Joschka Breitner hatte seinen Tee während meiner Erzählung ausgetrunken. Es schien ihn weit weniger als meine Frau zu schockieren, dass ich mich über die Bedienzeit eines Kellners aufregte. Er füllte seine Tasse nach. Meine nicht.
»Wenn ich Ihre Tasse jetzt nicht sofort auch bis zum Überlaufen nachschenke, sagt Ihnen dann auch eine innere Stimme, dass Sie ausrasten sollen?«, fragte er mich ohne jede Ironie.
»Bitte? Nein? Wieso sollte ich? Ich bin ja nicht zum Teetrinken hier.«
»Sehen Sie – genau darum geht es. Warum waren Sie auf der Hütte?«
»Habe ich ja gesagt. Ich wollte eine schöne Kindheitserinnerung an meine Tochter weitergeben. Und der Idiot von Kellner hat das verhindert.«
»Und genau da bin ich mir nicht so sicher«, äußerte Herr Breitner seine Zweifel.
»Was meinen Sie?«
»Sie sind doch Strafverteidiger. Sie wissen, dass eine wahre Aussage detailreich ist. Eine erfundene Aussage ist plakativ. Die Wahrheit ist filigran.«
»Bin ich hier vor Gericht?«
»Nein. Gerade deswegen will ich vermeiden, dass Sie ein Fehlurteil über sich selber sprechen. Worauf ich hinauswill, ist Folgendes: Sie haben Ihre Kindheitserinnerungen an das Wunschessen sehr plakativ beschrieben. ›Dampfend‹, ›eiskalt‹, ›auf Hochglanz poliert‹. Das kann jeder, der mal einen Kaiserschmarrn, eine Flasche Almdudler oder einen Landjäger gesehen hat. Sie erinnern sich an die Achtsamkeitsübung mit dem Apfel?«
Ich nickte. Wir hatten vor einem halben Jahr gemeinsam ein Stück Apfel gegessen und es dabei bewusst mit allen Sinnesempfindungen wahrgenommen. Ich konnte anschließend nicht bloß plakativ beschreiben, wie leuchtend rot der Apfel aussah, sondern auch sehr detailreich, wie die Schale beim Aufschneiden leise knackte, wie der aus dem frischen Fruchtfleisch ausgetretene Saft roch, wie sich das kalte Stück Apfel im Mund anfühlte, wie sich das Kauen des Apfels anhörte und wie der Apfel auf der Zunge schmeckte.
»Hätten Sie tatsächlich eine eigene, wahre Erinnerung an diesen Kaiserschmarrn gehabt, hätten Sie beschreiben können, wie er herrlich nach geschmolzener Butter, süßem Puderzucker und frischem Apfelmus roch. Wie sehr Sie sich nach dem fluffigen Gefühl im Mund gesehnt haben, wenn er von der Zunge an Ihren Gaumen gedrückt wird und wie ein Kissen in sich zusammenfällt. Sie hätten das Gefühl verinnerlicht, wie die Haut der Rosinen platzt und eine wahre Geschmacksexplosion verursacht. Sie hätten die Wärme erwähnt, die vom Mund über die Speiseröhre in den Magen strömt.«
Ich bekam Hunger – und schlechte Laune.
»Hören Sie, können Sie mir nicht einfach irgendeine Übung zeigen, damit ich den nächsten Ausraster in den Griff bekomme, bevor ich weitere Menschen verletze?«
»Ich würde Ihnen gern beibringen, wie Sie in Zukunft alle Ausraster komplett vermeiden. Dafür brauchen wir beide aber noch eine letzte Information.«
»Und welche?«, fragte ich trotzig.
»Wie oft haben Sie wirklich als Kind mit Ihren Eltern in den Bergen Kaiserschmarrn gegessen?«
Jetzt war ich wirklich genervt. »Tut mir leid, aber ich habe wirklich keine Lust auf irgendwelche Gedankenreisen in meine Kindheit.«
Herr Breitner verlor seine Sanftheit nicht. »Das muss keine lange Reise sein. Sofern Sie aufhören, sich dagegen zu wehren. Lassen Sie uns daraus eine kurze Diashow eines vergangenen Urlaubs machen. Sie schließen die Augen. Ich nenne Ihnen drei Begriffe. Sie schauen sich einfach an, welche Erinnerungsbilder Ihnen Ihr Gedächtnis von innen an die Leinwand Ihrer Augenlider projiziert. Einverstanden?«
Ich wollte diese Selbstbeschäftigung einfach nur schnell hinter mich bringen. Also ließ ich mich darauf ein. Ich schloss die Augen.
»Meinetwegen.«
»Eltern. Urlaub. Alm.«
Das erste Erinnerungsdia rastete sofort im Schlitten ein. Ein kleiner blonder Junge in Lederhosen – offensichtlich ich – läuft gedankenversunken auf die Terrasse einer Berghütte zu. Gefolgt von seinem ernst dreinblickenden Vater, der einen Rucksack trägt. Seine Mutter trottet schweigend in zwanzig Metern Abstand hinterher. An den Tischen sitzen Familien, die Eltern lachen, die Kinder essen Kaiserschmarrn. Nächstes Bild. Ich frage meinen Vater, ob wir auch einen Kaiserschmarrn bestellen können. Mein Vater schaut bereits von der Hütte weg, sagt, so einen Firlefanz bräuchten wir nicht, und zeigt auf den Brunnen, an den wir uns setzen werden. Nächstes Bild. Mein Vater hat den alten Wanderrucksack geöffnet. Meine Mutter holt die belegten Brote heraus, die sie für uns geschmiert hat. Während alle anderen Kinder Almdudler trinken, darf ich mir mit den Händen Wasser aus dem Brunnen schöpfen. Nächstes Bild. Mein Vater isst einen Landjäger aus dem Supermarkt. Meine Eltern schweigen sich kauend an, während ich am Brunnen sitze, auf die anderen Kinder an den Tischen starre und mir nichts sehnlicher wünsche, als zu probieren, wie so ein Kaiserschmarrn eigentlich schmeckt.
Ein leerer Bildschlitten rastete ein. Die Diashow war vorbei.
Mich überkam eine tiefe Traurigkeit. Dabei ging es hier doch nur ums Essen – oder etwa nicht?
Herr Breitner sah meine Trauer und holte mich mit sanfter Stimme zurück in die Gegenwart. »Mit fröhlichen Eltern zusammen nach einer langen Wanderung Kaiserschmarrn auf einer Alm zu essen war nie eine Kindheitserinnerung von Ihnen. Sondern ein bis heute unerfüllter Kindheitswunsch. Richtig?«
»So gesehen …«
»Sie wollten sich also in Wahrheit auf der Hütte zusammen mit Ihrer Tochter diesen unerfüllten Kindheitswunsch erfüllen. Und nicht eine tatsächlich gelebte Erinnerung weitergeben.«
Ich stutzte. »Was macht das für einen Unterschied?«
»Einen sehr großen. Auf der Hütte ging es gar nicht darum, in welcher Zeit Ihnen irgendein Kellner irgendetwas zu essen bringt. Es ging darum, dass Ihnen schon wieder jemand einen Kindheitswunsch verwehrte. Diesmal sogar ein völlig Fremder. Deshalb kam es da oben zu dieser emotionalen Reaktion.«
»Deshalb habe ich dann so einen Ausraster bekommen?«
»Nicht Sie sind da auf der Hütte ausgerastet.«
»Wer dann?«
»Ihr inneres Kind war das.«
In diesem Moment hörte ich das allererste Mal in meinem Leben von meinem inneren Kind. Es sollte mein Leben verändern.