Ich duschte zügig
, zog mich an, steckte den Nachplappervogel in die Hosentasche und ging hinunter ins Erdgeschoss. Als ich die Wohnung verließ, erreichte mich eine
SMS
von Walter. Die Security-Teams hatten bereits Position bezogen. Das war erleichternd. Seit dem ersten Anruf von Sascha war keine Dreiviertelstunde vergangen. Es war kurz vor halb sieben.
Der Kindergarten im Erdgeschoss hatte keinen separaten Eingang, sondern war, wie die anderen Wohnungen, über das Treppenhaus des Altbaus zu erreichen. Das Holz der massiven Eichenhaustür war am Türblatt, in Höhe des Schlosses, abgesplittert. So, als hätte jemand ein Stemmeisen dort angesetzt. Ich ging zur Tür und öffnete sie. Die frische Morgenluft strömte ins Treppenhaus. Auf der Straße parkte bereits ein Streifenwagen. Dass die Polizei so schnell vor Ort war, lag sicherlich an dem Umstand, dass der Kommissar, der bei der örtlichen Kripo für organisierte Kriminalität zuständig war, seinen Sohn in unserem Kindergarten hatte. Er hatte vorrangig einen der »Kindeswohl«-Plätze bekommen.
Ich trat vor die Tür. Links neben dem Eingang befand sich das Fenster des Kindergartenbüros. Im Gegensatz zu den darunter liegenden Kellerfenstern war es nicht vergittert. Dafür aber eingeschlagen. Der Fensterrahmen und die Tür waren mit Fingerabdruckpulver bestrichen. Die Spurensicherung war also auch schon da.
Ich ging zurück ins Treppenhaus und betrat den Kindergarten durch den Hausflur. Der Eingangsbereich war leer. Linker Hand lag Saschas Büro. Das mit der eingeschlagenen Scheibe. Es sah durchwühlt aus. Überall lag Papier herum. Der Rest des Kindergartens wirkte aber friedlich und ungestört wie immer. Ich hörte die Stimmen zweier Erwachsener aus der Nemo-Gruppe. Die eine gehörte Sascha. Die andere Peter Egmann. Peter war ein alter Studienfreund von mir. Und der Kommissar, der seine Ermittlungen wegen Dragans Verschwinden großzügig gegen einen Kindergartenplatz für seinen Sohn eingetauscht hatte.
»… denke ich nicht, dass wir die Täter zügig ermitteln können«, sagte er gerade zu Sascha.
»Der Schaden scheint sich in Grenzen zu halten«, sagte ich und näherte mich den beiden.
»Hi, Björn«, begrüßte mich Sascha. »Ja, die Typen haben sich lediglich im Büro ausgetobt.«
Peter Egmann ergänzte: »Wie es aussieht, wurde erst vergeblich versucht, die Außentür mit einem Stemmeisen aufzuhebeln. Das hat nicht geklappt. Dann wurde das Bürofenster eingeschlagen und das Büro durchwühlt. Da die Bürotür von außen abgeschlossen war, haben der oder die Täter wohl die Lust verloren und sind – ohne den Rest des Kindergartens zu betreten – abgehauen.«
»Fehlt was?« Ich tat interessiert.
Sascha tat informiert: »Die berühmte Portokasse. Um die fünfzig Euro.«
»Wer macht so was?«, steuerte ich meinen Text des Improvisationstheaters bei.
»Es gibt drei Möglichkeiten«, sagte Peter, der als Einziger von uns nicht improvisieren musste. »Erstens: Das waren professionelle Einbrecher. Dafür sprechen die Spuren an der Haustür. Dagegen spricht das Verhalten im Kindergarten und der Abbruch der Aktion. Zweitens: Das waren Junkies. Die haben durchaus mal ein Stemmeisen dabei und sind dumm genug, das dann nicht mit reinzunehmen und anschließend wegen einer dünnen Tür, die man sogar auftreten könnte, aufzugeben. Dafür spricht, dass lediglich die Portokasse fehlt und nicht auch der Rechner mitgenommen worden ist. Dagegen spricht, dass die Täter offensichtlich Handschuhe getragen haben. Drittens: Vandalismus. Dagegen sprechen allerdings das Stemmeisen und die Handschuhe.«
Interessant, welche Theorien ein erfahrener Polizist aus einem Minimum an Spuren herleiten konnte. Ein viertes Szenario, ein lediglich fingierter Einbruch, gehörte offensichtlich nicht dazu.
Mein inneres Kind wollte dem Ganzen aber noch ein fünftes Szenario hinzufügen.
»
Vielleicht waren das ja die Assis aus dem Park
.«
Ich war leidlich dazu in der Lage, meinen Ärger über die Assis aus dem Park regelmäßig achtsam wegzuatmen. Bis auf den Eiswürfel-Ausraster. Der eindeutig auf das Konto meines inneren Kindes ging. Mein inneres Kind hasste die Assis aus tiefstem Herzen. Permanent. Und auch das war ebenso nachvollziehbar wie gerechtfertigt. Es war ein Kind. Jedenfalls hatte ich in den letzten Wochen verstanden, dass nicht ich mich immer wieder vom Verhalten dieser Assis triggern ließ. Mein inneres Kind war es. Entsprechend war es meinem inneren Kind auch völlig egal, dass die Assis aus dem Park nicht an dem Einbruch schuld gewesen sein konnten, da Sascha und ich ihn fingiert hatten. Ich steckte meine ruhige Hand in die Hosentasche und streichelte den Nachplappervogel, um mein inneres Kind zu beruhigen.
Aufgrund unserer Partnerschaftswoche wollte ich die Wünsche meines inneren Kindes aber auch nicht komplett ignorieren.
Da ich selber den fingierten Einbruch in Auftrag gegeben hatte, hätte ich es als moralisch verwerflich empfunden, wenn ich persönlich wider besseres Wissen jemand anderen für die Tat verdächtigen würde. Ich fand einen anderen Weg.
»Sascha meinte, es könnten vielleicht die Typen aus dem Park gegenüber gewesen sein«, bemerkte ich. Das stimmte sogar insofern, als Sascha diese Theorie vorhin tatsächlich wider besseres Wissen ins Spiel gebracht hatte.
»Dafür fehlt jeglicher Anhaltspunkt«, klärte mich Peter auf. »Allein die Tatsache, dass Leute sich nachts im Park danebenbenehmen, rechtfertigt noch nicht, sie des Einbruchs zu verdächtigen.«
»Ihr wollt diese Spur nicht verfolgen?«
»Wir müssen mit unseren Ressourcen haushalten.«
Ich war mit dieser Antwort ebenso unzufrieden wie mein inneres Kind. Allein die Tatsache, dass die Polizei unter akutem Personalmangel litt, rechtfertigte es nicht, einen nicht komplett abwegigen Verdacht zu ignorieren.
»Und wie schätzt du jetzt die Gefahr für den Kindergarten ein?«, fragte ich Peter.
»Die Sache ist durch. Bei allen drei möglichen Szenarien werden die Täter das nicht noch einmal versuchen. Ich denke, der Kindergarten kann morgen wieder ganz normal öffnen. Nachdem heute der Glaser und der Putztrupp da waren. Denkt einfach mal drüber nach, die Fenster im Erdgeschoss zu vergittern.«
Selbsteingitterung. Durchaus eine sinnvolle Lösung, die Verbrechensrate in Deutschland zu senken. Von dem Geld, das die Vergitterung aller Fenster der Bundesrepublik auf Augenhöhe kosten würde, könnte man natürlich auch genügend Polizisten einstellen, um die Verbrecher auf Augenhöhe zu bekämpfen.
»Danke für den Hinweis. Und danke, dass deine Leute so schnell da waren«, bedankte ich mich bei Peter, der sich zum Gehen wandte.
»Keine Ursache. Es geht ja auch um die Sicherheit meines Kindes.«
Als wir allein waren, sah ich mir das glaubwürdige Chaos in dem Büro an.
»Gut gemacht«, lobte ich Sascha.
»Danke sehr. Dann darf ich das jetzt wohl auch wieder aufräumen?«
»Ich helfe dir. Und übrigens – Spitzenidee, dass du obendrein so getan hast, als hätten die Typen vorher die Eingangstür aufbrechen wollen. Wo hattest du das Brecheisen her?«
»Ich hatte kein Brecheisen.«
Ich guckte fragend.
»Die Eingangstür ist tatsächlich gewaltsam aufgebrochen worden.«
»Und wieso denkt Peter, die Einbrecher wären an der Tür gescheitert?«
»Weil das Schloss anschließend wieder in die Tür montiert wurde.«
»Von dir?«
»Nein. Von denjenigen, die Boris befreit haben.«
Mir wurde eiskalt. Natürlich hätte mir klar sein müssen, dass der oder diejenigen, die Boris aus dem Keller geholt hatten, hier im Haus gewesen sein mussten. Mir wurde aber jetzt erst klar, wie nah er oder sie mir dabei schon gekommen waren. Und auch Sascha. Wir wohnten schließlich nur die Treppe hoch. Lediglich gesichert durch zwei Wohnungstüren. Warum hatte man uns nicht bereits letzte Nacht einfach aus Rache ermordet? Und warum sollte jemand die Haustür aufbrechen, Boris aus dem Keller befreien und die Haustür anschließend wieder reparieren? Das ergab alles keinen Sinn.
Inzwischen trafen die ersten Erzieherinnen ein. Sascha hatte bereits veranlasst, dass alle Eltern per WhatsApp über den heute geschlossenen Kindergarten informiert worden waren. Dennoch wollte er für alle Fälle eine Notbesetzung vor Ort haben. Er erklärte den Damen kurz die von uns gefakte Situation und bat sie, einen Glaser anzurufen und das zerbrochene Fenster erneuern zu lassen. Ich ging derweil zurück in meine Wohnung und telefonierte noch einmal mit Walter.
»Danke für die Security-Teams. Das gibt ein gutes Gefühl«, sagte ich.
»Keine Ursache.«
»Gibt es irgendwelche Neuigkeiten von Boris’ Leuten?«, fragte ich möglichst beiläufig.
»Wir beschatten parallel vier Officer aus Boris’ Clan. Bislang nichts Auffälliges.«
»Das bedeutet?«
»Warte mal, ich bekomme die Statusmeldungen meiner Teams immer als WhatsApp … Also einer ist gerade mit dem Hund raus. Einer hat vorhin seinen Club abgeschlossen und ist direkt nach Hause. Einer vögelt die Frau seines Nachbarn, und der vierte ist auf dem Weg zu einem Gerichtstermin.«
Das war ebenso beruhigend wie verwunderlich. Hätte Boris mit seinen Leuten Kontakt aufgenommen, würde sein Führungspersonal jetzt nicht seelenruhig den Alltagsgeschäften nachgehen. Das verschaffte Sascha und mir zumindest ein wenig Zeit. Ich dankte Walter und legte auf.
In gleichen Moment rief Katharina an. Sie hatte die WhatsApp des Kindergartens ebenfalls bekommen und kam gleich zur Sache.
»Kannst du Emily übernehmen?«
Ich unterdrückte meinen Wunsch, eine Frau zu haben, die sich erst einmal danach erkundigte, wie es mir damit ginge, dass gerade in meinem Haus eingebrochen worden war. Ganz zu schweigen von dem Wunsch, eine Frau zu haben, der ich hätte erzählen können, dass der Einbruch nur vorgetäuscht war und ich in Wahrheit um mein Leben fürchtete.
Aber ich konnte meine Frau nicht ändern. Ich konnte nur meine Einstellung zu meiner Frau ändern.
Und der Frau, die gerade anrief, war beides egal. Sie beschäftigte sich in erster Linie gern mit ihren eigenen Wünschen.
»Morgen ist mein erster Arbeitstag, und ich bin heute Mittag mit einem Kollegen zum Essen verabredet. Das würde ich ungern absagen, nur weil der Kindergarten seine Dinge nicht geregelt bekommt.«
»Jemand hat versucht einzubrechen. Die Polizei war gerade da. Wir müssen erst mal aufräumen und …«
»Ich weiß, dass eingebrochen worden ist. Sonst hätte ich ja nicht das Problem mit meinem Termin. Also, kannst du Emily abholen?«
Klar konnte ich – wenn ich bis dahin nicht tot war. Aber auch das konnte ich Katharina nicht sagen. Katharina ging es ja auch nicht um mein Leben. Ihr ging es um Macht. Und sei es nur die Macht über meinen Terminkalender. Ich wollte diese Machtspielchen nicht auf Emilys Rücken austragen. Ich würde Emily abholen. Solange Walters Leute uns bewachten, war Emily bei mir genauso sicher oder unsicher wie bei Katharina. Und wenn mein Leben tatsächlich zeitnah enden sollte, dann wollte ich von dieser Zeit so viel wie möglich mit meiner geliebten Tochter verleben. Vielleicht war es ganz gut, sich einfach den kleinen Problemen des Alltags hinzugeben. Wenn schon jemand in meinem Leben rumtrampelte, dann sollte das nicht Boris sein, sondern wenigstens meine Frau.
»Ja. Ich beeile mich hier und rufe dich an, wenn ich fertig bin.«
»Ich muss um spätestens zwölf hier weg.«
»Ja, ich …«
Katharina hatte schon aufgelegt. Meine Wünsche zählten nicht.
Es klingelte. Durch den Türspion sah ich Sascha. Ich öffnete die Tür.
»Komm rein. Kaffee?«
»Gerne.«
Wir gingen in die Küche, und ich machte Sascha einen Kaffee aus meiner Kapselmaschine. Ich nahm die Aluminiumkapsel aus dem Schrank, steckte sie erst in die Maschine und direkt danach in den Müll. Wie schön war die Zeit, als die Frage, ob ich aus ökologischen Gründen wieder zu Filterkaffe zurückkehren sollte, mein größtes Problem war.
»Den Einbruch scheinen uns alle abgenommen zu haben, oder?«, wollte ich wissen.
»Das lief problemlos. Ein paar Eltern müssen jetzt umdisponieren. Aber das war denen allemal lieber, als die Kinder am Ort eines Verbrechens abzugeben.«
Katharina schien der einzige Elternteil zu sein, der das anders sah.
»Ich will nicht auch nur ein einziges Kind der Gefahr durch Boris aussetzen. Weder heute noch morgen«, betonte Sascha.
Ich nickte. »Notfalls müssen wir uns für morgen was Neues einfallen lassen.«
»Was hast du jetzt eigentlich Walter erzählt, warum wir Schutz brauchen?«
Ich erzählte Sascha meine Geschichte mit den Holgersons. Sascha fand die Story kreativ genug, um uns mindestens ein paar Tage Bewachung ohne weitere Fragen zu sichern.
»Wie bist du darauf gekommen?«
»Ich habe mir meine kindliche Kreativität bewahrt«, sagte ich, ebenso nichtssagend wie abschließend.
»Beschattet Walter auch Boris’ Leute?«, wollte Sascha wissen, während ich ihm seinen Nespresso gab.
»Ja. Bislang verhält sich keiner seiner Officer auch nur im Ansatz auffällig. Wenn Boris sich bei denen gemeldet hätte, dann wären die jetzt das Zentrum der Empörung.«
Sascha sah mich fragend an. »Wie kann das sein? Warum sollte Boris aus dem Keller fliehen, sich dann aber nicht bei seinen Leuten melden?«
»Genau das macht mich auch stutzig. Wie die Sache mit der reparierten Außentür. Bist du sicher, dass das Schloss vor Boris’ Zelle von außen geknackt und nicht irgendwie von innen aus der Halterung gerissen wurde?«
Sascha machte große Augen. »Warst du noch gar nicht unten?«
Ich stutzte. Nein, dazu hatte mir bislang schlicht die Zeit gefehlt. Sascha hatte recht. Ich musste mir den Ort des Geschehens zunächst einmal selber anschauen.