Der Hubschrauber landete nicht auf der Almwiese vor der Hütte des Alpenvereins, sondern er schwebte über der Bergstation der Lastenseilbahn. Ein Rettungskorb und ein Bergretter wurden dort offensichtlich abgeseilt. Ich hatte das ungute Gefühl, dass das etwas mit ein paar wackeligen Getränkekisten und einem nicht ordnungsgemäß verschlossenen Tor zu tun haben könnte. Als wir im Tal angekommen waren, fragte ich am Kassenhäuschen mit rein touristischem Interesse in der Stimme, was denn da oben für eine Rettungsaktion laufen würde. Der Mann gehörte, wie alle Mitarbeiter der Bergbahn, zu den freiwilligen Bergrettern und war über Funk bestens über die Rettungsaktion informiert.
»Ganz üble Sache. Ein Kellner ist von der Terrasse abgestürzt.«
Ach. Du. Scheiße. Der Streich war wohl offensichtlich übers Ziel hinausgeschossen. Mir wurde eiskalt.
»Hat er … Ist es schlimm?«
»Keine Ahnung. Scheint zumindest nicht mehr allein hochklettern zu können. Die Kollegen sind auf dem Weg zu ihm.«
Also mindestens ein gebrochenes Bein. Verdammt. Das hatte ich nicht gewollt. Ein bisschen Ärgern wäre okay gewesen. Aber das war zu viel und tat mir bereits jetzt unendlich leid. Da ich allerdings weder von meiner Frau noch von mir selber wie ein Kind behandelt werden wollte, musste ich den Tatsachen erwachsen ins Auge sehen: Ich hatte großen Mist gebaut. Von meinen Selbstvorwürfen würde es Nils allerdings nicht besser gehen. Und von meinem Selbstmitleid schon mal gar nicht.
»Ganz armer Bua«, murmelte der Ticketverkäufer vor sich hin.
Katharina, der der Kellner im Gegensatz zu mir tatsächlich egal war, wollte schon weitergehen, aber irgendetwas in mir wollte mehr erfahren
»Kennen Sie den Kellner?«
»Nein, aber mein Bruder. Der betreibt die Hütte. Der Kellner ist so ein Stadtmensch aus dem Norden. Wollte hier freiwillig irgendein Nachhaltigkeitspraktikum im Gastrobereich machen. Keine Ahnung, was das ist. Aber ist jetzt wohl vorbei.«
»Und wie ist er in die Schlucht gefallen?«, wollte Katharina nun doch wissen.
»Wollte anscheinend auf einer Getränkekiste kurz Pause machen, und irgendwie ist die dann ins Tal gestürzt. Hat wohl vergessen das Absperrgitter zu schließen.«
Der Mitarbeiter der Bergbahn musste den nächsten Touristen, die bereits am Schalter warteten, Tickets verkaufen. Unfälle in den Bergen gehörten für ihn zum Alltag.
Wir verließen die Seilbahnstation in Richtung Auto.
»Der arme Kellner. Und du hast dich noch so kindisch über ihn aufgeregt«, legte Katharina mir gegenüber leise nach.
Ich hatte keinerlei stichhaltige Argumente, um mich gegen diesen Vorwurf zu verteidigen. Ganz im Gegenteil. Zum Glück war Katharina der kindischste Teil – mein Rachestreich – gänzlich unbekannt. Ich konnte also nur ein wenig vor mich hin stammeln, um überhaupt was zu sagen. Was die Sache nicht besser machte.
»Ja … gut … Der hat sich aber auch idiotisch verhalten. Ich meine – wer macht schon ein Nachhaltigkeitsprakti…« Weiter kam ich nicht.
»Ich habe auf der Hütte nur einen einzigen Menschen mit idiotischem Verhalten bemerkt. Und das warst du. Ich bin deine ständigen Gefühlsschwankungen satt. Du versprichst mir hier und jetzt, dass du das in den Griff kriegst.«
»Wie stellst du dir das vor?«
»Das Achtsamkeitstraining hat doch bestens funktioniert. Du rufst noch heute Abend bei diesem Herrn Breitner an und machst einen Termin, um an dir zu arbeiten …«
»Sonst?«
»Sonst ist der Urlaub hiermit beendet.«
»Und dann habe ich Sie angerufen«, schloss ich meine Erzählung gegenüber Herrn Breitner.
»Und wie geht’s dem Kellner?«, wollte Herr Breitner wissen.
»Beinbruch.« Was nicht ganz falsch war. Das Bein war auch gebrochen.
Neben dem Genick.
Wie ich am Abend – nach dem Anruf bei Herrn Breitner – aus dem Internet erfuhr.
Zum Glück lagen Emily und Katharina da schon im Bett. Letztere mit Schlafbrille und Ohropax. Keine der beiden bekam meinen Zusammenbruch mit.
Das hatte ich nicht gewollt. Ich hatte vor sechs Monaten vier Menschen ermordet. Absichtlich. Achtsam. Um meine Familie und mich zu schützen. Das war keine Freude, aber den damit verbundenen Stress bin ich mit Achtsamkeit hervorragend losgeworden. Ich wollte keine weitere Gewalt mehr in meinem Leben haben. Und dennoch hatte jetzt ein junger Mensch sein Leben verloren, weil ich mich über Nichtigkeiten aufgeregt hatte. Irgendetwas hatte mich da oben zu einem mir eigentlich nicht bekannten Verhalten getriggert. Und mich zu einem Streich animiert, der eskaliert war. Nils war tot. Das war eine Tatsache. Die schrecklich war. Und nicht rückgängig zu machen. Ich musste damit klarkommen.
Als ich paralysiert, bleich, kalt, zitternd auf dem Sofa des Urlaubsapartments saß und auf die Meldung der Lokalzeitung im Internet starrte, half mir wieder die Achtsamkeit, aus meinem Zusammenbruch herauszukommen. Ganz konkret das Gelassenheitsgebet.
Ich bat in der Stille unserer Ferienwohnung leise um die Kraft, Dinge zu ändern, die ich ändern konnte. Die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern konnte. Und um die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Dass Nils tot war, ließ sich nicht ändern. Ich brauchte also keine Kraft mehr, sondern lediglich Gelassenheit. Was schwierig genug war. Wie ich mit Weisheit erkannte.
Aber achtsam betrachtet, brachten Selbstvorwürfe an dieser Stelle nichts.
Nils würde es nicht besser gehen, wenn es mir deswegen schlecht ging. Und sosehr eine Beichte meine Seele kurzfristig erleichtert hätte – diese kurzfristige Erleichterung hätte mein Leben langfristig katastrophal verschlimmert. Mein achtsam ausbalanciertes Doppelleben wäre schneller ins Tal gekracht als Nils, wenn ich mich freiwillig den Behörden gestellt hätte.
Nur ich selber konnte mich belasten. Niemand hatte mich gesehen. Wir hatten auf der analogen Hütte keinerlei digitale Spuren hinterlassen. Katharina hatte bar bezahlt. Selbst die Tickets der Seilbahn hatte ich cash gekauft. Mit der Gäste-Card war der Preis ohnehin überschaubar.
Dass ich über Zeugen auf der Hütte, die Überwachungskamera der Bergbahn und den Datensatz der Gäste-Card trotzdem identifizierbar war, sollte mir erst Wochen später bewusst werden.
Emotional war es so, wie es war: Ich hatte überreagiert. Daran ließ sich in der Vergangenheit nichts ändern, ich konnte nur mein Verhalten in der Zukunft anders gestalten. Ich konnte daran arbeiten, dass ich in Zukunft nicht auf eine innere Stimme hörte, die mir erzählte, ich solle Getränkekisten vor einer Schlucht stapeln und das Absperrtor entriegeln.
Und genau deshalb war ich jetzt bei Herrn Breitner.
»Beinbruch«, bemerkte Herr Breitner sachlich und ohne Vorwurf. »Wie fühlen Sie sich dabei?« Er war schließlich mein Achtsamkeitscoach. Nicht Nils’ Orthopäde. Ich überlegte kurz, wie ich die Frage beantworten sollte.
»Mir tut leid, was passiert ist. Ich habe das nicht gewollt. Ich fühle mich schuldig, kann das Geschehene aber auch nicht ändern.«
Vor allem wollte ich Herrn Breitner möglichst schnell von weiteren Nachfragen bezüglich des Gesundheitszustandes des Kellners abhalten.
»Meine Frau weiß zwar nicht, dass ich dieses Sicherungstor aufgemacht habe. Sie war aber schon wegen des Streits der Ansicht, dass ich vielleicht doch ein wenig mehr an mir arbeiten sollte.«
»Sie haben mich aber nicht einzig und allein deshalb angerufen, weil Ihre Frau das wollte?« Joschka Breitner schaute mich an, als ob ich ihm erklärt hätte, dass ich meinen Penis gegen einen Nasenring eingetauscht hätte, an dem ich mich willenlos durch die Ehemanege führen ließe.
»Nein, ich …«
»Dann noch mal die Eingangsfrage: Warum haben Sie mich angerufen?«
Ich überlegte. Nur kurz. Denn der Grund war mir mittlerweile klar.
»Weil ich keine Ahnung habe, warum ich auf der Hütte so emotional reagiert habe. Weil mir das nicht guttut. Weil das anderen nicht guttut. Weil ich wissen will, warum ich sehenden Auges Dinge tue, derentwegen ich mich nachher schuldig fühle. Deshalb bin ich hier.«
Dass ich Herrn Breitner überhaupt von der Verletzung des Kellners erzählt hatte, war eigentlich schon wesentlich mehr an Offenheit, als ich geplant hatte. Aber um mein Verhalten zu analysieren, war diese Offenheit wahrscheinlich notwendig. Was ich nicht erzählte, war die begründete Angst davor, mit diesem oder irgendeinem zukünftigen Ausraster überflüssige Aufmerksamkeit auf den Balanceakt auf dem Drahtseil meines Doppellebens zu lenken. Meine Angst vor der Zukunft war schon so groß genug.