Hier, am anderen
Ende des Parks, befand sich das Café Meier-Dennhard. Ein Betrieb, der in den rund hundert Jahren seines Bestehens seine Innenausstattung samt Personal angeblich erst dreimal gewechselt hatte. Und das war gut so. Die letzte Renovierung hatte Anfang der achtziger Jahre stattgefunden, und das Personal blickte auf eine jahrzehntelange Service-Erfahrung zurück. Hier fühlte ich mich optisch und menschlich wie zu Hause. Obwohl ich erst seit einem halben Jahr im Viertel wohnte, kannten mich die Service-Damen mit Namen und wussten schon vor mir, was ich bestellen wollte.
»Guten Morgen, Herr Diemel. Doppelter Espresso und ein Wasser?«, wurde ich begrüßt, als ich durch die Tür trat. Ein Satz, den sich Kellner Nils aus dem Allgäu vielleicht besser auf sein Pailletten-T-Shirt hätte sticken lassen sollen. Ich nickte freundlich und bejahend und setzte mich an einen kleinen Zweiertisch im hinteren Teil des Cafés. Mein Espresso kam umgehend, und nach zwei kleinen Schlucken fühlte ich mich belebt genug, um Sascha anzurufen. Ich wollte ihm vom Lippenmonster erzählen und von den Holgersons in Walters Keller, doch er kam mir zuvor.
»Gut, dass du anrufst. Der Erpresser hat sich gerade eben gemeldet.«
»Wieder ein Brief vor der Haustür?«
»Nein, per E-Mail. Und bevor du fragst – Fantasienamen.
IP
-Adresse von den Philippinen. Hab ich schon gecheckt.«
»Und was schreibt er?«
»Ich leite die Mail an dich weiter. Lies sie, und ruf mich anschließend wieder an, okay?«
»Gut.«
Ich hatte auf meinem Smartphone aus Achtsamkeitsgründen kein E-Mail-Postfach eingerichtet. Ich wollte nicht alle zwanzig Minuten nachschauen, ob Post da war. Um mich entweder darüber aufzuregen, dass keine da war, oder darüber, mit welchen Belanglosigkeiten ich wieder belästigt wurde. Kein Mensch wäre vor zwanzig Jahren auf den Gedanken gekommen, alle zwanzig Minuten an den Briefkasten zu gehen, um nach Post zu gucken. Der Briefträger kam einmal am Tag. Das reichte völlig. Danach war das Thema »Sie haben Post« für die nächsten vierundzwanzig Stunden erledigt. Genauso handhabte ich es jetzt auch mit meinen E-Mails. »Digital Detox« hieß das in meiner Welt der Achtsamkeit. Selbst mein berufliches E-Mail-Postfach am Rechner zu Hause hatte ich auf einer separaten Benutzeroberfläche. Auf diese schaltete ich exakt zweimal am Tag um. Zu festgelegten Zeiten. Um meine Mails zu checken. Den ganzen Permanente-Erreichbarkeits-Blödsinn von früher war ich damit los.
Doch dies war ein Notfall. Also ging ich, um Saschas Mail zu lesen, mit dem Smartphone ins Internet und öffnete die Homepage meines Mail-Anbieters. Ich gab mehrfach das falsche Passwort ein. Warum man für seine Passwörter mittlerweile so viele Zahlen und Sonderzeichen verwenden musste, dass man sie sich selbst nicht mehr merken konnte, erschloss sich mir nicht. Früher hat einem der Briefträger die Post auch ausgehändigt, weil er den Empfänger persönlich kannte. Und nicht weil man ihm »K@tz3nfee!« ins Ohr hauchte. Wenigstens hielt mich mein Rechner zu Hause mittlerweile für senil genug, dass er mir die Passwörter, die eigentlich ich ihm mitteilen sollte, schon immer selber zuerst anbot.
Mein Handy tat dies nicht. Deshalb musste ich wie beim Spiel »Mastermind« herausfinden, ob mein E-Mail-Passwort »emi!y«, »
EMI
!Y«, »3mi!y« oder »3
MI
!Y« war. Nach fünf Minuten wusste ich es. Das Passwort lautete »kathar1n@«.
Sascha hatte mir die Mail des Erpressers kommentarlos weitergeleitet.
»Schön, dass der Kindergarten wieder aufhat. Ein Kopf bis Freitag. Ein Ohr bis morgen. Oder der nette Kindergartenvater auf den anhängenden Fotos erfährt, wer unter dem Gruppenraum seines Sohnes wohnt. Das Ohr liegt morgen früh, um 7.00 Uhr, in das Titelblatt der aktuellen Bildzeitung gewickelt, auf der Mauer gegenüber dem Kindergarten. Vorher habt ihr das abgeschnittene Ohr von allen Seiten fotografiert. Zusammen mit der Zeitungsseite. Und die Fotos an diese E-Mail-Adresse geschickt.«
Im Anhang befanden sich zwei Fotos. Auf beiden war der nette Kindergartenvater zu sehen, den ich nur zu gut kannte: Peter Egmann. Der Kommissar.
Wir sollten Boris also innerhalb von weniger als vierundzwanzig Stunden ein Ohr abschneiden. Was für ein kranker Wahnsinn. Ich versuchte, die mich überkommende Panik über diese völlig irreale Vorstellung zu unterdrücken.
Es gab eine Achtsamkeitsübung, die für gewöhnlich immer gut funktionierte. Ich wollte mich auf irgendetwas Reales konzentrieren, das ich mit allen Sinnen betrachten und beschreiben konnte. Wenn mein Gehirn damit beschäftigt war, etwas Reales wahrzunehmen, hatte es keine Kapazitäten frei, sich mit einer völlig irrealen Vorstellung wie dem Abschneiden eines Ohres zu beschäftigten. Ich konzentrierte mich deshalb einfach auf die anhängenden Bilder von Peter Egmann. Wie ich feststellte, war eine
JPEG
-Datei kein wirklich guter Gegenstand, um ihn mit allen Sinnen wahrzunehmen. Die Datei hatte kein Gewicht, keinen Geruch, keinen Geschmack. Aber das Bild hatte eine Form, eine Farbe, einen Inhalt. Ich konzentrierte mich also achtsam auf Letzteren.
Das erste Bild zeigte, wie Peter Egmann seinen Sohn offensichtlich heute Morgen zum Kindergarten gebracht hatte. Jedenfalls sagte das ins Bild gestanzte Datum dies aus. Peters Wagen stand, wie der vieler Eltern, in zweiter Reihe auf der Straße. Peter hatte seinen Sohn auf dem Arm, um ihn vor dem Verkehr zu schützen.
Das zweite Bild zeigte, wie Peter fünf Minuten später, ohne seinen Sohn, zum Wagen zurückkam und das zwischenzeitlich unter seinem Scheibenwischer befestigte Knöllchen zerriss.
Anstatt mich zu beruhigen, fing meine Fokussierung auf dieses Bild sofort an, mich aufzuregen. Nicht wegen Peter. Und bestimmt war dem Erpresser auch gar nicht klar, wie sehr er mein Blut mit diesem Bild in Wallung brachte. Es ging um das Parken vor dem Kindergarten.
In den Stoßzeiten, also beim Bringen und Holen der Kinder, gab es mangels ausgewiesener Parkzonen gar keine Alternative zum Falschparken. Jeder Handyshop bekam Sonderparkzonen für den Lieferverkehr. Kindergärten leider nicht. Entsprechend kam regelmäßig das Ordnungsamt vorbei und verteilte Knöllchen. Und genau das regte mich beim Betrachten des Bildes von Peter auf. Wenn ich abends um zehn Uhr beim Ordnungsamt anrief, um mitzuteilen, dass der Kinderspielplatz von Erwachsenen zweckentfremdet wurde, interessierte das die staatlichen Organe nicht die Bohne. Wenn Anwohner morgens um acht Uhr beim Ordnungsamt anriefen, um mitzuteilen, dass dreijährige Kinder von ihren Eltern von dem in zweiter Reihe parkenden Wagen in den Kindergarten getragen wurden, war der Staat sofort zur Stelle.
Würden sich die Behörden um Park-Assis genauso intensiv kümmern wie um Parksünder, hätte ich jetzt nicht zwei von Ersteren bei Walter im Keller.
Aber wir Eltern waren beim Thema Falschparken ja selbst schuld. Warum brachten wir unsere Kleinen nicht einfach mit dem alle Verkehrsprobleme lösenden E-Roller in die Kita? In der Tat stand in unregelmäßigen Abständen immer mal wieder ein vereinzelter Elektroroller auf dem Gehweg vor dem Kindergarten. Was auch immer für ein Idiot den wohl zusammen mit einem Kind im Straßenverkehr benutzte.
Vielleicht wäre allen Beteiligten geholfen, wenn zu den Bring- und Hol-Zeiten der Kinder jeweils ein Hochzeitskorso die Kindergartenstraße blockieren würde. Wenn die Eltern in einem solchen Stau steckten, könnten sie ganz ohne Bußgeld aussteigen und sich um ihre Kinder kümmern. Aber ich hatte noch kein Start-up entdeckt, das Hochzeitskorsos als »Sharing«-Modell vermietete.
Eins hatte ich zumindest mit dem Aufregen über die Parksituation geschafft: Ich hatte minutenlang nicht mehr an das abzuschneidende Ohr von Boris gedacht. Oder an die Holgersons.
Ganz anders mein inneres Kind. Es meldete sich zu Wort.
»
Sorry, wenn ich störe, aber es geht in dem Brief nicht um Falschparker. Es geht um Ohren
.«
»
Es geht um ein einzelnes Ohr, um genau zu sein
«, korrigierte ich mein inneres Kind.
»
Und wenn es nur um ein halbes Ohrläppchen gehen würde – wir schneiden Boris nicht das kleinste Stückchen Ohr ab. Das wollen wir nicht. Das sind wir Tapsi schuldig. Sind wir uns da einig?
«
»
Ich will das auch nicht. Aber mir fällt ad hoc keine Lösung ein. Dir etwa?
«
Und tatsächlich – mein inneres Kind hatte eine Idee. Und die war unter den nun mal nicht zu verleugnenden Umständen gar nicht mal so schlecht.