Plüschpantoffeln
Morten kam sich wie ein Mitschnacker vor. Der Schokoladenonkel, der sich seinem Opfer lächelnd näherte und mit Süßigkeiten lockte, damit es mit ihm ging.
Sein größtes Problem war, dass er nicht genau wusste, wie Karl aussah. In Stella Ahrens’ Wohnung hatte es nur wenige persönliche Gegenstände gegeben. Aber das eine Foto an der Wand im Flur war ihm ins Auge gefallen. Mutter und Sohn. Es war nicht aktuell, beide hatten darauf jünger ausgesehen.
Die meisten Kinder auf dem Schulhof konnte er kaum voneinander unterscheiden. Sie liefen an ihm vorbei, ohne dass er irgendein besonderes Merkmal ausmachen konnte, das auf Karl zutraf. Er duckte sich vor Lehrerinnen weg, die gestresst aus dem Gebäude kamen, um auf dem Schulhof die Pausenaufsicht zu verrichten.
Morten hatte den Eindruck, sich im Rahmen einer Ermittlung nie erbärmlicher gefühlt zu haben. Trotzdem wollte er unbedingt mit diesem Jungen reden. Er war sich sicher, dass es ihn weiter brachte als noch ein Gespräch mit dem alten Ahrens, der ihm ohnehin so unsympathisch gewesen war.
Eine weitere Klasse drang unter großem Geschrei aus dem Gebäude und verteilte sich auf dem Schulhof. Da war dieser Junge. Er hätte es nicht für möglich gehalten, ihn tatsächlich unter all den Kindern zu identifizieren, aber als er ins Blickfeld geriet, war Morten sofort klar, dass es sich um Karl handelte. Er hatte etwas an sich, das ihn herausstechen ließ. Die Mundpartie und die Wangen. Und vor allem der stechende Blick.
Morten beobachtete ihn. Irgendwie musste er einen Moment abpassen, in dem Karl allein war und niemand sie sehen konnte. Aber er merkte schnell, dass es unmöglich war, den Jungen anzusprechen, ohne dass andere Kinder etwas davon mitbekamen. Kurzerhand beschloss er, einfach auf ihn zuzugehen.
»Du bist Karl, richtig?« Etwas verschwörerisch beugte er sich zu ihm herunter.
»Wer will das wissen?«
»Eine sehr gute Frage. Ich bin Polizist und würde dir gerne ein paar Fragen stellen.« Er zog seine Dienstmarke aus der Jackentasche und hielt sie dem Kind vor die Nase. Wahrscheinlich hätte er ihm irgendeinen Ausweis zeigen können – woher sollte Karl wissen, ob er die Wahrheit sagte? Es fühlte sich einfach nur schäbig an.
»Und wieso?«
»Mich würde interessieren, wann du das letzte Mal deinen Vater gesehen hast«, sagte Morten.
»Ich weiß, dass er tot ist«, sagte Karl und klang dabei so nüchtern, dass Morten ein Schauer über den Rücken lief. Wie konnte ein Junge in diesem Alter derart gefasst reden, wenn er gerade erst erfahren hatte, dass sein Vater gestorben war?
»Das tut mir sehr leid für dich.« Morten suchte angestrengt nach den richtigen Worten. »Du hast ihn nicht so oft gesehen in den letzten Jahren, oder?«
»Geht so«, sagte Karl gedehnt.
»Euer letztes Treffen«, versuchte es Morten noch einmal, »wo war das?«
»Ich weiß nicht mehr«, antwortete Karl jetzt verunsichert.
»Doch, du erinnerst dich bestimmt. Streng dich bitte an, es ist wirklich wichtig.«
»Und wieso? Mein Papa ist doch tot.«
»Ja, aber wir möchten herausfinden, weshalb er tot ist. Ich weiß nicht, was dir deine Mama gesagt hat, aber es könnte sein, dass er vielleicht …« Morten stockte und entschied sich, den Satz besser nicht zu beenden. »Sag mir einfach, ob du deinen Papa in den vergangenen zwei Wochen noch einmal gesehen hast. Kam er vielleicht hier an der Schule vorbei oder nach deinem Klavierunterricht?«
Jetzt zuckte Karl mit den Schultern. Es war offensichtlich, dass er nicht lügen konnte oder wollte. Morten war sich sicher, dass Jan und der Junge sich noch einmal gesehen hatten, ohne dass Karls Mutter davon gewusst hatte.
»Okay, du brauchst mir nicht zu sagen, wo ihr euch gesehen habt. Ich stelle dir jetzt einfach ein paar Fragen, auf die du nur mit Nicken oder Kopfschütteln antworten musst. Ist das okay für dich?«
Karl nickte.
»Sehr gut, du hast das Prinzip schon verstanden. Dein Vater wollte dich dringend noch einmal sehen, hat mir deine Mama gesagt. War es wirklich so dringend?«
Wieder ein Nicken.
»Weil er etwas Wichtiges mit dir besprechen wollte?«
Diesmal reagierte Karl nicht.
»Okay, anders gefragt: Er wollte dich einfach unbedingt sehen und in den Arm nehmen?«
Nicken.
»Wollte er sich vielleicht von dir verabschieden, weil er eine längere Reise vorgehabt hat?«
Dieses Nicken kam zögerlich.
»Hat er gesagt, was genau er vorhat?«
Erstmals schüttelte Karl den Kopf.
»Wir wissen, dass seine Reise erst in einem halben Jahr beginnen sollte«, sagte Morten. »Er hätte also noch genug …«
Das Kopfschütteln von Karl war plötzlich so stark, dass Morten innehielt und den Jungen fixierte. »Also wollte er bereits früher verreisen?«, fragte er schließlich.
Nicken.
»Schon bald?«
Nicken.
»Sehr bald?«
Noch ein Nicken.
»Wirkte dein Papa nervös?«
Jetzt nickte Karl und schüttelte gleichzeitig den Kopf, als wisse er das Verhalten seines Vaters rückblickend nicht einzuschätzen.
»Absolut in Ordnung, wenn du dir nicht sicher bist. Denkst du denn, dein Vater hatte irgendein Problem, dass er Lübeck verlassen wollte?«
Diesmal zuckte der Junge wieder mit den Schultern. Im nächsten Augenblick sah Morten, dass zwei Lehrerinnen aus dem Gebäude traten und direkt auf sie zukamen.
»Na gut, du hast mir sehr geholfen«, sagte er hastig. »Es tut mir wirklich sehr leid für dich. Aber eine Sache noch: Es ist zwar nicht verboten, dass ich mit dir spreche, aber für uns beide wäre es wohl angenehmer, wenn du niemandem davon erzählst, wer ich bin und über was wir geredet haben. Würde nur zu lästigen Fragen führen.« Er zwinkerte Karl zu, doch der Junge verzog keine Miene.
»Danke noch mal.« Morten richtete sich wieder auf und spürte sofort, wie ein Schmerz durch seinen Rücken fuhr. So fühlte es sich also an, wenn man älter wurde.
»Mein Papa war nicht der, den die Leute kennen«, sagte Karl plötzlich.
»Wie bitte?«
»Er wollte ein anderer Mensch sein.«
»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz, was du …« Morten brach ab, weil die beiden Lehrerinnen nur noch wenige Meter entfernt waren und ihn bereits kritisch beäugten. Er nickte ihnen noch kurz zu, dann verschwand er raschen Schrittes vom Schulhof.
Hinter sich hörte er empörte Frauenstimmen, die wissen wollten, was er hier zu suchen hatte. Morten beschleunigte seinen Schritt und hoffte einfach, dass Karl dichthalten würde. Vielleicht hatte er ihn emotional erreicht. Was er am Ende noch über seinen Vater gesagt hatte, stimmte Morten jedenfalls optimistisch, dass der Junge ihm vertraute.
Nur was hatte Karl eigentlich damit gemeint, dass Jan Ahrens jemand anderes sein wollte? Dass die Menschen nicht wussten, wer er wirklich war? Irgendetwas musste in Ahrens vorgegangen sein, das dazu geführt hatte, dass er Lübeck verlassen wollte. Deutschland. Weit weg. Und nicht erst im November, wie das Flugticket vermuten ließ, sondern schon sehr bald.
Morten spürte sofort ein Gefühl von Unbehagen, als sein Blick auf die Frau fiel, die neben dem Kleinwagen am Straßenrand stand und in ihr Handy sprach, das sie sich dicht vor den Mund hielt. Es hatte einige Sekunden gedauert, ehe er ihr Gesicht einordnen konnte. Doch dann war er sich sicher, dass es sich um diese Journalistin der »Lübecker Nachrichten« handelte. Paula Hinrichs.
Er erinnerte sich an ihren Namen, weil sie während der Pressekonferenz gestern dafür gesorgt hatte, dass er die Contenance verlor. Weil sie Fragen gestellt hatte, die er in den falschen Hals bekam. Dass er in dieser Situation so aufgewühlt reagiert hatte, ärgerte ihn selbst am meisten. Immerhin war er doch so darauf bedacht gewesen, sich nach außen nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn Jens Bachmann noch immer beschäftigte.
Noch viel mehr irritierte ihn allerdings, was diese Journalistin überhaupt hier zu suchen hatte. Woher wusste sie, dass Malin Klein eine Beziehung mit Jan Ahrens geführt hatte? Und weshalb mischte sie sich in diese Ermittlungen ein?
Er vermied es, sie anzusehen, und ging schnell in Richtung Hauseingang. Die Tür stand ein Stück weit offen, ein Holzkeil verhinderte, dass sie zufiel.
Morten betrat das Treppenhaus und verharrte für einen Moment. Nachdem er sich schnell von der Schule beim Stadtpark entfernt hatte, war er bestimmt zwanzig Minuten im Schritttempo durch das Wohnviertel gekurvt, einfach um darüber nachzudenken, was Karls Worte zu bedeuten hatten. Er hatte versucht, alle bisherigen Erkenntnisse übereinanderzulegen. Die lapidare Bemerkung von Stella Ahrens, dass Jan womöglich in dubiose Geschäfte verwickelt war, erschien vor dem Hintergrund, dass er abtauchen wollte, plötzlich in einem anderen Licht. Einiges ergab jetzt mehr Sinn. Nur die Frage, wer ihn und seine Schwester getötet hatte, war aus Mortens Sicht viel unklarer, als er noch vor wenigen Stunden geglaubt hatte. Denn außer einem jahrealten Streit der Brüder gab es keine durchschlagenden Argumente dafür, dass Henning Ahrens derjenige war, den sie suchten.
Malin Klein wohnte im dritten Stockwerk des Hauses in der Lindenstraße, das hatte er gerade noch auf dem Klingelschild gesehen, als er ins Gebäudeinnere geschlüpft war. Das Haus war allem Anschein nach vor nicht allzu langer Zeit saniert worden und machte einen gepflegten Eindruck. Trotzdem hatte er das Gefühl, als würde Malin Klein einen ganz anderen Lebensstil als die Ex-Frau von Jan Ahrens führen.
Eine halbe Minute später hatte er die Bestätigung dafür, dass sie sich auch optisch komplett von Stella Ahrens unterschied. Eine Frau mit blondem Kurzhaarschnitt und jugendlichem Äußeren stand vor ihm und sah ihn fragend an.
Wenn es eines Gegenteils von Stella Ahrens bedurft hätte, dann wäre Malin Klein sicherlich die Person gewesen, an die man als Erstes gedacht hätte. Die kurzen Haare hatten beide gemein, aber Malin Klein hatte nichts von der sehr gestylten eleganten Frau, die sich zweifellos über jedes Detail von der Farbe ihrer Fingernägel bis zu den Schuhen Gedanken machte. Sie trug kein Make-up, und ihre Haare machten den Eindruck, als sei sie gerade erst aufgestanden. Unter dem roten Kapuzenpullover trug sie eine weite Jogginghose. Die ausgelatschten Plüschpantoffeln rundeten den Look ab.
Morten wunderte sich, dass Jan Ahrens zwei so unterschiedliche Frauentypen gewählt hatte, aber je länger er Malin Klein, die er etwas jünger als sich selbst schätzte, in die blauen Augen sah, desto mehr verwarf er seinen ersten Eindruck. Sie war hübsch, vor allem war da irgendetwas an ihrem Blick und ihrem Wesen, das sehr einnehmend war. Obwohl sie noch kein Wort miteinander gewechselt hatten, vermittelte sie allerdings auch das Gefühl, dass etwas sie belastete. Sie strahlte eine Traurigkeit aus, die sie fast ein wenig hilflos wirken ließ.
»Morten Sandt, Kripo Lübeck«, sagte er knapp und zeigte seinen Dienstausweis. »Wir haben ja gestern Abend bereits kurz telefoniert. Ich hatte mich angekündigt, um Ihnen noch ein paar Fragen zu stellen.«
»Ehrlich gesagt passt es gerade nicht so gut«, antwortete sie. »Kann ich Sie vielleicht später anrufen? Dann können wir in Ruhe reden.«
»Wer ist denn da schon wieder?«, drang plötzlich eine tiefe Männerstimme aus dem Hintergrund zu ihnen herüber.
»Mein Freund«, sagte Malin Klein und lächelte verlegen. »Er ist etwas genervt von der ganzen Sache.«
»Sie meinen, weil diese Journalistin eben bei Ihnen gewesen ist?«
»Ja, auch.«
»Was wollte sie denn eigentlich hier?«, hakte Morten nach.
»Sie hat mir ein paar Fragen gestellt, weil sie offenbar einen größeren Artikel über Jan schreiben möchte. Über sein Leben und den großen Erfolg von Kutterfutter.«
»Und was genau wollte sie da von Ihnen wissen?«
»Zum Beispiel, wie er so als Mensch war. Oder wie er mit seinen Mitarbeitern umgegangen ist, aber dazu konnte ich gar nicht viel sagen. Überhaupt hat das Gespräch nicht lange gedauert, weil Dennis …«
Gerade als sie seinen Namen ausgesprochen hatte, erschien hinter ihr ein groß gewachsener, muskulöser Mann, den Morten auf mindestens Ende dreißig schätzte. Altersmäßig passte er also etwas besser zu Malin Klein als Jan Ahrens. Aber Morten wurde nicht so richtig schlau daraus, was die eher zierliche Malin Klein an einem solchen aufgepumpten Typen fand. Dieser Schrank von einem Mann verbrachte mit Sicherheit in einer Woche mehr Stunden im Fitnessstudio, als Morten es in seinem ganzen Leben schaffen würde.
»Ist das etwa schon wieder so ein Pressevogel?«
»Der Mann ist von der Kripo«, sagte Malin Klein mit gedämpfter Stimme. »Pass also auf, was du sagst.«
»Dreht sich denn jetzt alles nur noch um dieses Arschloch?«
»Ich glaube, es wäre besser, wenn Sie jetzt gehen«, wandte Malin Klein sich an Morten. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass ihr die Situation äußerst unangenehm war. »Ich melde mich bei Ihnen«, schob sie noch hinterher.
»Es wäre wirklich gut, wenn Sie noch heute durchrufen«, sagte Morten. »Wir haben einige Fragen, die dringend geklärt werden müssen. Und in den letzten Minuten sind ehrlich gesagt einige neue dazugekommen.« Er zog seine Karte hervor und reichte sie Malin Klein. Dann nickte er zum Abschied und wandte sich Richtung Treppenhaus.
Als er hörte, wie hinter ihm die Wohnungstür zufiel, hielt Morten noch einmal inne. Die laute Stimme von diesem Dennis drang augenblicklich bis hinaus auf den Flur. Er musste nicht einmal näher herangehen, um jedes Wort zu verstehen.
Morten hatte keinen Zweifel daran, dass Malin Kleins Freund soeben damit gedroht hatte, sie umzubringen, wenn sie »diesen Bullen« anriefe. Dabei war seine Stimme immer aggressiver geworden. Den Geräuschen nach zu urteilen, wurden auch Möbel in der Wohnung verschoben. Er konnte nur hoffen, dass dieser Stiernacken ihr gegenüber noch nicht gewalttätig geworden war.
Morten befühlte sein Holster unter der dünnen Jacke und schloss die Augen. Eigentlich durfte er momentan gar keine Waffe tragen, Ida-Marie hatte es ihm untersagt. Solange er nicht wieder richtig stabil wäre, sollte er darauf verzichten. Aber er hatte ihre Ansage ignoriert. Wie sollte er ermitteln und sich womöglich in Gefahr begeben, ohne seine Dienstpistole zu tragen? Am Ende würde es ihm noch vorgeworfen und gegen ihn verwendet werden.
Die Stimme von Dennis drang immer lauter an seine Ohren. Von einem auf den anderen Moment erschien das Gesicht dieses Dreckskerls vor seinem inneren Auge. Mortens rechte Hand zitterte plötzlich in der Versuchung, seine Pistole zu zücken und noch einmal die wenigen Stufen bis zu der Wohnung zurückzugehen. Solchen Typen gehörte deutlich gemacht, dass es Grenzen gab, die sie besser nicht überschreiten sollten. Sie mussten verstehen, was er mit ihnen machte, wenn sie sich derart benahmen.
In Mortens Gedanken war seine Waffe längst auf die Stirn des Mannes gerichtet. Er atmete noch einmal tief durch. Dann traf er eine Entscheidung.