Das Parken in zweiter Reihe war in der Tat gerade das geringste meiner Probleme. Ich rief Sascha zurück, um das größte Problem aus der ersten Reihe zu erörtern: die Erpressung.
»Wir müssen uns treffen.«
»Soll ich hochkommen?«
»Ich bin nicht in der Kanzlei. Ich bin im Café gegenüber.«
»Ich hol dich ab, und wir gehen spazieren. Du hast es ja gesehen – offensichtlich beobachtet uns dieser Idiot nach Lust und Laune. Mit ein wenig Glück entdecken Walters Leute jemanden, der uns folgt.«
»Ein Schuss ins Blaue?«
»Fällt dir was Besseres ein?«
»Ja. Aber das sollten wir persönlich besprechen. Komm vorbei, und wir gehen spazieren.«
»Mit oder ohne Security?«
»Mit. Kann nicht schaden.«
Ich hatte meinen doppelten Espresso bereits bezahlt und wartete vor der Tür, als Sascha erschien. Wir beschlossen, ein wenig durch die am Vormittag menschenleer vor uns liegenden Straßen des Viertels zu spazieren. Es gab genug zu besprechen. Ich klärte Sascha zunächst darüber auf, was gestern Nacht dort vorgefallen war.
»Mit anderen Worten,« fasste Sascha meine Zusammenfassung mit einer Sorgenfalte auf der Stirn zusammen, »die Lügengeschichte mit den Holgersons entwickelt eine Eigendynamik.«
»Hast du ein Problem damit?«
»Als es darum ging, uns vor einem ausgebrochenen Boris zu schützen, fand ich die Geschichte echt gut. Zum Glück ist Boris nicht ausgebrochen. Die Geschichte jetzt weiterzuentwickeln, um abends Ruhe zu haben, war vielleicht ein bisschen … wie soll ich sagen? Kindisch.«
»Kindlich«, korrigierte ich.
»Ich weiß, dass Deutsch nicht meine Muttersprache ist. Aber was bitte ist der Unterschied zwischen kindisch und kindlich, auf den du mich seit gestern bereits zweimal hingewiesen hast?«
»Kindisch ist das unreife Verhalten eines Erwachsenen. Kindlich ist das altersgemäße Verhalten eines Kindes.«
Sascha schaute mich an.
»Sorry, aber wenn ich mich nicht irre, bist du dreiundvierzig Jahre alt und Rechtsanwalt.«
»Und in jedem Erwachsenen steckt das Kind, das er mal war.«
Sascha hinterfragte das dahinterstehende psychologische Konzept nicht. Ich hatte auch nicht vor, es ihm an dieser Stelle zu erläutern.
»Meinetwegen. Dann sag dem Kind in dir bitte, dass es naiv ist zu glauben, dass nicht jede Handlung Konsequenzen nach sich zieht.«
Ich beruhigte den Nachplappervogel in meiner Tasche mit einer tätschelnden Handbewegung.
»Nicht weniger als genau diese Erfahrungen haben doch gestern Nacht die Jungs aus dem Park gemacht, oder?«, verteidigte ich den gestrigen Wunsch meines inneren Kindes gegenüber Sascha. Der verstand diese Logik allerdings nicht sofort.
»Versteh mich nicht falsch – das Gebrülle nachts von den Idioten geht mir auch auf den Zeiger. Und ich war schon mehrfach kurz davor runterzugehen und denen persönlich ein paar Laschen zu verpassen. Aber wollten wir nicht in Zukunft auf Gewalt verzichten? Und was hat uns die Gewalt von Walter gebracht? Jetzt haben wir zwei massive Probleme mehr am Hals. Ich finde den Gedanken eher beunruhigend, neben Boris in unserem eigenen Keller nun auch noch zwei Holgerson-Mitglieder in einem weiteren Keller am anderen Ende der Stadt zu Gast zu haben. Zwei Typen, mit denen wir nicht das Geringste anfangen können.«
»Vielleicht hat sich das ja soeben geändert, und wir können mit den beiden doch etwas anfangen …«
Ich erläuterte Sascha die Idee, die mir mein inneres Kind vorhin bezüglich Boris’ Ohr mitgeteilt hatte. Sascha brauchte eine Weile, um den Vorschlag zu verstehen.
»Wir sollen denen die Ohren abschneiden?« Sascha war fassungslos.
»Nicht denen und nicht die Ohren. Es geht hier nur um ein Ohr«, versuchte ich die Diskussion zu versachlichen.
»Ich glaube nicht, dass es so klug ist, diese Holgerson-Lügengeschichte noch weiter eskalieren zu lassen. Ohren-Abschneiden ist echt eine Hausnummer.«
Komisch. Als mein inneres Kind mir diese Idee erzählt hatte, hörte sie sich für mich sehr schlüssig an. Ich musste Sascha wohl selber erklären, was ich an der Idee so gut fand. Nämlich, dass sie den Wünschen meines inneren Kindes entsprach, unseren Gast im Keller unangetastet zu lassen. Und dass die Umsetzung dieser Wünsche negative Erfahrungen aus der Kindheit überschreiben könnte. Ich hatte aber das Gefühl, bei der Erklärung besser auf die Begriffe »Partnerschaftswoche«, »negativer Glaubenssatz«, »Stärkung des Urvertrauens«, »Rüstung« und vor allem »Tapsi« zu verzichten, um Sascha nicht zu überfordern.
» Ein Ohr«, korrigierte ich Sascha erneut. »Und wir würden das eine Ohr ja auch nicht zur Strafe abschneiden, weil die abends im Park rumgesessen und ›Fotze‹ gebrüllt haben. Wir würden das eine Ohr einem fremden Arschloch abschneiden, das mit fünfzehn Gramm Koks dealend, mit Schuss- und Stichwaffen bewaffnet einen Kinderspielplatz mit Glasscherben unbenutzbar gemacht hat.«
Sascha war immer noch nicht überzeugt.
»Hast du einen besseren Vorschlag?«, fragte ich ihn. Er hatte keinen. »Hör zu, Sascha, was ist dir lieber – heute Abend eigenhändig eins von Boris’ Ohren abzuschneiden oder heute Nachmittag ganz diskret von Walters Leuten ein Ohr von den Idioten in einer kleinen Dose überbracht zu bekommen?«
»Also ich weiß nicht …«
»Um es auf eine einfache Formel zu bringen – wir haben sechs Ohren im Angebot. Vier unbekannte Ohren und zwei bekannte. Von einem der sechs müssen wir uns trennen. Wie willst du dich entscheiden?«
» Gute Argumentation. Zum ersten Mal fühle ich mich ohne Rüstung sicher «, lobte mich mein inneres Kind.
»Wenn du so fragst …«
»Na also.«
»Und wie stellst du dir das konkret vor? Ich meine – mit einem fehlenden Ohr können wir die nie wieder aus dem Keller rauslassen.«
»Sähe das mit zwei intakten Ohren pro Person irgendwie anders aus? Die Typen kennen unsere Namen. Die wissen, wer sie aus dem Park geholt hat. Die wissen nur nicht, warum. Und das würden sie und ihre Holgerson-Familie so oder so mit allen Mitteln erfahren wollen.«
»Und wie sollen wir mit den beiden und ihren dann drei Ohren anschließend verfahren? Ich dachte, wir wollten nicht mehr morden.«
Wieder meldete sich mein inneres Kind zu Wort.
» Da machen wir uns jetzt keine Gedanken drum. Wir leben wertungsfrei und liebevoll im Augenblick. Wenn wir ein Ohr brauchen, brauchen wir ein Ohr. Wenn wir ein anderes Problem haben, haben wir eine anderes Problem«, bemerkte mein inneres Kind zwischen weise und altklug. Zu einer Zeit, in der ich keine Ahnung von meinem inneren Kind hatte, hatte mein inneres Kind also aufmerksam den ganzen Achtsamkeitskurs mit mir verinnerlicht. Aber es hatte völlig recht. Jetzt, in diesem Moment, war das Problem einzig und allein, dass wir kurzfristig ein Ohr abliefern mussten. Nicht, was mit den Typen in Walters Keller anschließend langfristig geschehen sollte.
»Da mache ich mir jetzt keine Gedanken drum. Ich lebe im Moment«, beantwortete ich Saschas Frage.
»Im Moment frage ich mich, was wir Walter konkret sagen sollen. Mit welcher Begründung soll einem der Holgersons ein Ohr abgeschnitten werden?«
»Pffff … Warum schneiden Verbrecher anderen Verbrechern Ohren ab?«, stellte ich als Gegenfrage in den Raum.
» Als Botschaft «, antwortete mein inneres Kind spontan. » Dragan sagt den Holgersons mit dem Ohr ziemlich deutlich: Egal was Boris mit eurem goldenen Kind angestellt hat – Finger weg von meinen Leuten! Mit der Drohung schützt er uns
Das war eine überraschend schnelle, überraschend schlüssige Erklärung. Außerdem könnte sie der erste Schritt dahin sein, die gegenüber Walter erfundene Holgerson-Gefahr Schritt für Schritt wieder herunterzufahren.
»Anweisung von Dragan. Als kleines Zeichen an die Holgersons, was passiert, wenn sie dir oder mir zu nahe kommen.«
»Aber die Holgersons sind uns doch gar nicht …«, wollte Sascha einwenden.
Ich ließ ihn nicht ausreden. »Das wissen du, ich und die Holgersons. Für Walter sollten wir schlüssig in der Geschichte bleiben, die er uns bislang noch glaubt.«
»Okay – klingt plausibel. Wird aber für den, der es tut, eine unschöne Angelegenheit werden.«
»Das muss es gar nicht. Ich hab da eine ziemlich gute Idee …« Was insofern gelogen war, als auch diese Idee eine Idee meines inneren Kindes war. »Was wir haben, sind zwei Kleinkriminelle, fünfzehn Gramm Koks, zwei Pistolen und drei Messer. Was wir brauchen, ist ein Ohr. Die Lösung besteht in drei einfachen Schritten. Erstens: Wir geben den Jungs je ein Gramm Koks wieder. Zweitens: Wenn die beiden sich damit aufgeputscht haben, geben wir den Jungs je ein Messer wieder. Drittens: Wir geben den Jungs eine leicht erlogene Aufgabe: Wer von euch dem anderen zuerst ein Ohr abschneidet, kommt hier mit zwei Ohren wieder raus.«
»Und was passiert, wenn die beiden gar nicht koksen wollen?«
»Irgendeinen Lösungsbeitrag werden ja wohl auch Walters Leute selbstständig auf die Reihe kriegen. Mach ihnen klar, dass ich kreative Mitarbeit von ihnen erwarte.« Ich wollte diese leidige Diskussion endlich beenden. Dragan gegenüber hätte es sicherlich nicht so viele Nachfragen gegeben. »Wie schwer kann es sein, zwei Dealer dazu zu bringen, ihren eigenen Stoff zu konsumieren?«
Ich für meinen Teil fand den Plan meines inneren Kindes genial. Jedenfalls noch zu diesem Zeitpunkt. Als mir noch nicht klar war, dass Saschas Bedenken tatsächlich auf ein nicht unbedeutendes Problem hinwiesen.