Im Keller, vor dem schlafenden Boris stehend, überlegten Sascha und ich, was als Nächstes zu tun war. Das Haus war sicher. Niemand kam ungesehen rein oder raus. Dafür sorgten Walters Leute. Die konkrete Gefahr einer sofortigen Rache von Boris oder seinen Leuten war aus der Welt. Sie war einer diffusen Bedrohung durch diesen Unbekannten gewichen. Zumindest hatten wir dadurch Zeit gewonnen. Zeit, die ich gerne zum Durchatmen genutzt hätte. Konnte ich aber nicht. Dank meiner Ehefrau.
Ich würde nun erst einmal Katharinas Wunsch erfüllen, mich um Emily zu kümmern, damit sie mit wem auch immer zu Mittag essen gehen konnte. Damit sie Zeit für sich hatte – statt ich für mich . Aber wenigstens hatte ich dann Emily.
Auf dem Weg zu Emily konnte ich dann auch gleich noch ein neues Schloss für Boris’ Zelle besorgen. So lange würde es auch eine Notlösung tun. Sascha würde ohnehin in kurzen Abständen immer wieder im Keller nachsehen. Sobald die Betäubung von Boris nachließ, musste jemand bei ihm sein.
Wir stellten den Tisch und die Stühle in Boris’ Zwei-Zimmer-Wohnung wieder an ihren richtigen Platz, verschlossen seine Zellentür mit einem alten Fahrradschloss und gingen gemeinsam nach oben.
Im Eingang des Kindergartens kam uns der Glaser entgegen, der offensichtlich die Scheibe erneuern wollte. Er hatte einen DIN -A5-Briefumschlag in der Hand. Als er uns sah, kam er fragend auf uns zu.
»Wohnen Sie hier?«
»Wir betreiben den Kindergarten mit der kaputten Glasscheibe. Schön, dass Sie da sind«, antwortete Sascha.
»Na, dann ist der Brief hier wohl für Sie.«
Der Glaser gab Sascha den Umschlag. Ein brauner, gebrauchter, gepolsterter DIN -A5-Umschlag. Auf die Vorderseite war ein Adressaufkleber geklebt worden, auf dem in Maschinenschrift geschrieben stand: »An die Bewohner des Hauses«. In der rechten oberen Ecke klebte der Fetzen einer ausländischen Briefmarke – »eos« war auf dem linken Rand noch zu lesen.
»Wo haben Sie den her?«, wollte ich wissen.
»Lag auf dem Bürgersteig vorm Haus. Ich muss noch ein paar Sachen holen«, sagte der Glaser und ging zurück auf die Straße.
Sascha und ich sahen uns an. Ein anonymer Brief? Das verhieß nichts Gutes.
Ohne ein weiteres Wort zogen wir uns in den leerstehenden Gruppenraum der Nemo-Gruppe zurück. Dort riss Sasha den Umschlag auf. Er holte den Inhalt heraus und legte ihn auf den Basteltisch.
Es handelte sich um drei Polaroidfotos, die den schlafenden Boris im Lillifee-Gartenhaus zeigten, und ein Blatt Papier mit einem ausgedruckten Text. Der Text lautete:
Schön, dass ihr gleich den ganzen Kindergarten stilllegt, nur weil ich im Keller ein bisschen aufgeräumt habe. Ihr habt bis Ende der Woche Zeit, euren Gast zu töten. Am Freitagmorgen liegt der Kopf von Boris in einem Karton verpackt auf der Mauer vom Park gegenüber oder die nächste Bilderserie landet am Freitagabend bei der Polizei.
Sascha und ich ließen uns sehr ungelenk auf die viel zu kleinen Kindergartenstühle sinken. Mein inneres Kind fand zuerst die Sprache wieder.
» Wir töten Tapsi nicht! «
Ich steckte automatisch meine Hand in die Tasche und streichelte den Nachplappervogel. Das half zumindest auch mir, wieder Worte zu finden.
»Wir werden erpresst … von einem Idioten, dem wir noch nicht einmal einen neuen Briefumschlag wert sind.«
»Allein, dass der Typ uns das so offen zeigt, sagt uns eine Menge«, entgegnete Sascha.
»Was meinst du?«, fragte ich.
»Lassen wir mal den kranken Inhalt mit dem Kopf beiseite … Da stecken jede Menge Informationen im Text.«
Sascha hatte Recht. Dass wir erpresst wurden, ließ sich nicht ändern. Wir konnten uns dem Problem der Erpressung allerdings rational nähern.
»Dann lass uns unsere Eindrücke sammeln. Du fängst an.«
»Also«, sagte Sascha, »was mir als Allererstes auffällt: keine Anrede, keine Grußformel. Und er duzt uns. Ergo: kein Benehmen. Der Typ, der das verfasst hat, ist im tiefsten Inneren ein Flegel.«
»Sehe ich auch so. Zweitens: Der Typ beobachtet uns. Sonst wüsste er nicht, dass der Kindergarten heute geschlossen ist.«
Sascha nickte. »Vielleicht hat der Typ selbst ein Kind im Kindergarten. Dann hat er die Info heute Morgen sogar per WhatsApp bekommen und musste nur noch am Haus vorbeilaufen und den Brief fallen lassen.«
Mir kam ein Gedanke. »Er konnte aber nicht wissen, ob wir Boris schon gefunden haben oder nicht. Deshalb die Bilder von Boris im Lillifee-Haus. Der Typ will auf Nummer sicher gehen, dass wir Boris dort finden.« Und als Sascha gedankenverloren schwieg, fügte ich an: »Drittens: Der Typ hat Kontakte nach Spanien.«
»Wie kommst du darauf?«
»Die Silbe ›eos‹ auf dem Briefmarkenfetzen. ›Correos‹ ist die spanische Post. Der Typ wird heute festgestellt haben, dass er keine neutralen Briefumschläge mehr hat und hat einfach einen alten genommen.«
»Also suchen wir einen unorganisierten Flegel mit Kontakten nach Spanien, der uns beobachtet«, fasste Sascha zusammen.
Ich nickte. »Kommen wir zum Inhalt. Er will, dass wir Boris töten und ihm den Kopf abtrennen. Das sind für mich drei Informationen. Zuallererst: Er weiß, wer Boris ist.«
»Zweitens«, übernahm Sascha wieder, »ist der Typ pervers. Boris den Kopf abzuschlagen und in einem Paket auf eine Mauer zu stellen ergibt keinen Sinn, wenn da nicht jemand einen Riesensprung in der Schüssel und ein Faible für Gewalt hat.«
Das sah ich anders. Boris hatte ein sehr gewaltsames Leben vor dem Keller. Und in diesem Leben an der Erdoberfläche hatte das Abhacken eines Kopfes eine nicht ganz unbedeutende Rolle gespielt.
»Du kennst die Geschichte von Boris’ Ex-Frau?«, fragte ich Sascha.
»Annastasia? Die eine Affäre mit Dragan hatte? Klar.«
Boris und Dragan waren Kindheitsfreunde und hatten ihre kriminellen Karrieren gemeinsam begonnen. Sie waren unzertrennlich. Bis zu dem Tag, an dem Dragan Boris’ Frau vögelte. Eine wahnsinnig attraktive, ehemalige Prostituierte aus einem gemeinsamen Bordell der beiden. Boris kam dahinter, brachte seine Frau um, sägte ihr den Kopf ab und nagelte den Torso an Dragans Tür. Das war der Beginn ihrer Clan-Feindschaft, die Sascha und ich mit dem Verschwinden von Dragan und Boris mühsam beendet hatten.
»Wenn Boris’ abzuhackender Kopf ein Zitat bezogen auf seine Ex-Frau ist, dann könnte da durchaus was Persönliches im Spiel sein«, fasste ich zusammen.
»Dann suchen wir also einen Flegel mit einer Beziehung zum Kindergarten und zu Boris«, folgerte Sascha.
Außer Sascha und mir fiel mir niemand ein, der sowohl zu Boris als auch zum Kindergarten in einer Beziehung stand: Keiner von uns beiden war ein Flegel. Ich hatte Boris nicht freigelassen. Und bei Sascha hielt ich das auch für ausgeschlossen.
»Und drittens – das sollten wir nicht außer Acht lassen –, der Typ will uns tatsächlich leiden sehen. Sonst würde er das Ganze nicht als Spiel arrangieren. Boris freizulassen, ihn aber zu verstecken, seine Betäubung zu timen, uns zur Sicherheit die Fotos seines Verstecks zu schicken – das sind alles grausam verspielte Elemente. Vielleicht hat er gemerkt, dass wir im Grunde zu menschenfreundlich sind, um Boris zu töten. Vielleicht denkt er, wir hätten einen Grund, ihn nicht zu töten. In jedem Fall will er, dass wir Boris gegen unseren Willen umbringen.«
Da war er wieder. Der Druck auf den blauen Fleck, den meine Eltern in der Seele meines inneren Kindes hinterlassen hatten.
»Und wenn wir es einfach tun?«, fragte Sascha.
»Was?«
»Na, ihn umbringen.«
» Bist du wahnsinnig? Wir. Töten. Tapsi. Nicht! «, schrie es kindlich aus meiner Seele.
»Das meinst du jetzt nicht ernst, oder?«
»Nur als Gedankenspiel. Was passiert, wenn wir Boris umbringen und seinen Kopf in einem Paket auf die Mauer stellen?«
Dann fühlt sich mein inneres Kind erneut ziemlich verarscht, war die Antwort, die ich dachte.
»Wir haben uns vorgenommen, dass das Morden ein Ende hat«, war die Antwort, die ich sagte. »Das ist wie mit dem Nichtrauchen nach Silvester. Diesen Vorsatz sollte man – wenn überhaupt – nur freiwillig brechen. Nicht aus Gruppenzwang. Und schon gar nicht, weil einen ein Fremder dazu zwingt. Außerdem wären wir mit dem Mord dann ein Leben lang erpressbar, wenn wir diesem Idioten nachgeben. Wir haben bis Freitagmorgen Zeit herauszufinden, wer hinter der Erpressung steckt. Die Zeit sollten wir nutzen.«
»Und wenn wir das nicht schaffen?«
»Ich lebe im Augenblick. Darüber mache ich mir Gedanken, wenn es so weit ist.«
Das überzeugte Sascha zwar nicht ganz, unterband aber zunächst weitere Gedankenspiele bezüglich Boris’ Tod.
Sascha und ich verabredeten, von zwei Seiten aus zu versuchen, einen möglichen Täterkreis einzugrenzen. Er wollte alle Kindergartenbesucher auf Kontakte zu Boris hin untersuchen. Ich würde alle Boris-Kontakte auf Beziehungen zum Kindergarten abklopfen.
In jedem Fall würden wir den Kindergarten am nächsten Tag wieder öffnen. Eine unmittelbare Gefahr bestand nicht mehr. Und alles andere hätten wir den Eltern nicht erklären können.
Die Überwachung durch Walters Security-Teams wollten wir zunächst einmal beibehalten, solange Walter meine Geschichte vom goldenen Kind glaubte. Wer weiß, vielleicht würde der Erpresser den Überwachern auffallen.
Vier Tage, bis Freitag, waren in der Tat eine Menge Zeit, um ein Problem aus der Welt zu schaffen. Da hatte ich in jüngster Vergangenheit schon in kürzerer Zeit wesentlich mehr Probleme sehr achtsam umbringen lassen.
Es gab allerdings zwei Unterschiede zu früher. Von meinen früheren Problemen kannte ich die Namen. Und damals hatte ich dem Morden noch nicht abgeschworen.
Damals hatte ich allerdings auch noch keinen Kontakt zu meinem inneren Kind.