Wir waren gerade mit dem defekten Laufrad in der Wohnung angekommen, als Sascha anrief.
»Er wacht gerade auf. Kannst du runterkommen?«
»Im Moment schlecht. Ich habe Emily noch bei mir.«
»Wann hast du Zeit?«
Ich schaute auf die Uhr, mittlerweile war es halb vier.
»In einer halben Stunde.«
»Okay, ich bleib so lange hier unten bei ihm.«
»Notfalls stichst du ihm die Kanüle mit dem Schlafmittel noch mal in den Arm.«
Emily war schon ins Wohnzimmer gelaufen und malte am Esstisch Bilder. Ich brachte ihr eine Schale mit Knabbersachen und ein Fruchtquetschie. Ihr Lieblingsgetränk. Ich stellte beides auf den Tisch. Normalerweise atmete Emily so ein Fruchtquetschie mit zwei Zügen weg. Diesmal nicht. Sie saß plötzlich ein wenig irritiert auf ihrem Stuhl, hatte mit dem Malen aufgehört und schob das Fruchtquetschie zur Seite.
»Was ist los?« Ich rückte das Fruchtquetschie wieder zu ihr hin. Emily rückte es erneut weg. Das war ein sehr merkwürdiges Verhalten.
»Was hast du denn?«
»Schimpfst du wirklich nicht, wenn ich was sage?« Emily wirkte, als hätte sie vor dem Fruchtquetschie Angst.
»Mein Schatz! Du kannst mir alles sagen, was dich bedrückt. Du wirst für nichts davon Ärger bekommen. Versprochen. Was ist denn mit dem Fruchtquetschie?«
»Ich will nicht, dass die Erde stirbt.«
Ich verstand kein Wort. »Aber … Die Erde stirbt nicht. Und … was hat das mit deinem Fruchtquetschie zu tun?«
»Frauke hat gesagt, die Erde muss sterben, wenn wir Fruchtquetschies trinken.«
Frauke war die Jahrespraktikantin in der Nemo-Gruppe. Ich konnte mir nie Namen merken und baute mir deshalb immer Eselsbrücken. Meistens merkte ich mir dann die Eselsbrücken anstelle des Namens. Frauke hieß für mich nur »Lady Surrender«. Weil sie den Kampf um ihren Körper längst aufgegeben hatte. Dass sie ihre eigene Figur nicht retten konnte, hielt sie allerdings nicht davon ab, den ganzen Rest der Welt um ihre Figur drumherum retten zu wollen. Aber Lady Surrender hatte doch wohl nicht ernsthaft Dreijährigen erzählt, dass die Welt stirbt. Und vor allem nicht, dass die dreijährigen Kindergartenkinder, die den Blödsinn glaubten, auch noch daran schuld seien. Oder? Wegen Fruchtquetschies? So naiv konnte selbst Lady Surrender nicht sein. Emily wirkte allerdings so, als sei genau dies im Kindergarten geschehen.
»Tut mir leid«, sagte Emily schuldbewusst.
» Wo ist diese Frauke? «, meldete sich mein inneres Kind und erinnerte mich daran, dass der letzte Mensch, der meiner Tochter ein Fruchtquetschie-Verbot erteilen wollte, anschließend tragischerweise in eine Schlucht gestürzt war.
Es war meine Aufgabe als zweifacher Vater, sowohl die Schuldgefühle meiner Tochter als auch die aufkommende Wut meines inneren Kindes ernstzunehmen und aufzulösen. Ich versuchte beide zu beruhigen.
Emily nahm ich in den Arm, und meinem inneren Kind versprach ich, das mit Frauke zeitnah persönlich zu klären. Außerhalb der Berge.
»Mein Schatz. Die Erde stirbt nicht. Da hat die Frauke etwas falsch verstanden. Und vor allem könntest du, mein Schatz, mit nichts, was du tust, die Erde töten. Selbst wenn die ganze Nemo-Gruppe dir helfen würde.«
»Aber Frauke hat das gesagt. Und uns die Fruchtquetschies verboten.«
Katharina und ich hielten seit jeher allen familiären Ärger von unserer Tochter fern. Schon zu Zeiten, in denen ich von der Verletzbarkeit des kindlichen Urvertrauens noch gar nichts wusste. Wir packten Emily trotzdem nicht in Watte und erklärten ihr, kindlich verständlich, dass Tiere und Menschen sterben können, dass es Gefahren auf dieser Welt gibt und dass Mama und Papa sie vor diesen Gefahren beschützen. Wir versuchten ihr aber vorzuleben, dass das Leben schön ist. Ganz einfach, weil wir beide von der Wichtigkeit überzeugt waren, einem Kind zumindest vorzugaukeln, dass das Leben schön sei. Trotz aller Probleme, die Katharina und ich miteinander hatten und jeder für sich allein hatte und die zum Leben nun mal dazugehörten. Und trotz aller Gefahren, die mit dem Leben nun mal verbunden sind. Meiner eigenen Zukunftsangst zum Trotz wollte ich Emily die schönste Version der Zukunft vorleben, die ich mir vorstellen konnte. Ich hatte für mich in Bezug auf meine Tochter eine ganz klare Vision: Wenn ich heute schon wüsste, dass morgen Mittag ein Asteroid der Größe von Sylt auf den Kindergarten knallen und das Leben auf der Erde beenden würde, würde ich heute noch mit Emily die Buntstifte anspitzen, damit sie damit auch morgen Vormittag in allen Farben fröhlich Einhörner malen könnte.
Und dann kam da eine adipöse Jahrespraktikantin daher und machte diesen Ansatz zunichte, indem sie meiner Kleinen die blödsinnigen Glaubenssätze vermittelte, Fruchtquetschies würden die Erde umbringen? Und Emily sei dran schuld? Ich fasste es nicht. Wie sollte ich meiner Tochter mit einer kindlich nachvollziehbaren Erklärung die unsinnige Sorge nehmen, die Welt würde untergehen und sie sei dran schuld? Ich versuchte es einfach mal mit der Wahrheit.
»Mein Schatz … manchmal sagen Erwachsene dumme Sachen.«
»Warum?«
»Weil das zum Leben dazugehört. Dumme Sachen zu sagen lässt sich manchmal nicht vermeiden.«
»Muss die Erde nicht sterben?«
»Die Erde kann gar nicht sterben. Die Erde ist nämlich kein Mensch. Die Erde wird es immer geben.«
Dass sich in rund fünf bis sieben Milliarden Jahren die Sonne ausdehnen und sich die Erde einverleiben würde, ließ ich an dieser Stelle unerwähnt. Weil es weder mich noch meine vierzig Jahre jüngere Tochter direkt betreffen würde.
»Heißt dass, ich darf wieder Fruchtquetschies trinken?«
»Ich bitte darum!«
Emily umarmte mich. »Danke, Papa!«
Ich küsste meine kleine Tochter auf die Stirn und schob ihr das Fruchtquetschie hin. Sie trank gierig und malte dann weiter. Ich atmete bewusst dreimal ein und aus, um die Wut, die von meinem inneren Kind auf mich abgestrahlt hatte, zu beruhigen.
Mein inneres Kind hingegen wäre am liebsten sofort drei Etagen tiefer gerannt und hätte Lady Surrender empört zur Rede gestellt. Ich teilte ihm mit, dass das jetzt nicht ging. Ich musste ja auf meine Tochter aufpassen. Weil Lady Surrender nicht da war. Weil der Kindergarten heute geschlossen hatte. Weil im Keller ein Mafioso verschwunden war, der mittlerweile allerdings wieder aufgetaucht war, wenn auch schlafend. Der nun wieder aufgewacht war. Wenn auch nicht in meiner Gegenwart. Weil ich verhindert war. Weil meine Ehefrau Mittagessen war.
Irgendwie hing alles mit allem zusammen.
Ich versprach meinem inneren Kind, ihm die gewünschte Gelegenheit für ein ausführliches Gespräch mit Lady Surrender noch innerhalb unserer Partnerschaftswoche zu verschaffen.
Eine halbe Stunde danach wurde eine fröhliche Emily von einer ebenfalls, im Gegensatz zu heute Mittag, nun deutlich entspannten Katharina abgeholt. Ich erzählte Katharina von dem Fruchtquetschie-Vorfall. Katharina war genauso empört wie mein inneres Kind. Ich versprach ihr ebenfalls, mich um das Thema in einem direkten Gespräch zu kümmern.
»Ich habe heute Abend ja sowieso Elternratstreffen. Da werde ich das mit den Fruchtquetschies schon mal ansprechen.«
»Du und die anderen fünf Mütter?«, fragte Katharina vergnügt. Sie hielt sich gerne aus Standard-Mütter-Veranstaltungen raus. »Viel Spaß dabei! Ich bringe Emily morgen auf dem Weg zur Arbeit in den Kindergarten und hole sie dann am Nachmittag bei dir ab, okay?«
Völlig okay.
Mit einem Kuss auf die Wange verabschiedete sich Katharina von mir. Emily mit einem Kuss auf die Stirn. Ich freute mich. Aber wann hatte ich eigentlich das letzte Mal einen Kuss auf den Mund bekommen?