Haubentaucher

Morten war froh, dass Ida-Marie sofort gesagt hatte, er könne bei ihr mitfahren, während Elif Ole einsammeln wollte, um so schnell wie möglich auf den Priwall zu kommen.

Eigentlich fühlte er sich alles andere als einsatzbereit. Er hatte nicht mehr als vier Stunden geschlafen, und die auch noch unruhig und geplagt von verstörenden Träumen.

Unter normalen Umständen hätte er sich heute Morgen wahrscheinlich krankgemeldet. Wie so häufig in den vergangenen sechs Monaten, wenn die Nächte eine einzige Qual gewesen waren. Der Triggermoment des gestrigen Abends hatte alles noch einmal verschlimmert. Die Bilder, und noch viel mehr die Gedankenspiele, die dahintersteckten, beunruhigten ihn zunehmend.

»Wie fühlst du dich?«, unterbrach Ida-Marie Berg, die Leiterin der Mordkommission, seine Überlegungen.

»Was meinst du?«

»Denkst du etwa, man würde nicht merken, dass es dir nicht gut geht?«

»Eigentlich versuche ich mein Bestes, es mir nicht ansehen zu lassen.«

»Das gelingt dir aber nicht.«

»Ist mir egal«, entgegnete Morten. »Irgendwann wird es schon besser werden. Zeit heilt alle Wunden, davon bin ich überzeugt.« Er spürte selbst, dass seine Worte alles andere als überzeugend klangen, aber ehe er noch etwas ergänzen konnte, fuhr Ida-Marie in Höhe Wesloe plötzlich rechts ran und stellte den Motor ab. Dann wandte sie sich ihm zu.

»Ich habe kein Rezept, wie du die Sache gut hinter dir lassen kannst«, sagte sie mit ernster Stimme, »aber ich weiß, dass es nicht besser wird, wenn du dich dafür entscheidest, zu schweigen und es mit dir selbst auszumachen. Du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du reden willst, aber noch wichtiger ist, dass du dir professionelle Hilfe suchst. Und damit meine ich nicht nur unsere Polizeipsychologin.«

»Ja, vielleicht hast du recht«, reagierte Morten ausweichend.

»Streiche ›vielleicht‹«, entgegnete Ida-Marie streng. »Ich werde dich genauestens beobachten. Du brauchst nicht zu denken, ich würde zulassen, dass du daran kaputtgehst.«

Sie wartete nicht auf eine Antwort von ihm, sondern startete den Motor wieder und fuhr schwungvoll an.

In den folgenden fünfundzwanzig Minuten wechselten die beiden kein Wort mehr miteinander. Erst als sie auf die Mecklenburger Landstraße auf der zu Travemünde gehörenden Halbinsel Priwall einbogen, räusperte sich Ida-Marie und setzte erneut an.

»Birger und ich hatten vor einigen Jahren mal einen Fall, der für mich um ein Haar ganz übel ausgegangen wäre. Vielleicht erinnerst du dich an die Geschichte mit dem ›Horrorhaus auf dem Priwall‹, wie es die Zeitungen titulierten? War ein ziemlich großes Ding in den Medien.«

»Klar«, antwortete Morten. Er hatte damals noch mitten in seiner Ausbildung gesteckt, aber dieser Fall hatte niemanden bei der Polizei oder auch in der Bevölkerung kaltgelassen. Und er hatte Birger Andresens Image als scharfsinnigster und bester Kriminalkommissar Schleswig-Holsteins noch weiter verfestigt.

»Ich habe damals zwar niemanden getötet, aber die Ermittlungen waren verdammt heftig für mich. Ich hatte anschließend auch eine schwierige Zeit, und nicht nur, weil ich mich bei dem finalen Einsatz schwerer verletzt hatte und im Krankenhaus lag.«

»Jeder hat seine eigenen Probleme«, sagte Morten und machte durch seinen Tonfall keinen Hehl daraus, dass er eigentlich keine Lust auf dieses Gespräch hatte. Er wollte keine klugen Ratschläge und sich nicht sagen lassen, wie er mit der Sache umzugehen hatte.

Niemand im Team hatte bislang einen Menschen durch einen gezielten Kopfschuss getötet, also verstanden sie auch nicht, wie er sich fühlte. Und selbst wenn Ida-Marie recht damit hatte, dass er sich besser öffnen und über das Geschehene reden sollte, hatte er gerade nach gestern Abend erst einmal genug davon, dass sich überhaupt jemand in sein Leben einmischte. Jeder meinte zu wissen, was am besten für ihn wäre. Oder noch schlimmer, dass er damals im Herbst fahrlässig gehandelt hatte. Niemand steckte in seiner Haut. Und niemand hatte eine Ahnung davon, welche Bilder und Gedanken ihn plagten.

Sie parkten am Wendehammer im Pötenitzer Weg unweit des Alten Seeflughafens. Diverse Einsatzfahrzeuge waren hier kreuz und quer abgestellt. Morten erkannte auch den BMW von Harald Seelhoff, dem Leiter der Kriminaltechnik. Zwei Streifenpolizisten sprachen in ihre Funkgeräte und nickten ihnen zu, als sie sie erblickten.

Ida-Marie stellte sich und Morten kurz vor, woraufhin man ihnen erklärte, dass sie einen knappen Kilometer durch den Wald laufen und sich in Richtung des Holzstegs orientieren mussten, in dessen Nähe die Leiche zwischen Schilf und einem kurzen sandigen Uferabschnitt gefunden worden war. Weitere Beamte würden an Wegabzweigungen warten, um sie zum Tatort zu leiten.

Sie bedankten sich und betraten den Wald. Während sie um das ehemalige Flughafengelände herumgingen, das zwischen den beiden Weltkriegen als sogenannte Seeflugzeug-Erprobungsstelle genutzt worden war, wurde Morten bewusst, dass er sich hier, abseits der touristischen Pfade auf dem Priwall, gar nicht auskannte. Obwohl er schon oft gelesen hatte, dass diese Gegend besonders schön und naturbelassen wäre. Überhaupt gab es in Lübeck und Umgebung, teilweise in nächster Nähe zu den touristischen Hotspots, so viele Kleinode, dass er sich oft genug ärgerte, nicht häufiger den Hintern hochzubekommen, um sie zu erkunden. Dass er den Wanderweg entlang der Pötenitzer Wiek nun ausgerechnet im Rahmen einer Tatortbegehung kennenlernen würde, warf jedoch einen Schatten auf diesen Ort.

Als sie den Wald hinter sich gelassen hatten und den Bereich in Ufernähe erreichten, überkam Morten zum ersten Mal seit Monaten ein Gefühl absoluter Ruhe. Die dunklen Gedanken verschwanden von einem auf den anderen Moment, als sich vor ihnen die Wiek auftat. Die Bucht lag sanft und unberührt da. Gar nicht weit von Travemünde entfernt, schien es fast, als befände man sich in einer anderen Welt.

Einzig die Kollegen der Kriminaltechnik sowie zahlreiche Beamte der Ordnungspolizei störten dieses Bild. Sie hatten bereits den Weg und den gesamten Uferbereich mit rot-weißem Flatterband abgesperrt. Auch das Equipment der Kriminaltechnik war längst aufgebaut.

Morten nickte den Kollegen zu und ging wortlos vor bis ans Wasser, wo Seelhoff und sein langjähriger Mitarbeiter Siederdissen, beide in weiße Schutzoveralls gekleidet, in ein Gespräch vertieft standen. Zu ihren Füßen lag mit knapp einem Meter Abstand eine männliche Leiche auf einem schmalen Sandabschnitt.

Der Körper sah leicht aufgequollen aus, was ein klares Anzeichen dafür war, dass er eine ganze Zeit lang im Wasser getrieben und dann an Land geschwemmt worden war. Mortens Blick blieb allerdings an der Stirn des Opfers hängen. Ein Einschussloch befand sich über dem linken Auge. Eine weitere Kugel hatte das linke Jochbein regelrecht zerschmettert. Wer immer das getan hatte – das Trefferbild machte nicht den Eindruck, als wäre ein geübter Schütze am Werk gewesen. Kein Vergleich zu seinem perfekten Schuss exakt zwischen die Augenbrauen von Jens Bachmann.

»Moin.« Morten blieb eine halbe Körperlänge von den zwei Kriminaltechnikern entfernt stehen. Seit er Teil der Mordkommission war, wurde er das Gefühl nicht los, die beiden erfahrenen Kollegen hätten ein Problem mit ihm. Vielleicht war es aber auch einfach nur ein vertrautes Gesicht wie das von Birger Andresen, das ihnen fehlte.

»Kein schöner Anblick«, sagte Siederdissen in seinem typisch mürrischen Tonfall. »Wahrscheinlich lag die Leiche schon eine ganze Weile im flachen Wasser. Wir haben sie vorsichtig an Land geschafft. Da es gestern recht warm war, ist der Fäulnisprozess bereits in Gang gekommen. Die äußere Verwesung dürfte bald schon beginnen.«

»Könnt ihr denn einschätzen, wie lange genau sie im Wasser getrieben ist?«, fragte Morten.

»Es ist zu früh, sich darauf festzulegen«, warf Seelhoff ein. In seiner Stimme klang etwas Mahnendes mit, worauf Morten sofort die Augen verdrehte. Wollte er ihn wirklich belehren, dass sie keine voreiligen Schlüsse ziehen durften?

Seelhoff wandte sich von ihm ab, um in Denkerpose seinen Blick über die Pötenitzer Wiek schweifen zu lassen. »Ich würde schätzen, dass dieser Mann seit mindestens drei Tagen tot ist, aber das ist Aufgabe der Rechtsmedizin. Was die Spurenlage angeht, ist das hier im Sand alles andere als einfach. Dieser Bereich wird ohne Unterlass von leichten Wellen überspült. Unmöglich, hier zum Beispiel Fußabdrücke zu finden. Wenn es denn überhaupt welche gegeben hat.« Seelhoff hielt kurz inne und wies aufs Wasser. »Siehst du das Segelboot dort hinten?«

»Natürlich.«

»Das sollten wir uns mal näher ansehen.«

»Weil das Opfer dort erschossen wurde, ins Wasser gestürzt ist und dann hier angespült wurde?«

»Vom Himmel dürfte der Mann jedenfalls nicht gefallen sein«, kommentierte Siederdissen sarkastisch. »Und an Land haben wir bislang tatsächlich keinerlei Spuren außer denen der Leute, die den Mann entdeckt haben, gefunden.«

Morten verkniff sich einen Kommentar. Offenbar wollte der Kollege die Zusammenfassung der Ergebnisse nicht einem Jungspund wie ihm überlassen.

Er war froh, als Ida-Marie zu ihnen trat und sich nach dem aktuellen Stand erkundigte. Während Seelhoff ihr in aller Kürze berichtete, was er bezüglich des Segelboots und des ungefähren Todeszeitpunkts vermutete, zog Morten sich einige Meter zurück. Er wich dem Flatterband aus und ging den Wanderweg ein Stück entlang, bis sich zu seiner Linken hinter Sträuchern ein weiterer schmaler Zugang zum Wasser auftat. Er schob ein paar Äste beiseite und folgte dem Pfad.

Die Morgensonne glitzerte auf der Wasseroberfläche, ein paar Haubentaucher trieben scheinbar ziellos umher. Zweifellos ein traumhafter Ort. Wenn da nicht fünfzig Meter von Morten entfernt eine männliche Leiche mit zwei Kugeln im Kopf gelegen hätte. Und rund hundert Meter vor ihm in der Wiek ein Segelboot ankern würde, auf dem sich möglicherweise ein Verbrechen ereignet hatte.

Es mussten also schon einige Tage vergangen sein, seit dieser Mann erschossen worden war. Die Leiche war, wie es Siederdissen gesagt hatte, kein schöner Anblick, und dennoch hatte Morten nichts empfunden, als er sie inspiziert hatte. Kein flaues Gefühl oder Unbehagen, geschweige denn Ekel. Stattdessen vollkommene Gleichgültigkeit.

Trotzdem weckten der Fundort und die gesamte Szenerie die kriminalistischen Geister in ihm. Wer war der Tote? Was war auf diesem Boot vorgefallen? Und vor allem, was würde sie dort noch erwarten?