Ich musste raus. Raus aus der Wohnung. Raus aus dem Haus. Am liebsten raus aus der Stadt. Ich war achtsam. Ich hatte einen guten Kontakt zu meinem inneren Kind aufgenommen. Und trotzdem war mein Leben seit Montag problembeladener als je zuvor. Zu viele Dinge konnten mir um die Ohren fliegen. Die Entdeckung von Boris konnte mir nach wie vor sehr gefährlich werden. Wenn ich den Erpresser – wahrscheinlich Kurt – nicht unter Kontrolle bekäme, würde mein Lügengebilde gegenüber den Organisationen von Boris und Dragan in sich zusammenbrechen. Mit exakt den gleichen Folgen, als wäre Boris tatsächlich entkommen.
Katharinas Fremdgehvorwürfe waren zwar sachlich unbegründet, aber als Wahnvorstellung trotzdem sehr real. Auch die fixe Idee nur eines Elternteils konnte die gemeinsame Erziehungsbasis zweier Eltern zerstören.
Und dann waren da noch die Toten.
Gut – die beiden toten Holgersons und Nils gingen letztendlich auf das Konto meiner Eltern, weil die mein inneres Kind falsch geprägt hatten. Aber das würde weder die gut 4498 noch lebenden Holgersons noch die Polizei interessieren, falls es rauskäme.
Und dass Nils der Kellner nach seinem Tod aus der Allgäuer Schlucht wieder hochgeklettert kam, hatte mir gerade noch gefehlt.
Was ich brauchte, war ein klarer Kopf. Ich beschloss daher, mit meinem Defender in den Wald zu fahren und eine Stunde lang zu joggen. Ich war mittlerweile in einem ganz guten Trainingszustand. Nicht in der Top-Kondition von Sascha mit seiner täglichen Zehn-Kilometer-Runde. Aber um sehr schnell den Kopf freizubekommen, reichte es schon. Ich zog mir meine Laufklamotten an und verließ die Wohnung.
Ich schaffte es gerade mal bis in den Eingangsbereich des Altbaus. Dort stand Kurt.
Es war Mittwoch. Hätte ich auf Lauras Worte und nicht bloß auf ihre Lippen geachtet, hätte ich mir gemerkt, dass der Mittwoch der Lieblingsonkeltag von Max war.
Kurt kümmerte sich von morgens bis abends um sein Patenkind. Inklusive Kindergartenbringdienst. Anscheinend hatte er Max gerade abgegeben. Nun stand er im Hausflur. Mit einem fast leeren Mehrweg-Kaffee-Thermobecher aus Glas in der Hand.
Sofern es wirklich Kurt war, der vor zirka zwei Stunden die Bilder eines abgeschnittenen Ohres gemailt bekommen haben sollte, so ließ er sich seinen Triumph nicht anmerken. Sofern er wusste, dass es sich dabei nicht um das verlangte Boris-Ohr handelte, ließ er sich auch das nicht anmerken. Kurt wirkte weder arrogant noch erbost. Er wirkte eher wie am Boden zerstört.
»Hi Björn. Zu dir wollte ich gerade.«
»Das ist im Moment ganz schlecht. Ich habe einen Termin …« Mit mir selbst.
»Ich begleite dich ein Stück. Ich … brauche deine Hilfe.«
Kurt trank hastig den letzten Schluck Kaffee aus dem Becher. Seine Begleitung war das Letzte, was ich gerade gebrauchen konnte. Es war mir aber auch nicht möglich, ihn einfach stehen zu lassen. Dafür war ich doch zu neugierig auf seinen tatsächlichen Gemütszustand. Im Gegensatz zu unserem Gespräch vom Vortag schien er jetzt nicht mit mir spielen zu wollen, sondern brauchte wirklich meinen Rat. Ich beschloss, ihn wie eine Motte zu behandeln. Abwimmeln, wenn sie zu nahe kommt.
»Okay. Mein Wagen steht ein Stück die Straße runter. Komm mit. Ein, zwei Minuten habe ich Zeit.«
Ich öffnete die Haustür und ließ Kurt den Vortritt. Kurt schaute sich suchend um und stellte dann den leeren Kaffeebecher auf die Briefkästen. Ich ging fest davon aus, dass selbst Mehrwegbecher aus Glas eine negative Ökobilanz hatten, wenn man sie lediglich einmal benutzte. Aber bei Kurt wunderte mich dieses Verhalten ehrlich gesagt nicht. Es passte.
Kurt ging an mir vorbei durch die Haustür. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen. Was Sinn ergab, wenn er in der Nacht kaum geschlafen hatte, weil die Polizei ihn wegen des Unfalls eines seiner Transporter mit einem »Hochzeitspärchen« auf Trab gehalten hatte.
»Es gab gestern Abend einen Unfall …«, setzte er an.
Ich machte große Augen. »Was ist passiert?«
»Ein Transporter von mir hat unter etwas merkwürdigen Umständen zwei Menschen überfahren.«
»Gab es Verletzte?«
»Das ist eine der Merkwürdigkeiten … Also, wie es aussieht, waren die Überfahrenen bereits tot.«
Wir gingen an einem abgestellten Elektroroller mit Latte-Macchiato-Halterung vorbei.
»Dann kann ich dir leider nicht helfen. Mit Verkehrsrecht kenne ich mich nicht aus. Nur mit Strafrecht. Körperverletzung mit Todesfolge wäre mein Ding. Tod mit Unfallfolge eher nicht.«
Wenn Kurt nicht ein verdammt guter Schauspieler war, dann setzte diesem Idioten der arrangierte Unfall eindeutig zu, und ich genoss die Genugtuung.
»Die beiden Typen, die überfahren wurden, waren Mitglieder einer Familie mit einer sehr engen Bindung …«
Ich ließ ihn nicht ausreden. »Dann schick ihnen Blumen.«
Wir waren inzwischen an meinem Wagen angekommen. Ich suchte in meiner Tasche nach dem Schlüssel.
»Die haben bereits mir etwas geschickt. Das hier klemmte vorhin unter meinem Scheibenwischer.«
Kurt holte einen Zettel aus seiner Jackentasche und reichte ihn mir. Ich nahm den Zettel zögernd entgegen und schaute ihn mir skeptisch an. Ich kannte das Stück Papier. Was daran lag, dass ich es gestern eigenhändig aus einem Notizheft von Sascha herausgerissen hatte. Jetzt war es zerknittert und vermeintlich in der kreativen Handschrift eines alternativ begabten Kalligrafen beschrieben worden. Also mit der Sauklaue eines strunzdummen Analphabeten. Dieser Eindruck lässt sich sehr einfach vermitteln, wenn ein Rechtshänder wie Sascha mit links schreibt. Und ein paar Buchstaben einfach in falscher Größe oder gar nicht verwendet.
Auf dem Zettel jedenfalls stand:
Geraubt ehre kennt kein Buße.
Ich kannte den Satz. Als Strafverteidiger. Wenn auch in richtiger Orthografie. Das war ein zentrales Zitat aus dem sogenannten Kanon der Ehre . Ein mit dem Strafgesetzbuch nicht unbedingt vereinbares Regelwerk der Blutrache. Die Holgersons schienen den Tod ihrer Sprösslinge offensichtlich nicht ganz so lustig gefunden zu haben. Diesen Eindruck sollte zumindest dieser Zettel vermitteln. Hatte sich mein inneres Kind gewünscht.
Ich persönlich glaubte nicht, dass sich irgendein Holgerson allzu viele Gedanken über den Tod zweier ihrer kleinsten Drogendealer machen würde. Solange er von einem Unfalltod ausging. Und erst recht derjenige, dessen Laster die Leichen überfahren hatte, wäre ihnen wohl ziemlich egal. Aber es war schön, wenn Kurt das Gegenteil dachte.
Ich las den Zettel noch einmal laut vor.
»›Geraubt ehre kennt kein Buße‹ … Verleihst du eigentlich nur E-Roller oder auch einzelne ›E‹s? Da fehlen offensichtlich zwei im Text.«
Kurt fand die Rechtschreibschwäche desjenigen, der ihm diese Drohung unter den Scheibenwischer gesteckt hatte, eher zweitrangig.
»Ich habe das gegoogelt. Das ist eine Ankündigung von Blutrache. Die beiden Typen, die mein Laster überfahren hat, gehörten zu den Holgersons.«
Sehr gut. Kurt hatte den Köder geschluckt. Wenn er nun deswegen in einem sehr desolaten Gemütszustand war, hatte mein inneres Kind alles richtig gemacht.
»Holgersons? Sind das nicht die mit dem goldenen Jesuskind? Das hört sich nicht gut an. Das scheinen Jungs zu sein, die keinen Humor verstehen. Aber was kann ich für dich tun?«, fragte ich fast zu ahnungslos.
»Du hast doch … also ich habe gehör … Du hast doch als Anwalt Kontakte zu solchen Leuten. Kannst du da nicht was regeln? Irgendwas vermitteln?«
Ich ging auf Abstand. Körperlich wie inhaltlich.
»Erstens weiß ich nicht, wovon du da redest. Zweitens: Selbst wenn ich Kontakte zu ›solchen Leuten‹ hätte – zu den Holgersons habe ich keine. Und drittens: Dafür ist die Polizei zuständig. Geh mit dem Zettel zu denen.«
Kurt stellte die Nähe auf unangenehme Weise wieder her. Er näherte sich mir auf wenige Zentimeter. Ich konnte sein widerliches Aftershave riechen. Als wolle er mich trösten, anstatt von mir getröstet zu werden, fasste er mich bei den Schultern, zog mich an sich und flüsterte mir ins Ohr.
»Sollte es hier um mein Leben gehen, und sollte ich wegen dieser Sache die Hilfe der Polizei brauchen, dann werde ich der Polizei viel erzählen müssen. Sehr viel. Unter anderem, warum einem der Holgersons ein Ohr fehlt. Und die Polizei wird das dann sicherlich den Holgersons erzählen.«
Kurt hatte nicht vor, wie ein Mann zu sterben. Bevor die Wellen über ihm zusammenschlugen, wollte er alles mitreißen. Deshalb soll man einem panisch Ertrinkenden auch nie helfen, wenn man nicht selber festen Halt im rettenden Boot hat.
Mist. Auf diese Gefahr hätte ich mein inneres Kind vielleicht hinweisen sollen. Ich hatte allerdings selbst überhaupt nicht an so eine selbstzerstörerische Reaktion von Kurt gedacht. Die Enttäuschung in meinen Augen über diese Erkenntnis interpretierte Kurt fälschlicherweise als die gewollte Reaktion auf seine Drohung. Er wurde versöhnlicher.
»Das muss aber alles nicht sein. Halt du mir die Holgersons vom Leib. Lass andere den Kopf verlieren. Dann wäre ich dir unter Umständen sehr dankbar.«
Er umarmte mich, ging wieder auf Abstand und lächelte.
»Und wenn du mir den Gefallen nicht tun willst – tu ihn meiner Schwester. Die scheint dich ganz attraktiv zu finden.«
Selbst seine Schwester war für ihn also nur Mittel zum Zweck. Was für ein Arschloch.
»Ich … denk drüber nach. Vielleicht kann ich da ein paar Dinge regeln. Dafür brauche ich aber etwas Zeit. Reicht es, wenn ich dir bis morgen sage, wie ich dir helfen kann?«, stammelte ich mit viel Überwindung in seine Richtung. Nicht weil ich Angst vor Kurt gehabt hätte, sondern weil sein widerlicher Geruch nach der Umarmung nun auch an mir haftete.
»Gut. Morgen. Morgen will ich von dir einen Plan haben, wie du mir die Holgersons vom Hals hältst. Sonst bist du dran.«
Kurt bestieg seinen Elektroroller und fuhr davon.
Ich fand die ganze Situation völlig absurd. Grundlose Umarmungen waren mir ebenso suspekt wie begründete Drohungen.
Es gab also keinen Zweifel, dass Kurt der Erpresser war. Ich hatte allerdings immer noch nicht die leiseste Ahnung, warum. Dass er mir nun auch noch begründet mit den Holgersons drohte – anstatt ich ihm unbegründet –, gefiel mir überhaupt nicht. Mit dieser Auffassung war ich nicht allein.
» Ich glaube nicht, dass wir das ohne achtsames Morden hinkriegen «, meldete sich mein inneres Kind.
» Bitte? «
» Na, der Typ läuft ja offensichtlich Amok. Bevor Kurt alles zerstört, was uns etwas bedeutet, sollten wir vielleicht lieber Kurt zerstören
Ich musste an Joschka Breitners Erklärung denken, dass Kinder im Exzess leben. Sie wollen alles oder nichts. Auf Kurts inneres Kind schien das auch vollumfänglich zuzutreffen. Es wollte entweder alles erreichen oder alles zerstören. Mein inneres Kind hingegen schien diesbezüglich schon ziemlich reif zu sein. Es wollte achtsam morden. Ich war es, der nicht mehr morden wollte.
Aber ich hatte keine Ahnung, wie ich um die Ermordung Kurts herumkommen sollte.
Ich brauchte jetzt erstens sehr zügig einen Plan, wie ich das ganze Polizei-Holgersons-Drohszenario von Kurt aushebeln konnte. Dafür musste ich aber zweitens endlich in Erfahrung bringen, welches Motiv Kurt eigentlich hatte, Boris so zu hassen, dass wir ihn misshandeln und töten sollten.
Für Ersteres wollte ich wie geplant raus in den Wald, um mir beim Joggen in Ruhe Gedanken machen zu können. Um Letzteres herauszufinden, sollte ich allerdings zunächst einmal runter. In den Keller.