Hulk

»Für mich bitte das Labskaus«, sagte Birger Andresen und klappte die Karte wieder zu. »Und ein Pils dazu, bitte.«

»Sehr gerne«, sagte der Mann mit den zu einem Dutt geknoteten blonden Haaren und dem Dreitagebart. »Und für dich?« Er blickte Morten mit einem aufgesetzten Lächeln an.

»Könnte ich einfach nur ein Matjesbrötchen haben?«

»Klar, gar kein Problem. Und dazu auch ein frisch Gezapftes für dich?«

»Lieber ein Wasser, wer weiß, was der Abend noch bringt.«

»Natürlich.« Der Mann grinste verschwörerisch, als verstehe er, was Morten meinte. »Wenn ihr beiden sonst noch etwas braucht, dann gebt mir einfach ein Zeichen, okay? Und wenn ich gerade nicht zu sehen bin, einfach nach Kofi fragen.«

»In Ordnung.« Morten seufzte, als die Bedienung ihren Tisch verließ und zurück zur Theke ging, um ihre Bestellung weiterzugeben.

Eigentlich hatte er sich mit Birger im Kutterfutter-Stammhaus an der Obertrave treffen wollen, aber nach dem Tod von Caroline Ahrens war das Restaurant bis auf Weiteres geschlossen worden. Genau wie alle anderen Filialen, mit Ausnahme des Lokals in der Vorderreihe in Travemünde, der in den Sommermonaten autofreien Straße direkt an der Travemündung, die mit ihren vielen Restaurants, Cafés, Geschäften und den markanten Kopflinden nicht nur bei Touristen beliebt war. Kreischende Möwen, die nicht davor zurückscheuten, einem die Eiswaffel aus der Hand zu klauen, große Skandinavienfähren, die sich nur wenige Meter entfernt unter ihrem typischen Motorenwummern vorbeischoben, und eine Architektur, die noch immer durchblicken ließ, wie das Seebad vor hundert Jahren und mehr ausgesehen hatte.

Wie der Zufall es wollte, hatte Morten Birger erreicht, als der mit seiner Freundin am Strand auf dem Priwall unterwegs war. Er hatte nicht lange gezögert und zugesagt, sich eine halbe Stunde später in dem Fischrestaurant gegenüber der Kaiserbrücke mit ihm zu treffen. Agnes würde noch ein wenig auf der Priwallpromenade shoppen gehen und ihn dann später abholen. Und hier saßen sie nun.

»Wirst du spießig, Morten?« Birger grinste. »Das ist doch deine Generation, hast du etwa ein Problem damit?«

»Ich suche noch nach Gemeinsamkeiten mit den Kofis dieser Welt«, antwortete er. »Aber vielleicht tickt man als Kriminalpolizist einfach etwas anders.«

»Ganz bestimmt sogar«, sagte Birger. »Und ehrlich gesagt kenne ich niemanden in diesem Job, der sich in seiner Laufbahn noch einmal grundlegend verändert hat. Im Gegenteil, bei den meisten haben sich die Eigenarten und Macken eher verschärft. Aber lassen wir das, du weißt inzwischen ja selbst am besten, wie hart und einsam unser Beruf ist. Also, weswegen wolltest du mit mir sprechen?«

»Ich hatte das Gefühl, dass du gestern Abend nicht gerade glücklich mit der Situation warst.« Morten warf Birger einen vielsagenden Blick zu.

»Inwiefern?«

»Ich weiß es nicht. Sag du es mir.«

»Du bist ein schlauer Beobachter«, sagte Birger. »Da wir uns mittlerweile ganz gut kennen, hast du sicher eine ziemlich gute Vorstellung davon, was in mir vorgegangen ist.«

»Ich würde schätzen, dass du einfach dein Leben genießt und so etwas wie gestern nicht mehr brauchst, richtig?«

»Sehr vereinfacht ausgedrückt: ja. Es ist zwar nicht so, dass ich nur noch Enten füttern will oder mir demnächst eine Angel oder ein E-Bike kaufe. Aber diese zermürbenden Ermittlungen in Mordfällen sind tatsächlich nichts mehr für mich. Außerdem seid ihr drei jung und voller Energie, da passt ein alter Sack wie ich nicht mehr wirklich dazu.«

»Jung und voller Energie«, wiederholte Morten und lachte schief. »Keine Ahnung, wann ich mich das letzte Mal so gefühlt habe. Muss schon eine Weile her sein.«

»Es gibt nur zwei Dinge, die dir helfen werden, um mit der Sache mit Bachmann auf Dauer klarzukommen«, griff Birger sofort Mortens Anspielung auf. »Erstens musst du darüber reden, wenn es dir nicht gut geht. Und das Zweite ist Zeit. So abgedroschen es klingt, irgendwann verblassen die Erinnerungen an diesen Moment. Vor allem dann, wenn du in deinem Job immer wieder neue Herausforderungen meistern musst. Aber dafür musst du weitermachen und darfst dich nicht hängen lassen.«

»Klingt für den Moment leider etwas frustrierend«, sagte Morten.

»Ich weiß, aber es ist nun mal die Wahrheit. Der größte Fehler, den du machen kannst, wäre, daran zu zweifeln, dass du das Richtige getan hast. Natürlich hast du das, und das sage ich nicht, weil ich dir einfach gut zureden will. Du hast ein Leben gerettet, das sollte dir –«

»Und ein anderes ausgelöscht«, ergänzte Morten. »Aber egal, deswegen sitzen wir nicht hier. Lass uns lieber über den aktuellen Fall reden. Du hast ja mitbekommen, dass wir heute Morgen Caroline Ahrens gefunden haben. Mich würde interessieren, was du von der ganzen Sache hältst. Womit haben wir es zu tun?«

»Um ehrlich zu sein, weiß ich kaum etwas über eure bisherigen Ermittlungen. Keine Ahnung, welchen Spuren ihr nachgeht, aber aus meiner Sicht spricht alles dafür, dass wir es mit einer familiären Angelegenheit zu tun haben. Natürlich kann es auch jemand auf diese Restaurantkette abgesehen haben, aber so wie ich es verstanden habe, hat Caroline Ahrens ja nur übergangsweise dort gearbeitet. Meine persönliche Meinung aus der Ferne lautet, jemand wollte Rache an den beiden nehmen. Vielleicht auch eine Erbschaftsgeschichte oder so etwas.«

»Also denkst du auch an Henning Ahrens als Täter?«

»Wenn er der Einzige aus der Familie ist, der in Frage kommt, macht alles andere keinen Sinn. Aber das wisst ihr besser als ich.«

»Und wenn ich dir erzähle, dass der aktuelle Partner von Jan Ahrens’ ehemaliger Freundin ein vorbestrafter Gewaltverbrecher ist, der offen damit droht, sie umzubringen, wenn sie sich an die Polizei wendet?«

Birger wurde nachdenklich. »Dann könnte das die Lage natürlich verändern.«

»Vor allem, weil wir auch den Hinweis bekommen haben, dass Jan Ahrens sich wohl wieder mit seiner Ex getroffen haben soll. Damit liegt das fehlende Motiv gewissermaßen auf dem Silbertablett vor uns. Wenn da nicht …«

»… die Frage bliebe, weshalb Caroline Ahrens sterben musste«, ergänzte Birger. »Und übrigens auch, weshalb sie ausgerechnet mich angerufen hat.«

»Ihre Rolle in dem Ganzen ist momentan vielleicht das größte Rätsel«, seufzte Morten. »Natürlich liegt es nahe zu vermuten, dass Henning Ahrens seine Geschwister getötet hat, weil die Streitigkeiten zwischen ihnen eskaliert sein könnten und wir seine Kleidung auf dem Boot gefunden haben. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass wir bislang irgendetwas übersehen.«

»Wisst ihr denn eigentlich, worum es bei diesen Streitigkeiten ging?«

»Leider nicht, aber wir vermuten, dass sie nicht nur Jan und Henning betroffen haben. Auch der Rest der Familie war sich offenbar nicht sonderlich grün.«

»Dann solltet ihr genau da ansetzen«, sagte Birger. »Es muss in dieser Familie in der Vergangenheit irgendeinen Auslöser gegeben haben. Und genau den müsst ihr finden.«

»Niemand scheint darüber reden zu wollen«, sagte Morten. »Alle Gespräche, die wir geführt haben, kamen genau an der Stelle nicht weiter, wo es um den Grund für die Funkstille zwischen den Geschwistern und auch dem Vater ging.«

»Habt ihr wegen des Flugtickets noch irgendetwas herausgefunden?«, wechselte Birger das Thema.

Morten spürte, dass das Gespräch bereits festgefahren war. Er hatte gehofft, dass Birger ihm weiterhelfen könnte, aber dafür war der zu weit weg von dem Fall und vom Ermittlerdasein überhaupt. Er konnte sich offenbar nicht mehr so intensiv hineindenken, wie es ihm früher möglich gewesen war.

»Ich habe etwas getan, das ich besser nicht getan hätte«, sagte Morten, statt auf Birgers Frage einzugehen, und erntete einen fragenden Blick.

Er musste dringend loswerden, was ihm unter den Nägeln brannte, und erzählte davon, dass er den Sohn von Stella Ahrens an dessen Schule angesprochen und ein wenig ausgequetscht hatte. Dass Karl geglaubt hatte, sein Vater würde schon bald für längere Zeit verschwinden. Und etwas, das Morten bislang noch gar nicht einordnen konnte. »Dieses Kind erwähnte, dass sein Vater nicht der sei, den die Leute kennen.«

»Was meinte er damit?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Morten. »Aber er sagte noch, sein Vater wollte gerne ein anderer Mensch sein. Danach musste ich mich leider aus dem Staub machen, sonst hätten sie mich erwischt.«

»Ich sage jetzt nichts zu deinen Methoden.« Birger sah ihn scharf an. »Du weißt selbst, dass so etwas nicht geht. Andererseits kann ich dir keine Vorwürfe machen – ich war mit Sicherheit kein gutes Vorbild für dich.«

»Doch, sogar das beste. Und das meine ich völlig ohne Ironie, ich schwöre.«

Birger hob die rechte Augenbraue und verzog das Gesicht. Er hatte niemals das Gefühl gehabt, ein Vorbild zu sein. Nicht für seinen Sohn und nicht für Morten. Es fiel ihm deshalb schwer, mit den Worten umzugehen.

»Hast du mit Ida-Marie darüber gesprochen?«, lenkte er von sich ab.

»Nein.«

»Das musst du aber, früher oder später kommt es raus, und dann gibt es richtig Ärger.«

»Den erwarte ich sowieso.« Morten spürte selbst, wie fatalistisch er klang, aber genauso sah es seit Wochen in ihm aus. Immerzu beäugt von Ida-Marie und den anderen, die ihm nicht zutrauten, seinem Job vernünftig nachzugehen.

»Ich kann dir nur Ratschläge geben«, sagte Birger. »Umsetzen musst du sie selbst.«

»Ehrlich, ich schätze deine Ratschläge, aber du glaubst gar nicht, wie viele davon ich in den letzten Monaten bekommen habe. Und jetzt sind wir schon wieder bei mir, dabei wollte ich gar nicht über mich reden. Mich beschäftigt vielmehr, was dieser Junge damit gemeint hat, als er sagte, sein Vater wollte ein anderer Mensch sein.«

»Das klingt, als hätte er tatsächlich vorgehabt, ein neues Leben zu beginnen und mit dem bisherigen abzuschließen. Was war noch gleich das Ziel seiner Flugreise?«

»Neuseeland.«

»Ein Land zum Auswandern.«

»Weshalb sollte er das alles hier zurücklassen? Seine Restaurants laufen gut und sind ziemlich beliebt.«

»Habt ihr die Finanzen des Unternehmens überprüft?«, fragte Birger skeptisch.

»Elif ist da dran, aber so schnell geht das nicht. Denkst du, er wollte abhauen, weil ihn Schulden plagten?«

»Er wäre nicht der Erste.«

»Das wäre dann unsere dritte Theorie. Seine Ex-Frau Stella hat erzählt, dass Jan bei der Beschaffung von Geld, das er in Kutterfutter gesteckt hat, mit Leuten zusammengearbeitet hat, die offenbar alles andere als seriös sind. Wir wissen nicht, wer diese Typen sind, aber wenn wir ihr Glauben schenken, handelt es sich wahrscheinlich um Dänen.«

»Weshalb sollten wir ihr keinen Glauben schenken?«

»In den Gesprächen mit ihr hatte ich das Gefühl, sie rückt nicht mit allem heraus, was sie weiß. Außerdem glaube ich, dass sie auf Jan nicht gut zu sprechen war und mit ihrer Meinung über ihn nur hinterm Berg gehalten hat, weil er tot ist. Die beiden hatten in den Jahren nach der Scheidung nur Kontakt, wenn es um Karl ging.«

»Und auch hier die Frage, weshalb Caroline Ahrens sterben musste«, gab Birger wieder zu bedenken. »Hat sie denn in der Geschäftsführung mitgearbeitet? War sie in die Finanzen involviert?«

»Wäre mir neu«, antwortete Morten. »Aber irgendetwas sagt mir, dass die ›dubiosen Geschäfte‹, wie Stella Ahrens sie nannte, etwas mit dem Ganzen zu tun haben. Je länger ich darüber nachdenke, desto weniger wahrscheinlich erscheint mir auf jeden Fall, dass dieser Dennis Schindler die Ahrens-Geschwister erschossen hat.«

»Moment, wer?«, wurde Birger plötzlich hellhörig.

»Der Freund von Malin Klein. Dennis Schindler.«

»Schindler? Verdammt, den kenne ich.«

»Wie bitte?«

»Dieser Typ, der aussieht wie Meister Proper? Wie ein schlechtes Double von Hulk?«

»Das ist eine gute Beschreibung.« Morten grinste. »Also ja.«

»Vor langer Zeit habe ich ihn mal hinter Gitter gebracht«, erklärte Birger. »Das muss bestimmt fünfzehn Jahre her sein.«

»Was hatte er getan?«

»Er war Handlanger für einen Abbruchunternehmer. Eine heftige Geschichte. Schwedische Investoren, die in Lübeck Fuß fassen wollten und denen dabei jedes Mittel recht war. Dieser Abbruchunternehmer und seine Leute haben die Drecksarbeit verrichtet.«

»Drecksarbeit?«

»Mehrere Morde, schwere Körperverletzung und noch einiges mehr.«

»Aber Schindler hat meines Wissens noch keinen Mord begangen.«

»So ganz genau haben wir nie aufklären können, wer inwieweit an den einzelnen Taten beteiligt war, aber er gehörte tatsächlich nicht zu den Hauptverdächtigen. Trotzdem erinnere ich mich an einen wirklich unangenehmen, angsteinflößenden Mann.«

»Dem du zutraust, aus Eifersucht einen Menschen zu töten?«

Birger dachte noch über seine Antwort nach, als Mortens Handy vibrierte. Eine Handynummer, die er nicht kannte. Er nickte Birger kurz zu und nahm das Gespräch mit einem kurzen »Hallo?« an.

»Malin Klein hier, ich muss dringend mit Ihnen reden.«

»Gut, dass Sie anrufen«, sagte Morten. »Ich hoffe, Ihr Freund hört diesmal nicht mit?«

»Nein, das tut er nicht, aber können Sie so schnell wie möglich vorbeikommen?«

»Jetzt sofort?«

»Ja, ich habe etwas Schreckliches getan. Ich glaube, Dennis ist tot.«