Nachtschicht
Harm war der Drei-zu-zwei-Mensch. In manchen Wochen, wenn er sieben Tage am Stück arbeitete, auch der Vier-zu-drei-Mensch. Das bedeutete nichts anderes, als dass ihm sein Beruf immer einen Tag mehr in der Woche Spaß machte, als dass er ihn langweilte oder sogar frustrierte.
Es gab genügend Menschen, auch in seinem direkten Umfeld, die ihn immer wieder fragten, ob ihm der Job denn niemals langweilig werden würde. Ob er keine Ambitionen hätte, mal hinter der Brücke eines anderen Schiffs zu stehen. Eines viel größeren. Raus auf die offene See zu fahren. Ein »richtiger Kapitän« zu sein, wie sie despektierlich sagten.
In den ersten Jahren hatte er mit diesen Leuten noch diskutiert, sie davon zu überzeugen versucht, wie erfüllend sein Job trotz der Eintönigkeit war. Aber irgendwann hatte er damit aufgehört. Ihm war es schlichtweg egal, was andere über ihn und seine Arbeit dachten.
Und es gab ja auch nicht wenige, die ihn beneideten. Die sich gar nichts Besseres vorstellen konnten, als tagtäglich auf der Brücke der Autofähre, die zwischen Travemünde und dem Priwall pendelte, zu stehen und sie zu navigieren. Immer mit der Aussicht auf den Kirchturm im alten Ortskern, die hübschen Häuser in der Vorderreihe, die unverwüstliche »Passat« auf der anderen Seite oder die großen Fähren, die am Skandinavienkai ablegten und mehrfach am Tag seinen Weg kreuzten. Auch wenn er hier jeden Blick auf Travemünde wie seine Westentasche kannte, konnte er sich nicht daran sattsehen. Und das nun schon seit zweiunddreißig Jahren.
Meistens fuhr er auf der »Pötenitz«, wenn sie nicht gerade wegen Altersschwäche ausfiel und in der Werft repariert wurde. Eine neue Fähre war gerade geliefert worden. Mit hybridem Antrieb und einem Namen, den er sich nicht merken konnte. Auch er war sie bereits ein paarmal gefahren und hatte keinen großen Unterschied zu den alten Fähren feststellen können. Aber es war gut, dass nach so vielen Jahrzehnten endlich neue Schiffe zum Einsatz kamen. Sie sollte einfach funktionieren, und hoffentlich besser als die Personenfähre vorn an der Nordermole, die zweifellos ein Montagsgefährt war.
Natürlich war dieser Job intellektuell betrachtet nicht gerade der anspruchsvollste. Aber immerhin hatte er die vielen Gedanken über sein Leben, die er mit sich selbst ausmachte, wenn er stundenlang auf der Brücke stand, akribisch aufgeschrieben. Mit dem Ziel, nicht nur ein Tagebuch zu führen, sondern eine Geschichte zu erzählen. Oder zumindest kleine Anekdoten.
In all den Jahren hatte er so viele Menschen kennengelernt, mit deren Geschichten und Schicksalen er sich hatte auseinandersetzen müssen. Manche Begegnung hatte nur eine kurze Überfahrt gedauert, manch ein Berufspendler war allerdings auch regelmäßiger Begleiter seines Lebens geworden. Mit dem einen oder anderen verband ihn fast so etwas wie Freundschaft. Er hatte von ihnen Dinge erfahren, die er vielleicht gar nicht hatte hören wollen. Über Beziehungen, Probleme und Wünsche. Über politische und gesellschaftliche Themen. Und nicht zuletzt Fragen über seinen Beruf und ob der ihn denn wirklich erfülle.
Drei-zu-zwei. Zweifellos gab es diese Tage, an denen er absolut keine Lust verspürte, diesem Job nachzugehen. Aber bei wem war das schon anders? Bislang war es noch immer ein Tag mehr in der Woche, an dem er zufrieden war, wenn seine Schicht endete. Zumindest redete er sich das ein.
Heute fuhr Harm die Nachtschicht. Er mochte sie am wenigsten. In diesen Wochen fiel es ihm tatsächlich schwer, mehr Freude als Frust bei der Arbeit zu empfinden. Morgens nach Feierabend war er todmüde, fand jedoch nur selten sofort in den Schlaf. Und wenn es ihm dann irgendwann im Tagesverlauf doch noch gelang, fiel es ihm äußerst schwer, am späten Nachmittag wieder aus dem Bett zu kommen. Am Abend fuhr er dann nach Travemünde und übernahm die Brücke von einem seiner Kollegen. An solchen Tagen sah er seine Frau kaum, und an ein geregeltes Leben oder irgendwelche Unternehmungen war gar nicht zu denken.
Aber er wollte nicht klagen. Grundsätzlich war er ein positiver Mensch, sah das Glas immer halb voll statt halb leer. Eben ein Drei-zu-zwei Mensch. Nur noch ein paar Fahrten in den nächsten zwei Stunden, und er hatte auch die heutige Nacht wieder geschafft.
Die letzten Fahrzeuge schepperten über die Rampe und fuhren aufs Schiff. Viele waren es um diese Uhrzeit noch nicht, aber das dumpfe Geräusch hallte bis hier oben auf die Brücke. Als alle Autos ihre Parkposition erreicht und die Motoren abgestellt hatten, ließ er die Heckklappe hochfahren und schob den Hebel auf dem in die Jahre gekommenen Instrumentenbord nach vorn. Das Vibrieren des Stahls setzte sofort ein und war ein wohliges Geräusch in seinen Ohren.
Wenn die Fähre sich langsam in Bewegung setzte, um die Trave zu überqueren, überkam ihn selbst nach Tausenden Überfahrten, die er in seinem Leben als Kapitän schon absolviert hatte, noch immer dieses einzigartige Gefühl. Dass er das tat, wovon er schon als Kind geträumt hatte. Zweihundertsiebzig Meter Schifffahrt rüber auf den Priwall, auf die er sich damals, wenn seine Eltern mit ihm einen Ausflug auf die andere Seite gemacht hatten, immer am meisten gefreut hatte.
Harm machte noch etwas mehr Tempo. Er ließ seinen Blick schweifen. Auf Höhe der Nordermole erkannte er in der Morgendämmerung, dass eine der vielen Finnland-Fähren gerade in den Hafen einlief.
Das Wasser vor ihm glitzerte noch im Mondschein. Die Tage begannen jetzt, Anfang Mai, wieder so früh, dass die letzten Fahrten der Nachtschicht im Hellen stattfanden. Hinter ihm über dem alten Ortskern von Travemünde ging bereits die Sonne auf.
Zwei Drittel der Strecke hatten sie hinter sich gebracht, und schon war wieder der Zeitpunkt gekommen, das Bremsmanöver einzuleiten. Doch plötzlich blinzelte er, um seinen Blick zu schärfen. Am gegenüberliegenden Ufer, in Höhe der Seniorenresidenz, sah er im Halbdunkel einige Passanten, die mit den Armen wedelten. Er versuchte zu erkennen, ob es Freunde von ihm waren, aber diese Erklärung schien ihm vollkommen unsinnig. Nicht nur, dass er sehr wenige Freunde besaß, die ihm noch dazu niemals während seiner Arbeit zuwinken würden. Seine Freunde waren längst nicht so jung wie die Leute am Ufer. Und weshalb sollten sie ihn auch in dieser Herrgottsfrühe hier grüßen?
Winkten sie tatsächlich nur? Es kam ihm beinahe so vor, als wollten sie ihm etwas mitteilen. Ihn vor etwas warnen. Sie riefen ihm aufgeregt Worte entgegen, aber hier in seiner Kabine auf der Brücke konnte er sie nicht verstehen.
Keine fünfzig Meter mehr. Harm musste sich jetzt konzentrieren, um das Anlegemanöver einzuleiten. Das Landpersonal wartete wie üblich stoisch darauf, dass die Fähre festmachte und es die Autofahrer und Fußpassagiere vom Schiff geleitete. Nichts deutete darauf hin, dass etwas nicht in Ordnung war.
Höchstens noch zwanzig Meter. Noch immer gestikulierten die Menschen an Land, jetzt noch verzweifelter als zuvor. Sie schrien, aber er konnte sie einfach nicht hören. Erkannte er da Panik in ihren Augen?
Sein Kollege auf dem Autodeck, der die Fahrzeuge einwies, rannte im nächsten Augenblick vor bis an die Bugklappe und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Dann wandte er sich um und machte ebenfalls mit wilden Handbewegungen klar, dass Harm das Schiff sofort zum Stoppen bringen musste, wenn der es richtig deutete.
Verdammt, fuhr es ihm durch den Kopf. Was zum Teufel war denn bloß los?
Noch zehn Meter.
Sein Blick fiel auf den jetzt nur noch schmalen Streifen Wasser zwischen Anleger und Fähre. Plötzlich sah er, was der Grund für ihre Warnungen war. In der Trave schwamm etwas, das aussah wie ein menschlicher Körper. Ein verdammt lebloser Körper.
Hastig zog er den Hebel nach hinten und versuchte augenblicklich, die Maschinen zu stoppen. Aber er wusste, dass es längst zu spät war. Niemals würde es ihm gelingen, die Fähre jetzt noch komplett zum Stillstand zu bringen.
Harm schloss die Augen und zählte langsam von drei runter. Froh darüber, dass die Tür zum Brückenraum geschlossen war. Denn das übliche Geräusch, wenn der Stahl des Schiffs auf den Anleger traf, würde sich dieses Mal wahrscheinlich anders anhören. Er vermochte sich gar nicht vorzustellen, wie es klang, wenn ein Mensch zermalmt wurde.
Im nächsten Moment spürte er eine leichte Erschütterung. Die Fähre hatte angelegt. Obwohl er nicht gesehen hatte, was mit dem menschlichen Körper geschehen war, war er sich sofort sicher, dass er die Bilder, die in den letzten Sekunden in seinem Kopf entstanden waren, niemals wieder loswerden würde.
Und noch etwas anderes wurde ihm in diesem Augenblick bewusst: Zum ersten Mal fühlte sich das Glas tatsächlich halb leer an. Etwas hatte sich verändert. Auf dieser einen Fahrt über die Trave war etwas in ihm kaputtgegangen. Vielleicht war heute der Moment gekommen, an dem das Pendel umgeschlagen war. Denn wenn Harm in sich hineinhörte, fühlte es sich an, als wäre er auf einmal ein Zwei-zu-drei-Mensch.