Kurt kannte Boris. Das musste ich erst einmal sacken lassen. Obwohl – er kannte ihn ja gar nicht. Angeblich hatte er ihn noch nie gesehen. Aber gleichzeitig hatte sein Patenkind Max rein zufällig die Gelegenheit gehabt, Boris unbeobachtet im Keller zu hören. Und sprach seitdem vom Lippenmonster. Nein – das konnte kein Zufall sein.
» Das kann ja wohl kein Zufall sein. Der Roller-Fatzke spielt mit uns «, meldete sich prompt mein inneres Kind.
» Aber warum? Das ergibt doch keinen Sinn? Warum sollte die fleischgewordene Klimakatastrophe uns erpressen? Und sich dann obendrein auch noch mit mir treffen? «, fragte ich uns.
» Aus dem gleichen Grund, warum er ohne jedes Schamgefühl aus der Klimakatastrophe ein Geschäftsmodell macht. Weil er dreist ist und glaubt, dass er es kann «, meinte mein inneres Kind.
Oder weil er ein inneres Kind hatte, von dem er nichts wusste, das ihm aber einredete , er könne das. Allerdings war ich nicht Psychologe, sondern Anwalt. Folglich versuchte ich, mich der Frage juristisch zu nähern.
»Und was kann ich als Anwalt jetzt für dich tun?«, fragte ich Kurt. »Ich weiß schließlich auch nicht, wo sich dein Vermieter aufhält.«
»Soll ich lieber die Polizei einschalten, weil mein Vermieter verschwunden ist?«, fragte Kurt mit einem Hauch von Scheinheiligkeit.
»Kommt drauf an, was du erreichen willst«, antwortete ich mit reaktionsloser Miene.
Redeten wir gerade über die Tür zum Stromkeller oder über die Erpressung?
»Ich dachte mir, du kannst den Vermieter mit irgendeiner Frist dazu auffordern, den Keller zu öffnen, sonst … verklagst du den. Keine Ahnung. Was Anwälte halt so machen.«
»Gut. Angenommen, wir verklagen ihn, dann hast du frühestens in neun Monaten ein Urteil, das dich dazu berechtigt, die Tür von einem Schlüsseldienst öffnen zu lassen. Bringt dich das bei deinem Problem weiter, dass du zeitnah eine neue Verkabelung brauchst?«
»Ich sag mal so, wenn die Hütte innerhalb der neun Monate abbrennt, weil irgendeine Sicherung durchknallt, dann bin ich alle finanziellen Sorgen los.«
Ich guckte irritiert und bekam auch gleich die großkotzige Erklärung von Kurt.
»So gut, wie ich versichert bin, ist ein brennendes Geschäft für mich noch lukrativer als ein florierendes. Aber wir sollten uns nicht neun Monate Zeit lassen, dem Vermieter meinen Willen aufzuzwingen, oder? Trotzdem – was soll ich sonst machen?«
»Wenn du begründen kannst, dass es wirklich drängt, bekommen wir im einstweiligen Rechtsschutz schneller einen Titel. Das dauert dann maximal ein paar Wochen.«
»Schneller geht’s nicht?«
»Nimm dir ein Stemmeisen, und brich die Tür auf. Nennt sich Selbsthilfe.«
»Hast du eine Ahnung, wie schwer das ist, eine Eisentür im Keller aufzubrechen?«, fragte mich Kurt in einem fast naiven Tonfall.
»Nein, du?«, fragte ich fast provozierend zurück.
Kurt überhörte meine Frage. »Wenn das dein juristischer Rat ist, probiere ich das gern aus.«
Redeten wir hier gerade beide um den heißen Brei herum, oder war das alles nur ein blöder Zufall? Vielleicht wollte ich einfach jemanden haben, den ich verdächtigen konnte. Kurt stand zufälligerweise in einer geschäftlichen Beziehung zu Boris. Und Max hatte sich ein Lippenmonster ausgedacht. Das war es aber auch schon.
Ach ja – und Kurt hätte sich das Betäubungsmittel für Boris über seine Schwester besorgen können.
Viele wesentlichere Dinge waren mir dabei aber viel zu unklar: Welches persönliche Interesse sollte Kurt an Boris’ Kopf haben? Und warum sollte er obendrein auch noch meine Nähe suchen?
Sascha und ich hatten immerhin noch gut drei Tage Zeit, das herauszufinden.
Kurt war mir in jedem Fall eins: abgrundtief unsympathisch. Ich leitete über zum Ende des Essens.
»Dann überleg du dir doch, ob ich deinen Vermieter verklagen soll, und melde dich einfach wieder. Das Essen jedenfalls war sehr lecker. Danke für die Einladung.«
» Du willst den Typen wiedersehen? «, empörte sich mein inneres Kind.
» Halte deine Freunde nah bei dir, aber deine Feinde noch näher «, antwortete ich.
» Ah – Zitat aus Der Pate . «
Ich konnte der ganzen Welt etwas vorspielen, aber meinem inneren Kind offensichtlich nicht.
Kurt und ich tranken noch jeder einen Espresso, und Kurt bezahlte die Rechnung. Sein Angebot, mich von seinem Fahrer wieder zum Kindergarten fahren zu lassen, lehnte ich dankend ab. Ich war froh, diesen Typen so schnell wie möglich loszuwerden, und fuhr mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause.
Unterwegs versuchte ich Sascha zu erreichen, um ihm von Kurt zu erzählen. Bei Sascha ging keiner ran.
Ich probierte es noch einmal bei Katharina. Emily würde gleich nach dem Kindergarten von Katharina abgeholt werden. Manchmal wollte Emily dann noch kurz zu mir in die Wohnung oder in die Kanzlei. Katharina und ich würden uns beide nicht vor Emily streiten. Aber ich wollte auch die nonverbalen Spannungen vorher gern aus der Luft nehmen.
Entgegen meiner Erwartung ging Katharina nach dreimal Klingeln ran.
»Katharina,« begann ich vorsichtig, »ich würde dir gern erklären, was du da im WC -Spiegel gelesen hast.«
»Du musst mir nichts erklären«, erwiderte sie.
Ich hatte keine Ahnung, ob das positiv oder negativ gemeint war.
»Aber wir sollten uns zumindest mal in Ruhe darüber unterhalten. Und nicht zwischen Tür und Angel«, versuchte ich die Kommunikation in Gang zu halten.
Wertungsfrei betrachtet, war das darauffolgende Schweigen zumindest positiver, als wenn Katharina gar nicht erst drangegangen wäre oder wieder aufgelegt hätte.
»Katharina?«
»Ja. Du hast recht. Lass uns reden.«
»Wenn du nachher Emily vom Kindergarten abholst?«
»Ich … bin vom ersten Tag im Job ein wenig platt. Ich würde Emily gleich einfach nur abholen und mit nach Hause nehmen. Aber morgen könnte ich eine halbe Stunde vor dem Abholen bei dir sein. Wäre halb vier bei dir okay?«
»Gut, abgemacht. Und – wie war dein erster Arbeitstag?«
»Ansonsten sehr schön. Es ist gut, sich wieder als Mensch und nicht nur als Mutter zu fühlen.«
»Ist da ein Unterschied?«
»Wer ist denn mit fünf Müttern im Elternbeirat?«
»Touché.«
Ich hatte gerade aufgelegt, da klingelte mein Handy erneut. Es war aber nicht Katharina, sondern eine mir unbekannte Nummer.
»Björn Diemel.«
»Und, war es schlimm?«, fragte mich Laura.
» Einer schlimmer als der andere «, rief mein inneres Kind. »Sowohl der Spruch auf dem Spiegel als auch der Bruder.«
»Was meinst du genau? Deinen Lippenstiftspruch auf dem Spiegel oder das Essen mit deinem Bruder?«
»Was soll an dem Spruch schlimm gewesen sein? Ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass ich dir meinen Bruder auf den Hals gehetzt habe, und wollte einfach klarstellen, dass ich auch ohne meinen Bruder gern länger bei dir geblieben wäre.«
Das klang sehr sympathisch.
»Ich hätte mich auch sicherlich sehr über den Spruch gefreut – wenn ich ihn vor meiner Frau hätte lesen können.«
Ein kurzes, ehrliches, betroffenes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Es war schon interessant, wie verschieden Frauen Schweigen zur Kommunikation nutzten. Danach:
»Das tut mir leid. Ich hab gar nicht daran gedacht, dass jemand anderes als du … Das muss ja toll angekommen sein. Sorry, wirklich. Ich hoffe, du hattest keine Scherereien?«
»Na ja, Spiegel kann man neu kaufen. Mit den sieben Jahren Unglück muss ich mich halt noch arrangieren.«
»Kann ich das irgendwie wiedergutmachen?«
Den Ärger für einen nicht begangenen Seitensprung hatte ich bereits bekommen. Vielleicht sollte ich die Vorstellung an die nicht erhaltenen Freuden noch ein wenig im Bereich des Möglichen belassen.
» Töte deinen Bruder, und zieh zurück nach Bayern« , mein inneres Kind war da offensichtlich komplett anderer Meinung als ich.
»Vielleicht können wir das zu zweit mal in Ruhe besprechen.«
Laura bekam von meinem inneren Disput zum Glück nichts mit.
»Sehr gerne. Wie wäre es mit morgen Abend? Da habe ich frei. Kurt kümmert sich um Max.«
Vielleicht sollte ich erst einmal ein klärendes Gespräch mit Katharina führen, bevor ich mich auf ein nächstes Date einließ.
»Ich weiß noch nicht, ob sich das einrichten lässt. Ich rufe dich morgen Nachmittag an, okay?«
»Das hört sich gut an. Und wirklich – tut mir echt leid, mit dem Spiegel. Das war kindisch.«
Kindlich , wollte ich schon korrigieren. Aber ich war mir hier nicht ganz sicher.