Meine Neugierde war geweckt. »Wer bitte ist mein inneres Kind?«
Herr Breitner antwortete mit einem Vergleich. »Wenn Sie einen blauen Fleck am Oberschenkel haben, schränkt der Sie dann im Alltag ein?«
»Nein.«
»Und wenn jemand auf diesen blauen Fleck draufhaut?«
»Dann tut das höllisch weh.«
»Sehen Sie. So ist das auch mit dem inneren Kind. Ihr inneres Kind trägt die blauen Flecke Ihrer Seele.«
Die Anzahl der Fragezeichen über meinem Kopf überstieg die Anzahl sämtlicher blauen Flecke, die ich in meinem Leben bekommen hatte, um ein Vielfaches.
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
Herr Breitner stellte seine Tasse ab. »Das innere Kind ist ein Bildnis zur Erklärung tiefenpsychologischer Vorgänge. Ihr inneres Kind ist der Teil Ihres Unterbewusstseins, in dem die seelischen Verletzungen aus Ihrer frühesten Kindheit gespeichert sind. Stellen Sie sich die Folgen dieser Verletzungen als blaue Flecke vor. Sie sehen und spüren diese alten Verletzungen im Alltag gar nicht. Sie haben keine Ahnung davon, dass es das verletzte Kind in Ihnen überhaupt gibt. Aber wenn jemand genau diese blauen Flecke berührt, dann tut es Ihrem inneren Kind sehr weh. Da Sie jedoch gar nichts von Ihrem inneren Kind wissen, hören Sie nur das Schreien, wissen aber nicht, von wem es kommt.«
»Was hat das mit dem Ausraster auf der Hütte zu tun?«
»Auf der Hütte hat der Kellner einen blauen Fleck berührt, den Ihre Eltern Ihrem inneren Kind vor Jahrzehnten zugefügt haben.«
»Welchen jetzt genau?«
»Ihre Eltern haben Ihnen als Kind offenbar sehr intensiv vermittelt, dass Ihre Wünsche nicht zählen. Alle anderen Kinder durften sich an Kaiserschmarrn und Almdudler erfreuen. Sie sollten sich mit Brunnenwasser und belegten Broten begnügen. Ihr Wunsch, den gleichen Genuss wie die anderen Kinder zu erleben, wurde ignoriert. Dadurch haben Ihnen Ihre Eltern zusätzlich den Glauben vermittelt, Genuss sei etwas Überflüssiges. ›Genuss ist Firlefanz‹ und ›Deine Wünsche zählen nicht‹ sindsogenannte Glaubenssätze. Glaubenssätze, die Ihre Eltern Ihnen wahrscheinlich nicht bloß auf der Alm, sondern während Ihrer ganzen Kindheit vorgelebt haben.«
»Wie soll ein Satz blaue Flecke verursachen?«
»Bleiben Sie in unserem bildlichen Vergleich. Stellen Sie sich vor, die Glaubenssätze Ihrer Eltern hätten auf Ansteck-Buttons gestanden. Auf einem Button steht ›Genuss ist Firlefanz!‹, auf dem anderen ›Deine Wünsche zählen nicht!‹ Jeder dieser beiden Sätze wurde Ihnen immer wieder, wenn Sie Wünsche geäußert haben, mit der Nadel des Buttons in die Seele gesteckt. Das gibt blaue Flecke. Glauben Sie mir. Diese Glaubenssätze wurden Ihnen regelrecht eingebläut.«
»Mag sein. Aber all das ist Jahre her. Und auf einer Almhütte keinen Kaiserschmarrn zu bekommen ist ja nun auch kein Beinbruch«, warf ich skeptisch ein.
»Das wird Nils der Kellner wohl anders sehen«, relativierte Herr Breitner meinen Einwand. »Dass Sie das noch nicht so sehen, ist aber nur verständlich. In all den Jahren seit Ihrer Kindheit haben Sie viele dieser Verletzungen durch Ihre Eltern aus Ihrem Bewusstsein verdrängt. Verdrängt – nicht geheilt! Ihr inneres Kind ist aber nicht Teil des Bewusstseins, sondern des Unterbewusstseins. Da sind alle Verletzungen und Glaubenssätze bis heute noch gespeichert. Auch der blaue Fleck, den der Glaubenssatz ›Deine Wünsche zählen nicht!‹ verursacht hat, ist dort immer noch vorhanden. Auf der Hütte hat Ihr kindliches Unterbewusstsein Sie sehr schmerzhaft an eine Erfahrung erinnert, die Ihr erwachsenes Bewusstsein längst verdrängt hatte.«
»Heißt konkret?«
»Sie wollten Ihrem Kind unbewusst etwas ganz anderes vermitteln, als Sie damals tatsächlich von Ihren Eltern vermittelt bekommen haben. Sie wollten sich und Ihre Tochter belohnen. Sie wollten sich damit auch selber einen Wunsch erfüllen. Ihre Tochter sollte – anders als Sie – erleben, dass Genuss etwas Schönes ist. Aber schon wieder ist da jemand auf der Hütte, der das genauso zunichtemacht wie Ihre Eltern vor fast vierzig Jahren. Er ignoriert Ihre Wünsche. Kaiserschmarrn und Almdudler? Gibt’s nicht. Im Gegenteil. Völlig ungefragt sagt er Ihnen auch noch, dass er Landjäger und Fruchtquetschies verbieten würde. Das war der Tritt gegen den blauen Fleck Ihrer Seele. Das hat Ihr inneres Kind aufschreien lassen. Sie haben das vorhin sehr deutlich beschrieben: als kleine, hohe Stimme in Ihnen. Diese Stimme – das war Ihr inneres Kind.«
»Warum hat mich das dann so irritiert?«
»Es hat Ihr Bewusstsein irritiert. Ihr Unterbewusstsein wusste genau, warum Ihr inneres Kind ausrastete. Ihr Bewusstsein nicht. Ihr Bewusstsein hatte diese Zusammenhänge ja schon vor Jahren verdrängt. Daher kommt Ihre bewusste Irritation über Ihr unterbewusst eigentlich sehr schlüssiges Verhalten.«
Das musste ich erst einmal sacken lassen. Das klang alles sehr logisch. Und ebenso absurd. Ich brauchte ein paar Sekunden, um das konkret weiterzudenken. »Das Kind in mir hat also Stress gehabt wegen einer alten Erfahrung. Und es hat den Stress aus dem Unterbewusstsein heraus an mich weitergegeben?«
»Das ist sehr vereinfacht ausgedrückt. Aber richtig.«
»Den Stress, den mir das innere Kind weitergegeben hat, konnte ich ja dann aber mit meiner Achtsamkeitsübung wieder loswerden, oder?«
»Sie sind Ihren bewussten Stress mit Achtsamkeit losgeworden. Ihr inneres Kind und dessen Stress im Unterbewusstsein sind geblieben.«
»Und … obwohl ich mich beruhigt hatte, hat mein inneres Kind darauf bestanden, diesen kindischen Streich zu spielen, bei dem der Kellner dann … nun, sich was gebrochen hat?«
»Das war kein kindischer Streich, sondern ein kindlicher Streich«, korrigierte mich Herr Breitner.
»Wo liegt der Unterschied?«
»Kindisch ist das nicht altersgemäße Verhalten eines Erwachsenen und damit herabwürdigend. Kindlich ist das völlig nachvollziehbare Verhalten eines Kindes und damit erklärend. Was da auf der Rückseite der Almhütte passiert ist, ist aus kindlicher Sicht völlig logisch. Kinder leben im Augenblick. Sie zelebrieren ihren Trotz, ihre Bockigkeit. Bis zum Exzess. Kinder wollen jetzt sofort alles ausleben. Ihr inneres Kind hat gesagt: Wenn der Typ mir schon den ganzen Tag versaut hat, versaue ich ihm seinen eben auch. Über die möglichen Konsequenzen denkt ein Kind nicht nach.«
Ein Ziel hatte ich mit dieser Sitzung bei Herrn Breitner schon erreicht. Dank der Entdeckung meines inneren Kindes hatte ich einen Ansatzpunkt, meine Schuldgefühle bezüglich Nils’ Tod zu kanalisieren. Und ein Stück weit von mir wegzuleiten. Das auf der Hütte war kein Streit zwischen mir und dem Kellner, der eskaliert war. Der Kellner hatte sich mit meinem inneren Kind angelegt. Damit konnte ich mental arbeiten. Was sollte das auch mit diesem ganzen Fruchtquetschie-Landjäger-Deine-Wünsche-zählen-nicht-Gehabe? Nils war im Grunde nicht wegen mir in diese Schlucht gestürzt. Er war wegen meines inneren Kindes in die Schlucht gestürzt, das sich wegen seiner blauen Flecke zur Wehr gesetzt hatte. Meinem inneren Kind konnte man daraus keinen Vorwurf machen. Zum einen war es noch gar nicht strafmündig. Zum anderen war es von Nils ja quasi zu dieser Reaktion gezwungen worden. Und offenbar waren ja auch meine Eltern nicht ganz unschuldig. Letztere hatten meinem inneren Kind die blauen Flecke schließlich verpasst, auf die ersterer auf der Hütte dann gedrückt hatte. Aber meine Eltern konnten deswegen nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Die waren bereits gestorben. Nicht wegen meines inneren Kindes. Sondern an Prostatakrebs und Herzinsuffizienz. Vor Jahren schon.