sein schwärzestes Geheimnis erzählte.

„Ist er gestorben?“, fragte Dolby sofort.

Er holte tief Luft. „Ja.”

„Ich verstehe”, sagte Dolby. „Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, aber ich habe gehört, wie Ihre Kollegen darüber gesprochen haben – nicht Detective Mills, aber die anderen. Nur das eine oder andere Wort, hier und da. Sie scheinen zu glauben, dass es Ihre Schuld war.”

„Da kann man nichts machen.” Er zuckte mit den Schultern. „Es hat sowieso nichts mit ihnen zu tun. Es ist damals in London passiert.”

„Wo sich unser beider ... Unglück ereignete”, erinnerte Dolby ihn. „War es das? War es Ihre Schuld?”

„Warum interessiert Sie das so?” Jameson machte dicht. „Es hat nichts mit Ihnen zu tun.” Er nahm einen Schluck aus seinem Glas, die Augen starr auf Dolby gerichtet.

„Mein Leben liegt in Ihren Händen”, erwiderte Dolby. „Ich verdiene es doch zu wissen, ob man Ihnen trauen kann?”

„Machen Sie sich keine Sorgen um mich.” Er starrte ihn finster an. „Sorgen Sie sich lieber um sich selbst.”

„Tut mir leid.” Dolby lächelte leicht. „Ich wollte mich nicht aufdrängen. Ich dachte nur, es könnte helfen, wenn Sie darüber reden. Im Gefängnis war ich nie in der Lage, ehrlich über das zu sprechen, was passiert ist. Mein Anwalt hat mir klargemacht, dass ich wahrscheinlich nie wieder rauskommen würde, wenn ich weiterhin meine Unschuld beteuern würde. Wenn man so etwas so lange mit sich herumträgt, kann es einen innerlich fertigmachen. Wenn man unschuldig ist, ist es besser, die Ungerechtigkeit zu akzeptieren und weiterzumachen. Wenn man schuldig ist, ist es besser, damit und mit sich selbst Frieden zu schließen. Wenn man das nicht tust, wird es einen zerstören.”

„Es gibt nichts, womit ich Frieden schließen müsste”, betonte Jameson.

„Wenn Sie das sagen”, erwiderte Dolby und trank noch einen Schluck.

Es herrschte eine lange, unangenehme Stille, bevor Jameson wieder sprach. „Der Detective, der erschossen wurde, war ein Freund von mir”, gestand er. „Sein Name war Jim Clark.”

„Das tut mir leid”, sagte Dolby mit trauriger Stimme.

„Ja”, antwortete er, bevor er sein Glas leerte. „Mir auch.”

***

O’Doherty setzte sich im Bett auf und sah ein bisschen verlegen aus, wohingegen die hübsche junge Frau, die sich neben ihm aufrichtete, glücklich und entspannt wirkte. Ihre Kleidung war im Inneren des Wohnmobils verstreut.

„Alles okay?”, fragte sie. „Du siehst ein bisschen angespannt aus.”

„Ja”, log er. „Klar. Mir geht’s gut.”

„Vor ein paar Minuten ging es dir noch sehr gut.” Sie lächelte ihn neckisch an. Er schaffte es, ihr Lächeln zu erwidern, sah aber weiterhin nervös und verlegen aus. „Soll ich lieber gehen?”

„Das habe ich nicht gesagt”, antwortete er.

„Nein, das hast du nicht”, stimmte sie zu. „Aber manche Männer halten sich bei solchen Dingen gerne kurz. Für mich ist das in Ordnung. Ich kann gehen, wenn du willst.”

„Nein”, sagte er und streckte die Hand aus, um sie zu berühren. „Ich möchte, dass du bleibst. Es ist nur so, dass ich schon sehr lange allein bin. Länger als ich mich erinnern kann. Ich denke, ich bin einfach nicht mehr an Gesellschaft gewöhnt.”

„Bist du dir sicher?”, erkundigte sie sich.

„Sicher bin ich mir sicher”, sagte er und lächelte sie an.

„Na dann”, meinte sie und streckte ihre Hände aus, um sein Gesicht zu umfassen. „Wenn das so ist.” Sie rutschte auf seinen Schoß und begann, seinen Hals zu küssen, immer höher, und küsste ihn schließlich auf die Lippen. Alle Gedanken an Dolby verschwanden in der Umarmung, aber so sehr er sich auch bemühte, konnte er nicht verhindern, dass ihr Mund auf seinem und die Wärme ihres Atems ihn an Kimberly erinnerten. Er fragte sich, ob er jemals wieder mit einer anderen Frau zusammen sein könnte, ohne an sie zu denken.

***

„Machen Sie sich Vorwürfe für das, was passiert ist?“, fragte Dolby, als sie in seiner schwach beleuchteten Küche saßen – vor jedem ein Glas, die Flasche Scotch in der Mitte.

„Ich hätte es besser machen können”, antwortete Jameson und nahm einen Schluck Whisky, um den schlechten Geschmack der Beichte aus seinem Mund zu waschen.

„Wie?” Dolby stellte die offensichtliche Frage, aber sie reichte aus, so dass Jameson sich erneut anspannte.

„Warum interessieren Sie sich so sehr für mich?”, fragte er voller Misstrauen. „Warum wollen Sie so viel über mich wissen? Immer stellen Sie Fragen.”

„Es tut mir leid”, sagte Dolby. „Es ist halt lange her, dass ich mit jemandem geredet habe ... ich meine, richtig geredet. Wenn es Ihnen unangenehm ist ... Wenn ich Ihnen Angst mache...”

„Ich habe keine Angst vor Ihnen”, unterbrach er schnell.

„Nein”, korrigierte sich Dolby. „Nein, natürlich nicht. Das habe ich nicht gemeint.”

„Was haben Sie dann gemeint?”, wollte Jameson wissen.

„Manchmal ist es einfacher, mit einem Fremden zu sprechen als mit jemandem, den man kennt”, erklärte Dolby. „Ich werde Sie wohl kaum verurteilen, während andere das vielleicht tun würden.”

Er betrachtete den Mann vor ihm. Den Mann, von dem er wusste, dass er wegen eines schrecklichen Verbrechens verurteilt worden war. Aber er war eben tatsächlich auch ein Mann, der ihn nicht verurteilen oder auch nur jemand anderem weitererzählen konnte, was er ihm sagte. Er würde dadurch riskieren, enttarnt zu werden und sein friedliches Leben auf seiner Farm zu verlieren, sobald die unmittelbare Bedrohung durch den Profikiller vorüber war.

„Wir standen kurz vor dem Ende einer langen und schwierigen Operation”, erklärte Jameson. „Es gab die glaubwürdige Information, dass eine terroristische Zelle Anschläge in London plante. Ich war damals in der Anti-Terror-Einheit.” Er trank einen Schluck Whisky. „Wir überprüften eine Adresse, die mit dem Hauptverdächtigen in Verbindung stand, aber das restliche Team war wegen eines Hinweises woanders hingefahren. Doch dann bekam die Zielperson einen Tipp wegen uns und tauchte an der Adresse auf, die Jim und ich beschatteten.” Er holte tief Luft. „Ich ... ich habe Jim davon überzeugt, dass wir ihn allein ausschalten können – damit wir ihn nicht wieder verlieren. Wir probierten es mit einem alten Trick, damit er die Tür öffnete, aber noch bevor wir irgendwas tun konnten, riss die Zielperson die Tür auf und schoss Jim in den Kopf. Er war auf der Stelle tot.”

„Und der Mann, der ihn erschossen hat?”, fragte Dolby.

„Tot”, sagte er kalt. „Erschossen.”

„Von Ihnen?”, erkundigte sich Dolby vorsichtig.

„Ja”, antwortete er, ohne jegliche Regung.

„Ah.” Dolby nickte wissend. „Sie haben ihn also getötet?”

„Ich habe nur meine Pflicht getan”, erwiderte er. „Das ist etwas anderes.”

„Sie meinen, anders als bei mir?“, fragte Dolby.

„Ja”, sagte er scharf. „Sie haben verdammt recht, dass es etwas anderes ist als das, was Sie getan haben. Sie haben ein junges Mädchen vergewaltigt und ermordet.”

„Oder zumindest wird mir das vorgeworfen”, protestierte Dolby.

„Wir haben das bereits besprochen”, sagte er. „Sie wurden angeklagt und verurteilt.”

„Und das reicht Ihnen?“, fragte Dolby. „Obwohl es keine DNA-Beweise gegen mich gibt?”

„Sie sagten, Sie hätten gelernt, Ihre Strafe zu akzeptieren”, erwiderte er und benutzte Dolbys eigene Worte gegen ihn, während er gegen seine aufsteigende Wut ankämpfte. „Warum lernen Sie dann nicht auch, Ihre Schuld zu akzeptieren?”

„Schuld. Bestrafung”, wiederholte Dolby. „Das sind nur Worte. Sie kommen mir nicht wie ein naiver Mann vor, Detective. Entscheidungen im Gerichtssaal sind nicht die reale Welt. Bin ich schuldig? Ja. Ich bin es, aber nicht der Vergewaltigung und des Mordes.” Er schloss für ein paar Sekunden die Augen, als würde er sich in die Zeit des Verbrechens zurückversetzen, dann öffnete er sie erschrocken und starrte Jameson fast ausdruckslos an.

„Ich bin schuldig, ihn nicht aufgehalten zu haben”, gab er zu. „Ich hätte es tun sollen, aber ich war ein Feigling. Ich hatte Angst vor ihm. Also habe ich gar nichts getan, und dafür akzeptiere ich jede Strafe, die man mir auferlegt – sogar den Tod. Mein Gott, das wäre fast eine Erleichterung. Jeder Tag und jede Nacht bedeutet nur noch mehr Folter. Ihr Gesicht – was er ihr angetan hat – der Prozess – das Gefängnis. Ein Albtraum, der niemals endet. Einer, in dem einem niemand zuhört.” Er rieb sich die Schläfen, als bekäme er Kopfschmerzen. „Die Öffentlichkeit hatte ihre Monster, und sie wollten uns eingesperrt oder getötet sehen. Als ihr Freund leugnete, Sex mit ihr gehabt zu haben, war ich tot und begraben. Soweit es die Öffentlichkeit betraf, waren Anderson und ich gleich.”

„Und jetzt ist er tot, und Sie sind immer noch hier”, sagte Jameson ohne jede Spur von Mitgefühl. „Frei, sich ein neues Leben aufzubauen – mit mindestens zwei Regierungen, die bereit sind, für Sie zu lügen.”

„Wirklich?“, fragte Dolby. „Sie glauben, ich bin hier, um mir ein neues Leben aufzubauen? Glauben Sie, ich habe vor, jemanden kennenzulernen und eine Familie zu gründen? Sie wissen, dass das für mich unmöglich ist. Ich will es nicht. Mein ganzes Familienleben müsste auf Lügen beruhen. Welcher Mensch würde bei mir bleiben, wenn er die Wahrheit wüsste?” Einen Moment lang herrschte Schweigen, während Dolby die Gläser nachfüllte. „Das ist das, was ich am meisten vermisse, wissen Sie.”

„Was?”, fragte er, obwohl er es gar nicht wollte.

„Geliebt zu werden.” Dolbys Antwort überraschte ihn. „Die Hoffnung, jemals geliebt zu werden. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie einsam und trostlos sich das anfühlen kann, bis es einem selbst passiert. Was haben Sie – eine Tochter? Eine Frau?”

„Keine Frau”, antwortete er scharf. „Nicht mehr.”

„Geschieden?” Dolby war neugierig.

„Nein”, antwortete er und trank noch einen Schluck. „Tot.”

„Das tut mir leid”, sagte Dolby und blickte kurz auf den Tisch, um Jamesons Blick auszuweichen. „Aber Sie haben Ihre Tochter und andere, die Sie lieben”, fuhr er fort. „Ich? Ich habe niemanden. Nachdem ich verurteilt wurde, habe ich alle verloren – sogar meine Eltern, meine Geschwister. Ich war kaum mehr als ein Kind, mir selbst und einer Jugendstrafanstalt überlassen. Ich hatte nie über Liebe nachgedacht, bis sie mir vollkommen genommen wurde, aber Anderson – er sprach die ganze Zeit darüber. Er war wie besessen davon. Wer geliebt wurde, wie er glaubte. Wer nicht geliebt wurde. Er begehrte die Liebe, und schien sie doch auch zu verachten.”

„Das verstehe ich nicht.” Jameson schüttelte fasziniert den Kopf.

„Nach dem ... Mord”, erklärte Dolby, „bevor wir gefasst wurden, sprach er mit mir über Abigail. Ich habe versucht, ihn aufzuhalten – wegzulaufen, aber er hat es nicht zugelassen. Er sagte mir, dass es nötig war, sie zu töten, weil er wusste, dass sie geliebt wurde – von ihren Freunden und ihrer Familie –, und dass es ihm Macht verlieh, sie ihnen auf diese Weise zu nehmen. Als würde er ihnen das Leben genauso nehmen wie ihr. Er sagte, dass er sich dadurch wie ein Gott fühlte. Er hat sie ausgewählt, weil sie so vielen so viel bedeutete.” Er sackte in seinem Stuhl zusammen, als ob es ihn erschöpfte, sich das, was Anderson vor so vielen Jahren gesagt hatte, in Erinnerung zu rufen.

„Wenn Sie so unterschiedlich waren, warum sind Sie dann überhaupt Freunde geworden?“, fragte Jameson und hatte jetzt, da er die Fragen stellte, eher das Gefühl, alles zu kontrollieren.

„Ich denke zu Anfang, weil er mir leidtat”, sagte Dolby und lächelte etwas, als erinnere er sich an etwas Glückliches und zugleich Trauriges. „Wegen der Dinge in seinem Leben und wegen allem, was er in seinem Leben nicht hatte und was ihn später zu dem machten, der er war. Sein Vater war ein Trinker, der ihn schlug, bevor er ihn schließlich verließ, als er etwa sieben Jahre alt war. Seine Mutter zeigte ihm kaum Zuneigung oder so etwas wie Liebe.” Er schüttelte den Kopf, während er Andersons bedauernswerte Kindheit beschrieb. „Als wir jünger waren, wurde er von den anderen Kindern ausgeschlossen und verspottet. Mehr als einmal wurde er schwer verprügelt. Schließlich tat seine Mutter das Unvermeidliche und übergab ihn dem Jugendamt mit der Begründung, sie würde nicht mehr mit ihm fertig. Sie brachten ihn bei einer Pflegefamilie unter, aber der Mann dort begann schon bald, ihn zu missbrauchen, und ich glaube, das war der Moment, in dem er sich für immer veränderte – der endgültige Missbrauch durch diejenigen, denen er eigentlich vertrauen sollte, brachte ihn um den Verstand. Man kann ihm nicht wirklich vorwerfen, dass er diejenigen hasste, die geliebt wurden, wenn er selbst so wenig hatte.”

„Ich habe diese Geschichte schon so oft gehört”, sagte Jameson und wies die Ausreden zynisch zurück. „Kinder, die missbraucht wurden, wie Sie es sich nicht vorstellen können. Ihr Vertrauen wurde von den Menschen missbraucht, die sich eigentlich um sie kümmern sollten. Aber sie sind nicht zu Vergewaltigern und Mördern herangewachsen. Wenn Sie von mir erwarten, dass ich ihn irgendwie verstehe – ihm verzeihe –, dann verschwenden Sie Ihre Zeit.”

„Ich erwarte nicht, dass Sie ihn verstehen oder ihm verzeihen”, antwortete Dolby. „Nachdem die Umstände ihn erst einmal zu dem gemacht hatten, was er war, wäre es besser gewesen, ihn einzuschläfern – wie einen tollwütigen Hund.” Er lehnte sich auf den Tisch und rückte ein Stück näher an ihn heran. „Aber ich bin nicht besser als er, weil ich es zugelassen habe. Ich wurde geliebt. Meine Eltern haben mir beigebracht, was richtig und falsch ist, aber ich habe ihn trotzdem nicht aufgehalten. Ich hatte alle Vorteile, die er nie hatte. Und doch war ich an der Vergewaltigung und Ermordung eines jungen Mädchens beteiligt. Ich war dabei und habe nichts getan.” Er schloss die Augen, rieb sich die Schläfen. „Ich würde alles dafür geben, diese Bilder aus meinem Kopf zu bekommen. Sei es nur für eine Stunde. Eine Minute.” Er schlug die Augen auf und seufzte tief, dann erhob er sein Glas. „Auf unsere Fehler und unsere Bestrafungen. Mögen wir sie mit in unsere Gräber nehmen.”

Nach ein paar Sekunden erhob er zögernd sein Glas. „Auf Clarkie.”

„Auf Ihren Freund.” Dolby nickte freundlich lächelnd und trank einen Schluck, ohne Jameson aus den Augen zu lassen. „Und auf Ihre Tochter. Möge Gott über sie wachen.”

„Sie braucht Gott nicht”, sagte Jameson, der die Wirkung des Alkohols zu spüren begann. „Sie hat mich, der über sie wacht.”

„Natürlich.” Dolby lächelte erfreut. „Und ich im Moment auch.”