»Wow,« Sascha war offensichtlich beeindruckt. »Lernt man sowas als Anwalt?«
»Nein, in Ratgebern. Längere Geschichte. Könntest du Walter bitte entsprechend briefen?«
»Warum fahren wir nicht direkt zu Walter?«
»Ich bin jetzt noch mit einem möglichen Mandanten zum Mittagessen verabredet.«
»Mit wem?«
»Dem Bruder von Laura.«
»Laura?«
»Laura Frieling. Die Mutter von Max. Meine Stellvertreterin im Elternbeirat der Nemo-Gruppe.«
»Die attraktive Ärztin? Machst du dich an den Bruder ran, um die Schwester rumzukriegen?«
Ich wollte Sascha nicht an meiner Ehekrise teilhaben lassen. »Rein beruflich. Neues Mandat«, wich ich aus.
»Ich dachte, du willst keine neuen Mandanten? Und dann noch so einen Vollidioten?«, fragte Sascha nach. Offensichtlich war mein inneres Kind nicht allein mit seinem Zweifel an der Richtigkeit dieses neuen Mandates.
»Du kennst diesen Kurt?«
»Klar. Der holt einmal die Woche Max ab. Regelmäßig zu spät. Und manchmal auf so einem albernen Elektroroller. Vorletzte Woche erst ist er über eine Stunde nach Kindergartenschluss gekommen. Dummerweise war niemandem aufgefallen, dass Max noch da war. Hatte sich wohl versteckt, als die Erzieherinnen gingen. Max hatte freie Bahn. Bis dieser Kurt bei mir klingelte. Gut, dass ich hier wohne.«
Seit vorletzter Woche redete Max vom Lippenmonster, über das ich mir vor lauter Ohren in der letzten halben Stunde gar keinen Kopf mehr gemacht hatte. Vorletzte Woche. In der Woche hatte Boris das kindliche Pfeifen im Keller gehört. Ich erzählte Sascha davon, dass Lauras Sohn Max offensichtlich Boris’ erster Besuch im Keller war.
»Hatte Max in der einen Stunde die Chance, in den Keller zu kommen?«, wollte ich wissen.
Sascha überlegte. »Keine Ahnung. Aber … ausgeschlossen ist das nicht. Die Kindergartentür war nicht abgeschlossen. Die Tür zum Keller auch nicht. Außer uns wohnt hier ja keiner mehr. Als der Bruder bei mir geklingelt hat, haben wir festgestellt, dass Max mutterseelenallein in der Nemo-Gruppe spielte. Wo er in der Zwischenzeit überall war – keine Ahnung.«
»Ob dieser Kurt das weiß?«
»Das weiß ich wiederum nicht.« Sascha zuckte die Schultern. »Aber der Kerl wirkt auf mich durch und durch unseriös. Vielleicht ist es gar keine schlechte Idee, ihn auf die Geschichte mit dem Lippenmonster hin abzuklopfen. Ich meine – die Schwester sieht scharf aus – aber so scharf, dass du den Bruder als Mandanten willst? Na ja, du bist erwachsen.«
Diese tolerante Einstellung hätte ich mir auch von Katharina gewünscht. Ich wusste jedenfalls jetzt, dass ich Kurt unter sehr vielen Gesichtspunkten sehr kritisch betrachten sollte.
Wir befanden uns schon auf der Straße unseres Hauses, als wir zum Abschluss noch schnell die Ergebnisse unserer Kindergarten-Boris-Connection-Suche durchgingen. Sie waren mehr als bescheiden.
Ich hatte eine Liste erstellt, Sascha auch.
Seitens Dragans Clan hatten zwei Officer eine persönliche Beziehung zum Kindergarten. Die Schwester von Walter, der uns bereits bewachte, hatte ihren Sohn bei »Wie ein Fisch im Wasser« angemeldet. Und die neue Freundin von Stanislav, Dragans Officer für Menschenhandel, hatte ihre Tochter in der Flipper-Gruppe. Bei beiden bestand aber keinerlei Motiv, sich an Boris, Sascha oder mir zu rächen. Sie hatten weder Kenntnis von Boris im Keller noch Interesse daran, Sascha und mir zu schaden.
Von den »zivilen« Eltern des Kindergartens wussten explizit Peter Egmann, der Kommissar, und Herr Breuer, der Leiter des Bauamtes, dass Sascha und ich eng mit einem Mafia-Clan verbunden waren. Drei weiteren Eltern hatten wir aus den bereits erwähnten Aspekten des Kindeswohls einen Platz für ihr Kind zukommen lassen. Diese Eltern hatten zwar von der Struktur des Kindergartens eine Ahnung, von Boris’ Existenz aber keinen blassen Schimmer.
»Diese Namenslisten bringen uns im Moment nicht weiter«, resümierte ich.
»Leider nein. Der Erpresser muss eine Verbindung zu Boris und zum Kindergarten haben. Wir sehen sie nur leider nicht. Ich hab noch was anderes versucht – leider mit genauso wenig Erfolg.«
Sascha reichte mir eine weitere Namensliste.
»Ich habe mal überlegt, welche Eltern Zugang zu dem rezeptpflichtigen Betäubungsmittel haben könnten, mit dem Boris sediert worden ist.«
»Gute Idee. Bringt uns das weiter?«
»Auch nicht wirklich. Zwei Eltern betreiben jeweils eine Apotheke. Vier sind Ärzte und könnten das Rezept ausgestellt haben.«
Ich schaute auf die Liste. Laura stand als Ärztin auch darauf. Aber sie hatte keinerlei Verbindung zu Boris. Sie war erst vor einem halben Jahr in die Stadt gezogen. Da befand sich Boris schon in unserem Keller. Auch bei keinem der anderen Namen war irgendeine Verbindung zu Boris erkennbar.
Inzwischen waren wir vor dem Kindergarten angekommen. Um über die Inhalte der Elternbeiratssitzung zu reden, hatten wir gar keine Zeit gehabt. Das würde ich nachholen. Wir verabschiedeten uns im Hausflur, und ich war rechtzeitig in meiner Wohnung, um Kurts Abhol-Anruf zu erwarten. Auf der Straße hatten wir uns noch kurz bei den Security-Mitarbeitern erkundigt – uns war niemand gefolgt.