Der Altbau verfügte
über einen großen Gewölbekeller, mit vielen verschachtelten Räumen. Eine Location, die in aufgeräumtem und renoviertem Zustand durchaus als urige Weinstube hätte genutzt werden können. Der vorderste, größte Raum diente als Lagerraum für den Kindergarten. Hier standen Holzbänke und Tische, Spielgeräte und Planschbecken. Ein pinkes Spiel-Gartenhäuschen aus Plastik fristete in der Ecke ein Schattendasein. Ein Kettcar war – warum auch immer – hochkant gegen die Spielhäuschen-Tür gelehnt.
Von diesem vorderen Raum aus verlief ein langer Gang unter der vollen Länge des Hauses entlang, von dem die einzelnen gemauerten Kellerabteile für die drei Wohnungen des Hauses abgingen. Die letzte Kellertür am Ende des Gangs führte in den Heizungskeller. Und der hatte eine kleine Besonderheit. Zum einen bestand er aus drei Räumen, die nur über eine einzige Eingangstür erreichbar waren. Zum anderen sah man ihm das nicht an.
In den achtziger Jahren gehörte das Haus einem Menschen, der überzeugter Anhänger des damals vorherrschenden Weltuntergangsgrunddreiklangs »Atomkrieg-Ozonloch-Waldsterben« war. Er war der festen Überzeugung, keines dieser drei Probleme ließe sich innerhalb von zehn Jahren durch internationale Verhandlungen und technischen Fortschritt lösen. Also entschied er sich für lokalen Aktionismus und grub sich zwei Überlebensräume unter den Garten seines Hauses. Der Bau dieser Räume erwies sich im Nachhinein zwar als überflüssig, hatte aber für Sascha und mich einen entscheidenden Vorteil: Die Räume waren in keinem Bauplan verzeichnet.
Der Weltuntergang war wider Erwarten nicht eingetreten. Aber die Schutzräume waren weiterhin über den Heizungskeller zugänglich. Also wie gemacht als illegale Herberge für einen ungeplanten Gast. Die Panik von gestern erwies sich als das ideale Gefängnis von heute.
Im ersten, legalen Kellerraum befand sich seit Jahrzehnten eine zwischenzeitlich veraltete Ölheizungsanlage, ein riesiger Öltank sowie ein alter Ikea-Schrank. Ich hätte diese Ölheizung aus Umweltgesichtspunkten gern modernisieren lassen. Auf Dragans Kosten. Der Grund dafür, dass ich das nicht tat, befand sich hinter dem Ikea-Schrank. Der Schrank verdeckte die Tür zu den beiden anderen, illegalen Kellerräumen. Sascha, der handwerklich sehr geschickt war, hatte ihn mit unsichtbaren Rollen und einem Scharnier versehen. Der Schrank war samt Inhalt als Tarnung vor der eigentlichen Tür zu benutzen. Für eine fünfzehnminütige Wartung der Heizung in unserem Beisein war diese Tarnung okay. Für einen Heizungsbauer, der die komplette Anlage erneuerte, wäre sehr schnell klar geworden, dass irgendetwas in dem Keller nicht stimmte.
Nun jedenfalls lag der Schrank in Trümmern vor der Tür, die er verdecken sollte.
Die offenstehende Tür dahinter hatte eine ganz eigene Geschichte. Sie entstammte einem echten Gefängnis und hatte die erste Zelle verschlossen, in der Dragan jemals übernachtet hatte. Sie verfügte über eine Klappe, durch die man Essen reichen, Gespräche führen oder dem Insassen Handschellen anlegen konnte. Das Gefängnis war vor ein paar Jahren aufgelöst und das Inventar versteigert worden. Dragan hatte die Tür aus nostalgischen Gründen erworben und sie im Keller seines Altbaus gelagert. Sascha und ich hatten sie bei der Planung von Boris’ Gefängnis zufällig gefunden und kurzerhand beschlossen, dass die erste Gefängnistür von Dragan zur letzten Gefängnistür von Boris werden sollte. Eine an und für sich schöne Symbolik, die nun leider ihre Symbolkraft eingebüßt hatte, denn das massive Vorhängeschloss, das die Tür verschlossen hatte, lag aufgeschnitten am Boden.
Sascha hatte Boris’ Gefängnis ziemlich wohnlich eingerichtet. In einem hinteren Raum befanden sich die sanitären Einrichtungen, im vorderen gab es ein Bett, einen Tisch und zwei Stühle. (Der zweite Stuhl sollte Boris vergessen lassen, dass er nie wieder Besuch empfangen würde.) Überhaupt hatten wir uns bemüht, seine Gefangenschaft so positiv wie möglich zu gestalten. Wenn schon nicht für Boris, dann zumindest für den Rest der Welt. Wir ernährten Boris weitgehend vegan. Boris verfügte über zwei Jeans und zwei T-Shirts aus Bio-Baumwolle, die wir bewusst aus fairem Handel gekauft hatten. Keine Näherin in Bangladesch war dafür ausgenutzt worden. Während Boris früher jeden Tag mindestens hundert Kilometer in einer S-Klasse-Limousine zurückgelegt hatte, bewegte er sich nun seit sechs Monaten ausschließlich
CO
2
-neutral von einem Kellerraum in den anderen. Plastiktüten zum Einkaufen brauchte er auch nicht. Mit anderen Worten: Dank uns hatte Boris den ökologischen Fußabdruck eines einbeinigen Kleinkindes auf Stöckelschuhen. Jemanden von einem globalisierten Verschwender in einen lokal und saisonal konsumierenden Erdenbewohner zu verwandeln war gar nicht so schwer. Man musste den Menschen nur in einem Keller einsperren.
Noch immer standen wir vor der Gefängnistür, und mir fiel nichts Klügeres ein, als das Offensichtliche zu sagen: »Die Tür ist tatsächlich von außen aufgebrochen worden.«
»Ja. Das ist das eine. Aber schau mal in den ersten Raum.«
Im ersten Raum lag der Tisch zerbrochen auf dem Boden. Ein Stuhl war umgekippt. Boris’ Wasserflasche, eine Mehrweg-Karaffe aus bruchfester Emaille, lag ausgeschüttet auf dem Boden.
»Entweder Boris hat rumrandaliert, oder es hat ein Kampf stattgefunden.«
»Richtig«, stellte Sascha fest. »Aber warum sollte Boris mit seinem Befreier kämpfen?«
Das war in der Tat merkwürdig. Ich unterzog beide Zimmer einer gründlichen Inspektion, fand aber keinerlei Hinweise darauf, was hier unten vorgefallen sein könnte.
Sascha hatte unterdessen den in seine Bestandteile zerlegten Ikea-Schrank so gut es ging wieder zusammengefügt. Wir schlossen die Gefängnistür und schoben den Schrank davor. Das war der klare Vorteil von Ikea-Möbeln. Zerstört oder unzerstört sahen sie fast gleich aus.
Auf dem Weg aus dem Keller fiel mir wieder das pinke Spielhaus und das hochkant angelehnte Kettcar auf. Aus irgendeinem Grund ärgerte es mich. Wer auch immer das so hingestellt hatte, es sah unordentlich aus. Ohne groß zu überlegen, ging ich zu dem Spielhaus und wollte das Kettcar wieder auf seine vier Räder stellen.
Als ich das Kettcar zur Seite nahm, hörte ich ein schleifendes Geräusch. Die Tür des pinken Gartenhauses, gegen die vorher noch das Kettcar gelehnt war, öffnete sich. Zwei Männerbeine in Jeans und Socken drückten sie nach außen. In dem Spielzeug-Gartenhaus lag offensichtlich ein Mann.
Ich stellte das Kettcar auf den Boden und rief Sascha. »Schau dir das an.«
Sascha sah die beiden Füße und zückte eine Pistole.
»Du trägst eine Waffe?«
»Rein beruflich.«
»Du bist Kindergartenleiter.«
»Und das gewalttätigste Kind fehlt seit heute. Da fand ich eine Waffe angebracht.«
Wir näherten uns dem Häuschen. Sascha kickte mit dem Fuß gegen eines der Beine. Die Beine bewegten sich nicht. Ins Gartenhäuschen konnten wir nicht hineinsehen. Die Fenster waren geschlossen, und im Innern war es stockfinster. Wir schauten uns an, Sascha zeigte mit den Augen auf das Dach des Häuschens. Es war nur lose aufgelegt. Jeder von uns ergriff eine Seite des Daches, und dann hoben wir es vorsichtig herunter. Im Innenraum lag tatsächlich ein Mann. Mit Kabelbinder gefesselt.
Der Mann war nicht tot.
Der Mann war Boris.