Umrisse

Mortens Kopf dröhnte, als er von dem Klingeln seines Handys wach wurde. Es war acht Uhr. Normalerweise war er um diese Uhrzeit längst auf den Beinen, in der Regel schon an seinem Schreibtisch. Immerhin hatte er es gestern Nacht noch geschafft, den Wecker zu stellen. Andernfalls wäre er wahrscheinlich erst am späten Vormittag wach geworden.

Mit zusammengekniffenen Augen glaubte er, an der Nummer zu erkennen, dass es jemand aus dem Präsidium war, der ihn anrief. Trotz seiner Müdigkeit und der Kopfschmerzen, die er auf das letzte Herrengedeck des gestrigen Abends schob, nahm er das Gespräch entgegen und meldete sich mit einem kurzen »Hallo«.

»Peters aus der Einsatzzentrale«, meldete sich eine ältere Stimme. Morten kannte den Mann nur vom Sehen, aber er wusste, dass er einer der Dienstältesten bei der Bezirkskriminaldirektion Lübeck war. »Ich soll dich im Auftrag von Ida-Marie Berg anrufen«, fuhr der Mann fort. »Du sollst sofort in die Hohelandstraße kommen. Sie sagte, du wüsstest dann Bescheid.«

»Ich wüsste dann Bescheid?«, fragte Morten überrascht. »Was ist denn passiert?«

»Jemand wurde wohl erschossen, mehr weiß ich aber auch nicht.«

Augenblicklich saß Morten senkrecht im Bett. Dass ihn einer aus dem Präsidium um diese Zeit anrief, hatte ihn ohnehin schon alarmiert. Aber wenn in der Hohelandstraße jemand erschossen worden war, hatten sie wohl die Gewissheit, dass die unbekannte Anruferin nicht nur tatsächlich Caroline Ahrens gewesen, sondern ihre Vorahnung, sterben zu müssen, Realität geworden war.

Er bedankte sich bei Peters und legte auf. Dann stand er hastig auf, ging ins Badezimmer, wo er sich etwas Wasser ins Gesicht klatschte und kurz die Zähne putzte, und zog sich anschließend seine Klamotten von gestern Abend über. Sie stanken noch nach Zigarettenrauch und etwas Schweiß. Aber das war ihm in diesem Moment egal.

Als er die Wohnungstür hinter sich schloss, wurde ihm für einen kurzen Moment schwindelig. Sein Kreislauf schien noch nicht voll auf der Höhe zu sein. Während Flur und Treppenhaus um ihn herum bedenklich schwankten, erschienen auf einmal wieder die Bilder der letzten Wochen und Monate vor seinen Augen. Erneut war also jemand erschossen worden. Morten hatte kein Bild von Caroline Ahrens im Kopf. Deshalb blieb das Gesicht, auf das er zielte, seltsam unscharf. Und doch glaubte er, es zu kennen. Aber gerade als die Umrisse klarer wurden, verschwand die Erscheinung von einem Moment auf den anderen. Eine Wohnungstür im Stockwerk unter ihm öffnete sich, und ein kleines Kind kreischte laut.

Eine Viertelstunde später parkte Morten in der Hohelandstraße hinter mehr als einem halben Dutzend Rettungs- und Streifenwagen. Auch das eine oder andere Zivilfahrzeug seiner Kollegen erkannte er. Während der Fahrt hierher war ihm das Bild dieser Person nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Wen hatte er da plötzlich gesehen, auf den er die Waffe gerichtet hatte? Er konnte die Antwort auf diese Frage einfach nicht finden, was ihn noch mehr verunsicherte als die Tatsache, dass sein Unterbewusstsein offenbar ständig den Wunsch hatte, auf jemanden zu zielen.

Nachdenklich stieg Morten aus und duckte sich unter dem rot-weißen Absperrband hindurch, das quer über die Straße gespannt war. Dann ging er an den mittig auf der Fahrbahn geparkten Autos vorbei die Straße weiter hoch. Ein Fahrzeug der Müllabfuhr versperrte offenbar den Weg. Als er es passiert hatte, erkannte er Ida-Marie und Ole. Sie standen neben einer weißen Mercedes A-Klasse, die am Seitenrand abgestellt war. Sein Blick fiel auf das Kennzeichen. HL-CA … Mehr brauchte er gar nicht zu wissen.

Die Fahrertür des Autos stand offen. Ein Kollege von der Spurensicherung beugte sich dort in das Fahrzeuginnere, ein weiterer von der anderen Seite. Er war sich ziemlich sicher, dass es sich um Jannik handelte.

»Morgen«, sagte Morten leise. »Ist sie es?«

Ida-Marie nickte.

»Ich konnte sie nur anhand ihrer Kleidung identifizieren, die noch dieselbe ist, die sie gestern Mittag getragen hat«, sagte Ole mit schwerer Stimme. »Ihr wurde zweimal mitten ins Gesicht geschossen. Kein schöner Anblick, kannst du mir glauben.«

»Wer hat sie gefunden?«

»Einer der Müllmänner«, antwortete Ole und nickte in Richtung des orangen Fahrzeugs. »Das war vor einer knappen Stunde. Der Mann hat einen leichten Schock erlitten und wurde vorsichtshalber ins Krankenhaus gefahren.«

»Gibt es denn irgendwelche Zeugen?«

»Nein, wir haben jedenfalls noch niemanden gefunden«, antwortete Ole leicht bissig. »Der Schütze wird wahrscheinlich wieder einen Schalldämpfer benutzt haben. Und es könnte auch daran liegen, dass der Mord wohl schon einige Stunden zurückliegt, also gestern Abend passierte, als es längst dunkel war. Jedenfalls ist das meiste Blut an ihrem Körper und auf den Armaturen im Wageninneren schon angetrocknet.«

»Verdammt«, fluchte Morten. »Glaubt ihr, der Wagen stand schon gestern Abend an dieser Stelle, als wir hier waren?«

»Durchaus möglich«, sagte Ida-Marie. »Ihre Wohnung ist noch gut hundert Meter von hier entfernt, und wir haben ja nicht die ganze Straße nach ihrem Wagen abgesucht, weil wir gar nicht davon ausgegangen sind, dass sie hier ist.«

»Es sieht so aus, als seien die Scheiben des Wagens heil«, setzte Morten noch einmal an. »Das könnte bedeuten, dass der Täter mit ihr im Auto gesessen hat.«

»Jemand, den sie gut kannte?«

»Vielleicht.«

»Du meinst, ihr Bruder?«, wollte Ida-Marie wissen.

»Uns fehlt zwar das Motiv, weshalb er seine Geschwister brutal ermorden sollte, aber anhand der bisherigen Faktenlage deutet alles darauf hin, dass der Täter tatsächlich Henning Ahrens heißt. Haben wir schon irgendetwas von den dänischen Kollegen gehört?«

»Bislang keine Spur von Ahrens«, antwortete Ida-Marie. »Sie haben ihn in seiner Wohnung nicht auffinden können. Auch sein Auto scheint verschwunden zu sein.«

»Könnte bedeuten, dass er seit dem Mord an seinem Bruder nicht mehr zu Hause gewesen ist, sondern sich hier in Lübeck aufgehalten hat«, fasste Morten zusammen.

»Genau genommen kann er sich überall aufhalten«, gab Ole zu bedenken. »Er hat sich auf dem Boot befunden, von wo er nach dem Mord an Jan wahrscheinlich sofort verschwunden ist. Wobei wir nicht wissen, weshalb er es offenbar überstürzt verlassen hat. Fast vier Tage später taucht er dann hier auf und erschießt auch seine Schwester.«

»Oder aber Henning und Caroline Ahrens hatten schon vorher Kontakt«, warf Morten ein. »Vielleicht haben sie sich getroffen, und sie hat plötzlich verstanden, dass er ihren Bruder umgebracht hat. Weshalb sie dann Birger angerufen hat, was mir allerdings auch ein Rätsel ist, schließlich hast du doch mit ihr gesprochen.«

Ole zuckte mit den Schultern. Niemand hatte eine Antwort darauf, wieso sich die unbekannte Anruferin, bei der es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Caroline Ahrens handelte, ausgerechnet bei Birger gemeldet hatte. »Wissen wir, was für einen Wagen Henning Ahrens fährt?«, fragte er.

»Einen Audi Q3«, antwortete Ida-Marie. »Die Dänen haben versprochen, ein Foto und Fahrzeugdetails zu schicken.«

»Was können wir hier eigentlich noch ausrichten?«, fragte Morten und sah sich etwas verloren um. Die Wohnung von Caroline Ahrens hatten sie bereits gestern Abend inspiziert. Sie mussten irgendetwas unternehmen, nur hatte er in diesem Moment nicht den Hauch einer Ahnung, was das sein konnte.

Henning Ahrens zu finden glich wahrscheinlich der Suche nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen. Und natürlich konnte es nach wie vor sein, dass der Täter jemand ganz anderes war. Auch wenn dafür nicht viel sprach.

»Wir werden die Fahndung nach ihm noch einmal ausweiten«, sagte Ida-Marie ausweichend. »Eine Ringfahndung bringt leider nichts mehr, aber ich werde dafür sorgen, dass alle Polizeistationen mindestens in Schleswig-Holstein angehalten werden, nach ihm und dem Fahrzeug Ausschau zu halten.«

»Wir müssen noch einmal mit dem Vater sprechen«, sagte Morten. »Nicht, dass ich irgendeine Lust verspüre, ihm ein weiteres Mal unter die Augen zu treten, aber er hat jetzt innerhalb weniger Tage zwei seiner Kinder verloren, und das dritte verdächtigen wir des Mordes an ihnen.«

»Zumindest müssen wir ihm die Nachricht überbringen und ihn in diesem Zusammenhang fragen, wann er zuletzt Kontakt zu Henning hatte«, sagte Ida-Marie. »Ihr versteht sicherlich, dass ich in den nächsten Stunden nicht dazu kommen werde, euch zu unterstützen. Um auf deine Frage von vorhin zurückzukommen: Nein, ich glaube, ihr könnt hier im Moment nichts mehr ausrichten. Fahrt am besten direkt zu Christian Ahrens und redet mit ihm.«

Schweigend gingen sie auseinander. Morten folgte Ole die Straße hinunter und verzichtete darauf, einen letzten Blick auf Caroline Ahrens zu werfen oder ein paar kurze Worte mit Jannik zu wechseln.

»Kann ich bei euch mitfahren?«

Morten und Ole drehten sich um und blickten einer abgehetzten Elif entgegen. Sie machte den Eindruck, als wäre ihre Nacht ziemlich kurz gewesen.

»Geht’s dir gut?«, fragte Ole. »Du siehst etwas angeschlagen aus.«

»Schon okay«, wiegelte Elif ab. »Als mich Peters anrief, habe ich mich aus dem Bett gequält und bin hergekommen. Ida-Marie sagte mir gerade, dass ihr weitere Gespräche führen wollt.«

»Eigentlich brauchen wir auch jemanden im Präsidium, der die Stellung hält und weiter recherchiert.« Die Worte kamen über Mortens Lippen, ohne dass er sich dagegen wehren konnte.

Er merkte sofort, dass sie wie eine Ohrfeige wirkten. Elif zuckte förmlich zusammen und wich einen Schritt zurück. Aber es war ihm in diesem Moment tatsächlich egal. Noch war er nicht wieder so weit, dass er Seite an Seite mit Elif ermitteln und so tun konnte, als sei alles in Ordnung zwischen ihnen. Das mochte vielleicht unprofessionell sein, aber letztlich war es besser für alle. Und außerdem hielt er es für unnötig, dass sie zu dritt mit Christian Ahrens sprachen.

»Ich frage Ida-Marie, sie soll entscheiden, wie wir uns aufteilen.«

»Warte«, ging Morten dazwischen. »Fahrt ihr beide. Ich war gestern schon bei Ahrens, vielleicht bringt ihr noch mehr in Erfahrung.«

»Und was machst du?«

»Es gibt genug zu tun. Ich werde schon etwas Sinnvolles finden, keine Sorge.«

»Keine Alleingänge«, mahnte Ole an. »Wir alle kriegen Ärger, wenn du dich nicht daran hältst.«

»Darf ich denn allein an meinem Schreibtisch sitzen?«, fragte Morten provokant.

»Du weißt genau, was ich meine.« Ole winkte ab und warf ihm einen mahnenden und zugleich zwinkernden Blick zu.

Auch Elif wandte sich ab. Morten war sich sicher, dass ihre offensichtliche Kraftlosigkeit nichts mit seinen etwas zu barschen Worten zu tun hatte. Etwas anderes schien sie zu belasten. Mal wieder.

Gerade als er sich wegdrehen und zu seinem Auto gehen wollte, hörte er das Klingeln eines Telefons. Er sah sofort, dass es das Handy von Ole war. Augenblicklich kam die Szenerie von letzter Nacht im Buthmanns wieder hoch. Eigentlich ging ihn das Privatleben seines Kollegen ja nichts an, aber neugierig war er allemal. Er hatte in Erinnerung, dass Danuta auf ältere Männer stand und nicht auf so einen Jungspund wie Ole. Oder gab es einen anderen Grund, weshalb sie ihm schrieb?

Vielleicht würde er dem Ganzen mal auf den Grund gehen müssen. Aber vorher wollte er noch etwas anderes erledigen.