Laura und Sascha
hätten sich beinahe noch im Hausflur treffen können. Was ohne jede Bedeutung gewesen wäre. Zwar waren beide Teile desselben Plans. Aber jeder der beiden hatte einen völlig unterschiedlich gelagerten Abendverlauf vor sich.
Sascha würde den Plan meines inneren Kindes umsetzen und das Betriebsgelände von Kurt nach allen Regeln der Kunst in Flammen aufgehen lassen. Liebevoll vorbereitet. Sensibel ausgeführt.
Ich hingegen würde improvisieren müssen. Ich musste Laura in jedem Fall so lange in meiner Wohnung beschäftigen, bis sichergestellt war, dass ihr Bruder Kurt seinen Babysitter-Job erst beendete, wenn seine Firma bereits lichterloh brannte.
So attraktiv ich Laura auch fand: Ich hätte gern mit Sascha getauscht. Er wusste, was er zu tun hatte. Ich hingegen … Mein letztes richtiges Date hatte ich vor über zehn Jahren. Und zwar mit meiner jetzigen Ehefrau. Unterdessen hatten Katharina und ich uns »freigelassen«. Ich hätte meine neue Freiheit mit Laura auch genießen können – aber ich konnte nicht.
Erst wenn man nicht tun muss, was man nicht tun will, erst dann ist man wirklich frei. Und ich musste Laura an diesem Abend ablenken. Ob ich wollte oder nicht. Ich war nicht frei. Ich persönlich hätte den ersten Abend meiner harmonischen Trennung von meiner Frau wahrscheinlich sogar gern komplett allein verbracht. Nur mit mir und meinem inneren Kind. In stiller Erinnerung an eine vergangene Zukunft.
Aber ich konnte eben nicht. Weil meiner nahen Zukunft noch ein Vollidiot im Weg stand, den es aus dem Weg zu räumen galt. Und weil dessen Schwester gerade bei mir klingelte. Kurz nachdem ich Sascha das Treppenhaus nach unten hatte laufen hören und mitbekam, wie die Haustür ins Schloss fiel.
Ich betätigte den Türsummer. Ich hörte Laura die Treppen hochgehen.
Alles war so von mir vorbereitet, wie ich mir eine romantische Affäre als verheirateter Ehemann immer vorgestellt hatte. Auf dem Plattenspieler drehte sich eine Platte mit Balladen aus den Achtzigern. Der große Kerzenleuchter im Wohnzimmer brannte. In der Küche waren alle Zutaten für das gemeinsame Kochen eines Drei-Gang-Menüs bereitgestellt. Ich war frisch geduscht und trug Jeans, T-Shirt und einen ziemlich neuen Pullover.
Die Wohnungstür war angelehnt. Laura klopfte, als sie davorstand. Ich zog sie auf. Laura sah umwerfend aus. Unkompliziert attraktiv. Eine zerrissene Jeans, die unterstrich, dass Laura alles tragen konnte. Oder nichts. Und sicherlich in beidem fantastisch wirkte. Sie hatte ihre Haare zu einem Zopf gebunden. Der hinten auf einen ausgewaschenen Militär-Blouson fiel. Den sie als Jacke über ein schlichtes weißes Hemd gezogen hatte. Unter dem man vorne am Rande des locker aufgeknöpften Ausschnittes ihren weißen Spitzen-
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sehen konnte. Ihre Füße steckten barfuß in ein paar Nike-Turnschuhen. In der einen Hand trug Laura einen großen Pizzakarton. In der anderen eine Flasche ihres Lieblings-Rioja. Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange und schaute irritiert den Karton an.
»Hast du so große Zweifel an meinen Kochkünsten?«, fragte ich mit Blick auf den Karton.
»Ich hatte bloß nichts anderes zum Transportieren meines Gastgeschenks.«
Sie drückte mir den Karton und den Wein in die Hand. Ich schaute fragend von einer Hand zur anderen, weil ich ihr eigentlich aus der Jacke helfen wollte. Aber sie hatte ihren Blouson schon fallen lassen, mit dem Fuß hochgehoben und dann lässig an die Garderobe gehängt.
Der Inhalt des Kartons war schwerer als eine handelsübliche Pizza. Und kleiner.
»Jetzt klapp schon den Deckel hoch«, forderte Laura mich auf.
Ich stellte den Karton auf den Esstisch und öffnete ihn. Innen lag der Ikea-Spiegel »Fullen«. Ich musste lachen.
»Ich dachte, den kannst du vielleicht für dein Gäste-
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gebrauchen.«
Ich nahm Laura in den Arm. Sie erwiderte meine Umarmung genau die Sekunde zu lang, die sie von einer reinen Höflichkeitsumarmung unterschied.
Wir gingen in die Küche, ich öffnete den Rioja. Wir begannen zu kochen.
Auch Sascha hatte sich auf seinen Abend vorbereitet. Er hatte als Gastgeschenk für den abwesenden Kurt keinen Spiegel mitgebracht. Sondern fünf Molotowcocktails, eine Brechstange, einen großen Schraubenzieher und eine Spraydose Autolack. Er trug für sein Rendezvous schwarze Jeans, einen schwarzen Gebirgsjägerpulli sowie eine Sturmmütze, die lediglich Augen, Nase und Mund frei ließ. Dazu schwarze Special-Forces-Stiefel.
Sascha hatte bereits am Nachmittag alle für den weiteren Verlauf unseres Planes notwendigen Dinge im Baumarkt gekauft. Und dazu aus Transportgründen meinen Defender genommen. Zum Abfackeln der E-Roller-Firma war er dann wieder
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-bewusst mit seinem Kleinwagen unterwegs.
Während Sascha die Zutaten seines Abends am späten Nachmittag im Heimwerkerhandel erstanden hatte, war ich in der Asia-Abteilung des Supermarkts fündig geworden. Ich hatte eigentlich vor, das Essen mit Laura gemeinsam zu basteln. Asia-Sommerrollen als Vorspeise. Wok-Gemüse mit Hähnchen als Hauptgericht. Mit Liebe gekaufte Mousse-au-Chocolat-Gläschen als Nachtisch. Letztere waren nur noch zu öffnen. Aber die beiden anderen Gänge hätten wir zeitraubend selber kochen können.
Doch dazu kam es nicht.
Schon als ich die Salatblätter für die Sommerrollen waschen und Laura die noch trockenen Reisblätter zur Seite legen wollte, passierte es. Wir stießen zusammen. Mir entglitt der Salat. Laura warf die Reisblätter dem Salat hinterher. Wir küssten uns.
»
Lass das!
«, protestierte mein inneres Kind. »
Hier geht es nicht um dein Vergnügen mit Laura. Hier geht es um meine Rache an Lauras Bruder. Bleib professionell.
«
Joschka Breitner hatte mich darauf vorbereitet, dass das innere Kind seine Bockigkeit und seinen Egoismus nie komplett verlieren würde. Genau deswegen sei eine erste Partnerschaftswoche, in der ich mich mit jedem Wunsch meines inneren Kindes zumindest auseinandersetzen sollte, so wichtig. Nur so könne ich in der Praxis lernen, die Launen meines inneren Kindes mit der Zeit immer besser zu handhaben.
Ein Trick, mit der Bockigkeit des inneren Kindes zurechtzukommen, war die Fantasie. Wie echte Kinder waren auch innere Kinder mit einer tollen Geschichte abzulenken. Ich weiß nicht, wie oft ich Emily mit dem Satz »Schau mal, da vorne fliegt ein Einhorn!« aus Wutanfällen herausholen konnte. Gut – ich weiß es. Keine zehn Mal. Emily war ja nicht blöd. Aber zumindest funktionierte diese fantasievolle Ablenkung vom Prinzip her.
Als Erwachsener konnte ich den mich stressenden Gedanken durch eine Achtsamkeitsübung entkommen. Mein inneres Kind konnte ich aus der stressenden Situation am besten mit einer Gedankenreise entführen.
Herr Breitner hatte diesbezüglich einen sehr verständlichen Leitsatz entwickelt:
»Wenn Ihr inneres Kind an der Gegenwart rumnörgelt, erzählen Sie ihm eine Geschichte.«
Sofern ich in Gedanken eine Welt betrat, die meinem inneren Kind gefiel, würde ich die Emotionen meines inneren Kindes von der Welt ablenken können, in der ich mich gerade befand.
Und so verweilte ich zwar an diesem Abend körperlich bei Laura, war aber in Gedanken beim Attentat auf das Geschäft ihres Bruders.
Ich nahm nur peripher und mechanisch zur Kenntnis, dass Laura und ich uns bereits küssend auf dem Lümmelsofa befanden. Meine Hände unter ihrer Bluse.
In Gedanken konzentrierte ich mich auf das, was mein inneres Kind erleben wollte: Es wollte bei den Ereignissen auf dem Betriebshof dabei sein. Ich bemühte mich also, für mein inneres Kind das Hier und Jetzt mental zu verlassen und stattdessen in Gedanken in die Situation auf dem Betriebshof einzutauchen.
In der Realität glitt Lauras Hand gerade durch meinen geöffneten Reisverschluss in meine Hose, und ich befürchtete kurzzeitig, den Verstand zu verlieren.
In meiner Fantasie glitt Saschas Hand durch den Reißverschluss seiner Trainingstasche und näherte sich suchend der Farb-Spraydose, mit der eine Botschaft an die Wand gesprüht werden sollte.
Die Hand schob sich an den anderen Gegenständen vorbei, bis ihre kühlen, behandschuhten Fingerkuppen zärtlich die weiße Hülle der Dose berührten. Die ganze Hand umschloss, Vertrauen bildend, den länglichen Weißblechkörper. Fast wirkte es, als würde sich die gerade noch liegende Dose, die die letzten Monate unangetastet in einem Baumarktregal gelegen hatte, vor Freude selber in der Tasche aufrichten. Ja, diese Dose wollte leben. Die Hand zog die Dose zärtlich aus der Enge des Stoffgebildes heraus. Ein wissendes Augenpaar sah sich das Objekt seiner Begierde in Ruhe an. Bevor der Besitzer der Augen anfing, die Dose rhythmisch zu schütteln. Erst mit langsamen, ruhigen Bewegungen. Dann immer schneller. Mit jeder Armbewegung schien die Dose bereiter zu sein für ihren so lang ersehnten Einsatz. Im Inneren lösten sich wochenalte Verkrustungen. Bis die ganze Dose nur noch ein einziger Körper prall voll mit Flüssigkeit war. So unter Druck stehend, dass sie mit absoluter Gewissheit jede gewünschte Botschaft hinaus in die Welt schreien konnte.
Und dann geschah es: Die Hand, die die Dose gerade noch bis zur Besinnungslosigkeit geschüttelt hatte, hielt die Dose konzentriert nur Zentimeter vor einer glatten, sauberen, jungfräulichen Hauswand an und drückte voll sinnlicher Entschlossenheit auf den Druckkopf. Und die Dose entlud ihre Botschaft in Richtung Mauer:
RACHE
!
Perfekt. Mein inneres Kind hatte sich während der Fantasiegeschichte kein einziges Mal über das beschwert, was Laura mit mir gerade in der Realität getan hatte.
Wie zwei Teenager lagen Laura und ich anschließend kichernd auf dem Sofa.
»Jetzt ich«, hauchte mir Laura ins Ohr.
»
Nicht schon wieder …
«, beschwerte sich mein inneres Kind dann doch.
Während ich Laura küsste, schob ich meine Hand unter ihre Jeans. Während meine Finger wanderten, wanderten auch meine Gedanken wieder auf den Betriebshof ihres Bruders. Das Kind in mir verlor das Interesse an Laura und erwartete gespannt zu erfahren, wie es Sascha wohl gelingen sollte, in das Gebäude einzudringen.
Um die Tür zum Büro zu öffnen, brauchte es kein Stemmeisen. Die Tür war bereit und willig, zärtlich geöffnet zu werden. Die Spitze des Schraubenziehers wanderte suchend am Rahmen entlang zum Türspalt. Sie hielt einen Moment inne und betastete ihn zärtlich. Dann drang der kleine Schraubenzieher keine zwei Zentimeter in die enge Ritze der Eingangstür. Mit ein paar gefühlvollen Bewegungen weitete die Spitze des Schraubenziehers den Türspalt, bis der ganze Schraubenzieher in die dunkle Öffnung gleiten konnte. Er tastete wissend in Richtung Schloss. Mit rhythmischen Bewegungen nach vorn und hinten brach der Schraubenzieher selbstbewusst die letzten schüchternen Zweifel des Türschlosses, bis dieses sich dem Drängen des harten Schaftes schließlich willenlos ergab und mit einem satten Schmatzen jeglichen Widerstand aufgab …
Ich machte mir keine Sorgen mehr, dass Laura nicht lange genug bleiben würde. Weil ich mir über gar nichts mehr Sorgen machte. Und die Zeit völlig vergaß. Es war alles so unkompliziert. Es hatte nur zwei Gläser Rioja gedauert, dann lagen wir nicht mehr neben, sondern übereinander. Uns wild küssend.
Aber was immer wir da gerade machten – wir unterbrachen es. Nicht weil mein inneres Kind intervenierte, sondern um unsere Hosen auszuziehen.
Es gibt zwei Stellen, bei der jeder noch so flüssige Paarungsakt logistisch ins Stocken gerät. Das ist zum einen das Ausziehen der Hosen. Zum anderen das Überziehen eines Kondoms. Wenn eines Tages jemand eine Hose erfindet, die sich auf Knopfdruck, Pulsfrequenz- oder Hormonspiegelmessung automatisch in ein übergezogenes Kondom verwandelt, so wird dieser Jemand einen großen Absatzmarkt erschließen.
Während der ersten dieser beiden Pausen meldete sich mein inneres Kind bei mir.
»
Vergiss nicht, warum wir das Ganze hier veranstalten
.«
Ich konzentrierte mich also wieder auf das, was mein inneres Kind sehen wollte. Ich sah vor meinem inneren Auge einen bis zum Rand mit hochentzündlichem Benzin gefüllten Glaskolben, der heute Morgen noch zweckentfremdet ein Leben als Mehrweg-Kaffeebecher geführt hatte. Ich sah, wie über seinen beinahe schon überschwappenden Schaft ein Lappen gezogen wurde. Wie der Lappen mit geübten Fingerbewegungen auf dem Kopf des Bechers platziert wurde und bereits anfing, sich mit der brennbaren Flüssigkeit vollzusaugen. Ich spürte, wie der Lappen mit einem Gummiband am Becherrand fixiert wurde, damit er bis zur Explosion nicht verrutschte. Der Lappen wurde entzündet und stand sofort in Flammen. Ich merkte, wie eine Hand den Kolben ergriff, um ihn zu seinem Bestimmungsort zu führen. Ich spürte, wie der brennende Lappen und der Becher in einem zarten Bogen kurz zurückwichen, um dann mit Schwung in die Freiheit entlassen zu werden. Wie der Becher jeglicher Kontrolle entglitt und schwerelos durch einen dunklen Raum reiste, seinem Ziel entgegen, den Flug genießend. Das Lodern der Flammen des Lappens strich durch den Raum. Es erleuchtete schemenhaft zahllose Elektroroller unter sich. Die Flammen flogen einem Sicherungskasten entgegen, an dem alle Stromleitungen zusammenliefen. Der Becher traf. Er zerbarst in Hunderte von Teilen. Er entlud die ganze angestaute Energie. Ein halber Liter Benzin ergoss sich zunächst in alle Richtungen, um Sekundenbruchteile später vom Feuer des Lappens erfasst zu werden und die gesamte Wand auf einer Fläche von mindestens vier Quadratmetern in Brand zu setzten. Die Plastikverkleidung des Sicherungskastens bäumte sich kurz auf und zerschmolz dann willenlos unter der Hitze der Flammen.
Sascha verwendete an diesem Abend alle fünf Molotowcocktails. Um mein inneres Kind abzulenken, hätten mir zwei völlig gereicht. Aber ich konnte mit dem Ergebnis zufrieden sein. Kurts Firma brannte bis auf die Grundmauern nieder. Inklusive der Hälfte seiner Roller und zehn seiner fünfzehn Transporter. Niemand wurde verletzt. Das Wort »Rache« prangte in großen, verrauchten, roten Buchstaben innen auf der Mauer seines Betriebshofs.
Und Laura lag glücklich und erschöpft in meinen Armen. Bis ihr verblödeter Bruder um exakt dreiundzwanzig Uhr achtundzwanzig anrief.