Weggeschaut
Ich frage mich oft, wie ich mich damals gefühlt habe. Als ich ein Kind war und wie ein Feind behandelt wurde. Wie ein Eindringling, der bestraft werden muss, bis seine Seele bricht.
Ich kann mich nur an wenige Szenen konkret erinnern, weil ich den Rest ganz einfach verdrängt habe. Ein normaler Schutzmechanismus des Körpers. Aber die flache Hand hatte irgendwann nicht mehr ausgereicht. Er hatte seinen Ledergürtel aus der Hose gezogen, mich gezwungen, meine Hose herunterzuziehen, und Dutzende Male zugeschlagen. Als ich schon nichts mehr fühlte und keine Tränen mehr flossen, hat er noch einige Male mit der Schnalle zugelangt, bis mein Hintern endgültig blutete.
Der physische Schmerz und die Erniedrigung durch ihn waren schlimm. Ich hatte tagelang nicht sitzen oder schlafen können, geschweige denn Fahrrad fahren. Im Kindergarten musste ich Ausreden erfinden, weshalb ich nicht mitspielen konnte. Die blauen Flecke und Schürfwunden versteckte ich, so gut es ging, vor den anderen. So schlimm es auch klingen mag, ich hatte mich irgendwann daran gewöhnt. Die Schläge gehörten zu meinem Leben. Manchmal dachte ich, das wäre vollkommen normal. Den anderen Kindern erginge es vielleicht ähnlich.
Etwas anderes war damals viel verletzender. Was den Hass in mir so groß gemacht hat, weshalb sie alle Verantwortung tragen, ist, dass niemand von ihnen mir geholfen hat. Niemand hat auch nur ein Wort gesagt, obwohl sie danebenstanden, wenn er mich verprügelt hat. Sie haben es gesehen. Meine Tränen. Meine Schreie haben sie gehört. Jedes Mal, und es war oft. Sie haben beschämt zur Seite geguckt, anstatt mich zu beschützen. Und manchmal hatte ich sogar das Gefühl, sie sahen zufrieden aus. Zufrieden, weil sie wussten, dass es besser wäre, wenn ich die Prügel einsteckte und nicht sie selbst.
Die schlimmsten Momente waren die, in denen ich das Gefühl hatte, ein Lächeln auf ihren Lippen zu sehen. Vor allem, wenn ich an den Weihnachtstagen in mein Zimmer gesperrt wurde. Unter dem Christbaum hätte ich nichts zu suchen, hatte er immer gesagt. Vorsichtig hatte ich durch den Türspalt beobachtet, dass alle Geschenke bekamen. Ich natürlich nicht, das erwartete ich auch gar nicht mehr. Sie taten einfach so, als wäre alles in bester Ordnung, und lachten. Dabei war alles in diesem Haus der reinste Horror.
Jedoch am grausamsten war es dann, wenn er und ich allein waren. Das kam nur selten vor, aber ich hatte das Gefühl, dass er manchmal dafür sorgte, dass die anderen nicht zu Hause waren. Damit er mich quälen konnte. Dieser Mensch ist ein Sadist, er empfindet Lust dabei, andere Menschen zu foltern und zu verletzen.
Mich hat er verletzt, psychisch wie physisch. Erniedrigt und geschlagen. Mich eingesperrt und hungern lassen. Ich konnte sehen, dass es ihn erregte, wenn ich tun musste, was er sagte, und es trotzdem nie gut genug war. Dann bestrafte er mich, und alles ging von vorne los. An manchen Tagen war er wie ein Sklavenhalter.
Alle haben weggeschaut. Damals wie heute. Aber es wäre besser für sie, sie hätten es nicht getan. Denn ich habe sie die ganze Zeit gesehen.
Wie oft habe ich zum Beispiel Jan beobachtet. Wenn er auf dem Boot stand und nachdenklich in den Sonnenuntergang sah. Oder in einem seiner Restaurants, wenn er vorbeikam und sich nach den Einnahmen erkundigte. Ich war immer da. Er hatte keine Ahnung, dass ich mehr über ihn wusste, als ihm lieb sein konnte.
Es hat ihn einfach nicht interessiert. Schon damals nicht, während ich diese Qualen erleiden musste. Und später nicht, als ich manchmal ganz in seiner Nähe war. Was für ein Fehler! Sie alle haben ihre Chance nicht genutzt. Vielleicht hätten sie ihren Tod verhindern können, wenn sie auf mich zugekommen wären. Wenn sie um Verzeihung gebeten hätten.
Vielleicht.
Am Ende spielt es keine Rolle. Keiner von ihnen hat sich bei mir entschuldigt. Mein Schicksal war ihnen schlichtweg egal. Sie haben es einfach zugelassen, und das habe ich ihnen niemals verziehen. Darum kann es keine andere Lösung geben: Sie werden sterben, einer nach dem anderen. Weil ich leben will.