Laura war mit
dem Fahrrad gekommen. Ich fuhr sie in meinem Defender zurück zu ihrer Wohnung. Erstaunlicherweise reagierte sie nicht im Geringsten besorgt, als Kurt ihr mitgeteilt hatte, dass sein Firmengelände in Flammen stand. Sie war eher sauer, dass unser schöner Abend damit vorzeitig endete.
»Typisch Kurt. Auf den war noch nie Verlass. Noch nicht einmal einen gemütlichen Vögel-Abend unter Kindergarteneltern kannst du mit dem planen.«
Über diese Bemerkung musste ich schon wieder lachen.
»Na ja, der Brand der Firmenzentrale ist vielleicht eine akzeptable Entschuldigung, oder?«
»Jede Katastrophe wäre als singuläres Ereignis eine Entschuldigung. Wenn die Katastrophen aber wie bei Kurt die Regel darstellen, verlieren sie irgendwann ihre argumentative Stärke.«
»Wie meinst du das?«
»Ach, Kurts ganzes Berufsleben ist ein einziger Reinfall. Schon mit Mitte zwanzig hat er sich von meinen Eltern 50 000 Mark geliehen. Angeblich für eine unschlagbare Geschäftsidee. Und dann hat er das Geld komplett durchgebracht. Bis heute weiß keiner, womit.«
Doch. Boris, Sascha und ich wussten das. Mit vielen Rosen und einer Nutte. Aber damit musste ich Laura nicht belasten.
»Und seitdem setzt er eine Geschäftsidee nach der anderen in den Sand. Er nennt das den ›schlauen Umweg‹. Immer einen Bogen mehr machen als die anderen. Darin liegt angeblich der Clou.«
Zum Beispiel einen verhassten Menschen, den er bei anderen Menschen im Keller findet, nicht bei der ersten Gelegenheit selber zu töten, sondern andere Menschen dazu zu zwingen, dass sie es taten.
»Was hatte Kurt denn sonst noch so für Umweg-Ideen?«
»Einen regionalen Biogemüse-Versand, einen E-Zigaretten-Verleih, ein Dating-Portal für Transgender … Alles völliger Irrsinn. Weißt du, warum er unbedingt einen E-Roller-Verleih aufziehen wollte?«
»Klär mich auf.«
»Weil er durch Zufall auf eine tolle Immobilie gestoßen ist, die er dann unbedingt haben wollte. Und zur Nutzung ist ihm dann nichts anderes eingefallen. Der Typ hat erst das Gelände gefunden und dann die passende Geschäftsidee dafür gesucht. Kein Wunder, dass seine Firma völlig überschuldet ist.«
Es war also gar kein Zufall, dass Boris Kurts Vermieter war. Das Einzige, was Kurt seit Jahren kontinuierlich verfolgte, war fast schon masochistisch die Nähe zu Boris zu suchen. Und sei es als Mieter. Was für ein Geschenk muss es für Kurt gewesen sein, Boris dann völlig unverhofft und zufällig in unserem Keller zu finden? Und was macht der Idiot? Geht den schlauen Umweg. Nun, wenn alles nach Plan lief, würde Kurt Boris in der Tat schon recht bald sehr nah kommen.
»Aber was seine Babysitterqualitäten angeht, vertraust du ihm?«
»Mit Kindern kann er. Auch wenn ich meine Wertsachen immer wegschließe, wenn er allein da ist. Seit letzter Woche fehlt mir ein Rezeptblock. Aber damit hat Kurt natürlich nichts zu tun. Sagt er.«
Daher hatte Kurt also das rezeptpflichtige Schlafmittel. »Ist er medikamentenabhängig?«
»Keine Ahnung. Vielleicht will er auch einfach nur Arzt spielen. Die Handschrift dazu hat er. Alles, was mehr als vier Wörter hat, schreibt er auf dem Computer. Weil nicht mal er seine Schrift lesen kann.«
Interessante Information.
»Das hört sich nach ziemlich viel Groll auf deinen Bruder an. Und ich dachte, eure Beziehung wäre so innig? Bester Patenonkel der Welt und so.«
»Meine Eltern haben mir 25 000 Euro dafür gezahlt, dass ich von Bayern wieder hierherziehe. Das war mein noch offener Studienkredit. Wie gesagt – Kurt hat vor zwanzig Jahren 50 000 Mark einfach so bekommen. Meine Eltern sind nicht aus freien Stücken nach Spanien ausgewandert – sondern vor Kurt geflohen. Sie wollten endlich ihre Ruhe vor ihrem seit Jahrzehnten volljährigen Sohn haben. Sie halten mit ihm nur noch schriftlichen Kontakt. Per Brief. Für meine Schuldenfreiheit habe ich ihn jetzt an der Backe. Dass er dafür ab und zu mal auf Max aufpasst, ist ja wohl das Mindeste.«
Es gab also auch Kinder, die seelische Verletzungen bei ihren Eltern hinterließen. Ich nahm mir vor, Herrn Breitner bei Gelegenheit nach der Existenz innerer Eltern zu fragen. Jedenfalls erklärte das mit den elterlichen Briefen die spanische Marke auf Kurts erstem Erpresserumschlag.
»Aber lass uns den schönen Abend nicht mit meinem Bruder beenden. Wofür hast du eigentlich die ganzen Maurersachen hinten im Wagen?«
Ich schaute kurz über die Schulter. Im Kofferraum lagen von Saschas Shoppingtour noch einige Sack Zement, Ytong-Steine, Maurerputz, Wandhaken, Ketten, Vorhängeschlösser sowie Spachtel, Eimer und Kellen.
»Ich muss im Keller ein wenig sanieren. Die alte Ölheizung soll demnächst mal raus, und da kann ich auch gleich ein paar Schäden dahinter beheben.«
»Du bist mit deinen Händen offenbar vielseitig begabt«, sagte Laura und lächelte mich vielsagend an.
Dann zeigte sie mir das Haus, in dem sie wohnte. Vor der Tür wartete eine Limousine des Mietservice, der Kurt und mich zum Lunch gefahren hatte.
Ich küsste Laura innig, bevor sie ausstieg. Mein inneres Kind hatte diesmal gar nichts dagegen. In ihrer Abneigung gegen ihren eigenen Bruder war Laura ihm plötzlich viel sympathischer geworden. Ich sah Laura in ihrem Hauseingang verschwinden und fuhr dann wieder zurück nach Hause. Kurt jetzt zu begegnen wäre kontraproduktiv, sonst hätte er mich als »seinen« Anwalt noch gebeten, ihn zum Tatort zu begleiten. Dort sollte er schön allein Angst vor den Holgersons bekommen. Und sich dann bei mir melden.
Als ich zu Hause ankam, sah ich Licht in Saschas Wohnung. Ich ging ins Haus und klingelte bei ihm.
Er begrüßte mich mit einem verschmitzten Grinsen.
»Na, schönen Abend gehabt?«, wollte er wissen.
»Kann man so sehen. Wie war deiner?«
»Völlig unkompliziert. Ich hab die Botschaft an die Wand gesprüht. Die Tür aufgebrochen. Zwei Mollis in den Raum geworfen und drei unter die Fahrzeuge geknallt. Schnell rein, schnell raus.«
»
Das hast du mir aber viel schöner beschrieben
«, bedankte sich mein inneres Kind.
»Aber ich muss sagen, nach sechs Monaten Aufbauarbeit als Kindergartenleiter hat es echt mal wieder Spaß gemacht, als Erwachsener einfach nur irgendwas zu zerstören. Und jetzt?«
»Jetzt warten wir, bis Kurt sich meldet. Ich denke mir, das wird irgendwann morgen früh der Fall sein. Wenn die Polizei mit ihm durch ist.«
»Bis zur Beiratssitzung morgen Nachmittag wissen wir also, ob der erste Teil deines Planes aufgeht.«
»Und anschließend erfahren wir dann, ob sich auch alle Beteiligten an den zweiten Teil halten.«
Sascha und ich räumten noch gemeinsam den Inhalt des Kofferraumes in den Keller. Anschließend räumte ich meine Wohnung auf. Stellte das nicht gekochte Essen in den Kühlschrank und legte mich zufrieden ins Bett. Der heutige Tag hatte gezeigt, dass ich mit meinem inneren Kind durchaus partnerschaftlich harmonieren konnte. Meine Probleme mit Katharina hatten wir gemeinsam gelöst. Meine frisch begonnene Affäre hatte es trotz Widerwillen akzeptiert. Morgen würde sich zeigen, ob ich der Empörung meines inneren Kindes in Bezug auf die Pläne der Beiratsmütter und Lady Surrender gerecht werden konnte. Und vor allem: ob sich trotz unserer gegensätzlichen Interessen die gemeinsame Lösung für Boris und Kurt in die Tat umsetzen ließ.
Wir beide freuten uns auf den morgigen Tag.