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L
angsam kroch die Nacht aus dem Wald hervor. Mit ihr kam die Kälte – jene gnadenlos feuchte Kälte ländlicher Gebiete, die bis ins Mark kriecht.
Ivana zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu und blickte zu Niémans, der – sich selbst treu – offenbar nichts davon bemerkt hatte. Dieses Alphamännchen mit dem grauen Bürstenhaarschnitt und der Brille nach Art eines Lehrers aus dem letzten Weltkrieg stellte sich geradezu kampfbereit seinem deutschen Pendant entgegen.
Auch Ivana konzentrierte sich auf die Neuankömmlinge. Sie genoss den Anblick der versetzt geparkten BMWs, dazu die leicht bläulichen Xenonscheinwerfer und die in Schwarz gekleideten Beamten des LKA, die eher wie Soldaten aussahen als wie Polizisten. Nicht übel
.
Ein Mann löste sich aus der Gruppe. Er war mittelgroß und relativ schmal. In seinem Anorak mit der Aufschrift »LKA Baden-Württemberg« machte er nicht gerade die imposanteste Figur. Er hatte dünnes Haar, trug eine runde Brille wie Niémans und einen Spitzbart, mit dem er wie Professor Bienlein aussah. Er war nicht unbedingt ein Hingucker.
Und doch empfand Ivana überraschenderweise einen kleinen Schauder. Denn bei genauerem Hinsehen entdeckte sie eine edle Stirn, einen intensiven Blick und energische Gesichtszüge, und mit dem Spitzbart erinnerte er sie an einen Musketier. Der Kriminalbeamte blieb breitbeinig auf dem Kies stehen, wie ein Gravitationspunkt inmitten seiner Leute. Er war ihr Chef und strahlte trotz seines schmächtigen Körperbaus echte Autorität aus.
Zwei Dinge waren Ivana sofort klar: Erstens gefiel ihr dieser Mann, und zweitens würde er ihr und Niémans das Leben ziemlich schwer machen.
»Ich bin Polizeioberkommissar Fabian Kleinert vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg«, verkündete er und reichte Niémans seine Karte. »Das entspricht in etwa Ihrer Kriminalpolizei.«
Auch Kleinert sprach Französisch. Offenbar stand die Sprache Voltaires in allen Schulen Baden-Württembergs auf dem Lehrplan.
Niémans steckte die Karte unbesehen ein.
»Commandant Pierre Niémans und Lieutenant Ivana Bogdanović. Wir gehören zur OCCS, einem Dezernat gegen Gewaltverbrechen. Eine genaue deutsche Entsprechung gibt es nicht.«
»Will heißen?«, erkundigte sich Kleinert mit gerunzelter Stirn.
»Die OCCS wurde erst vor kurzer Zeit ins Leben gerufen, um die Polizei oder die Gendarmerie in schwierigen Fällen zu unterstützen.«
»Wir brauchen keine Unterstützung.«
»Unsere Erfahrung könnte zusätzliches Licht auf den Tod von Jürgen von Geyersberg werfen.«
»Welche Erfahrung?«
Ivana fürchtete eine scharfzüngige Entgegnung ihres Chefs, aber Niémans lächelte. Er schien entschlossen, sich nicht ärgern zu lassen, allerdings konnte das in manchen Fällen durchaus schlimmer enden als in einer gepflegten Schimpfkanonade.
»Erfahrung mit Gewaltverbrechen«, antwortete er ruhig. »In Paris leben mehr Menschen als in irgendeiner anderen Stadt Frankreichs. Das bedeutet mehr Spinner und somit auch mehr verrückte Mörder. Und genau diese Leute sind seit dreißig Jahren Teil meines Alltags.«
Der deutsche Polizist nickte widerstrebend.
»Der Staatsanwalt in Colmar hat mir das alles bereits erklärt.«
Plötzlich schien ihm der eigentliche Grund für seine Irritation wieder in den Sinn zu kommen: »Wann wollten Sie uns eigentlich über Ihre Anwesenheit informieren?«
»Lassen Sie uns doch erst einmal Zeit, richtig anzukommen.«
»Sie haben bereits Philipp Schüller befragt, und jetzt finden wir Sie bei Gräfin Laura von Geyersberg.«
»Die Buschtrommeln funktionieren offenbar recht gut.«
Kleinert blickte Ivana kurz an und wandte sich dann wieder an
Niémans.
»Sie befinden sich hier in meinem Zuständigkeitsbereich. Unsere Vorgesetzten mögen sich im Namen irgendeines europäischen Abkommens geeinigt haben, aber hier gilt mein Kommando.«
»Ganz sicher nicht. Unser Auftrag kommt von …«
Kleinert unterbrach ihn mit einer Geste und erklärte matt: »Wie dem auch sei: Sie kommen zu spät. Wir haben den Täter.«
»Was?«, fragte Ivana verwundert. »Darüber wurden wir nicht informiert!«
»Ihre elsässischen Kollegen wissen es noch nicht.«
»Und wer ist es?«
»Thomas Krauss. Ein Aktivist und überzeugter Jagdgegner.«
»Franzose?«
»Nein, Deutscher. Er wurde in Offenburg verhaftet und hat heute Morgen gestanden.«
Ivana hatte den Namen in den Akten gelesen. Krauss galt als einer der Hauptverdächtigen in der Kategorie »politisch motiviertes Attentat«.
»Können wir ihn befragen?«, wollte Niémans wissen.
»Morgen. Heute Abend wird er der Polizeidirektion Freiburg überstellt. Wir verhören ihn gemeinsam, ehe wir die Auslieferungsformalitäten erledigen.«
»Hat er sein Motiv genannt?«, fragte Ivana.
»Er sagt, der Mord an Jürgen von Geyersberg wäre ein humanitärer Akt und dass er, wäre er frei, auf sein Grab pinkeln würde. Reicht Ihnen das als Motiv?«
Niémans warf Ivana lächelnd einen Blick zu, als wolle er sagen: »Siehst du, Herzchen, man braucht nur einen falschen Schuldigen, um einer Ermittlung zu einem guten Start zu verhelfen.« Sie war der gleichen Meinung, denn obwohl sie selbst ein solches Motiv ins Spiel gebracht hatte, war es so gut wie unmöglich, dass jemand Jürgen enthauptete, nur weil der Graf die Jagd liebte. Krauss war vermutlich ein Fanatiker, der Märtyrer spielen wollte.
»Bis dahin gehe ich davon aus, dass Sie die Gräfin in Ruhe lassen«, fuhr Kleinert in feierlichem Ton fort. »Es ist unnötig, ihr die Nachricht zu überbringen, ehe wir nicht vollkommen sicher sind. Der Staatsanwalt wird sich bei ihr melden.«
Niémans und Ivana nickten. Der Deutsche wollte die Gräfin schützen – sicher nicht nur, weil sie zehn Milliarden Euro schwer war.
Dieser Umstand ließ ihn zunächst menschlicher erscheinen, bis er schnell hinzufügte: »Für morgen erwarte ich eine detaillierte Abschrift Ihrer Verhöre.«
Niémans erblasste. Er hasste es, Verhörprotokolle zu schreiben. Als Ivana den Job bei ihm annahm, war ihr bewusst, dass der gesamte Papierkram an ihr hängen bleiben würde.
»Wir lassen Ihnen unseren Bericht zukommen, sobald wir zurück in Frankreich sind und …«
»Nein. Jedes Verhör auf deutschem Boden muss innerhalb von vierundzwanzig Stunden von meiner Abteilung geprüft werden. So lautet die Vorschrift.«
Kleinert winkte einem seiner Männer zu, der eine Mappe bei sich trug. Die Akte wanderte von Hand zu Hand, bis sie bei Niémans landete.
»Wir haben die wesentlichen Züge unserer Ermittlungen übersetzen lassen und sie auch Ihren Kollegen in Colmar geschickt.«
Niémans presste die Lippen zusammen.
»Vielen Dank, Herr Kommissar«, fühlte Ivana sich verpflichtet zu sagen.
»Wissen Sie bereits, wo Sie heute Nacht unterkommen?«, erkundigte sich Kleinert, als hätte er sie nicht gehört.
»Wir werden schon irgendetwas finden.«
Grußlos drehte Kleinert sich um und ging zu seinem Auto. Sofort riss jemand die Tür für ihn auf. Eine typisch deutsche Polizeieigenheit, zackig wie ein Militärmarsch.
Ehe er in seinen BMW stieg, drehte Kleinert sich kurz zu Ivana um, wie in einem kurzen Aha-Effekt. Dann verschwand er wie ein Stein in einem Brunnen.
»Du gefällst ihm.« Niémans grinste.
»Er hat mich nicht eine Sekunde beachtet.«
»Und gerade deshalb war der Blick eben so was wie ein Eingeständnis.«
Ivana spürte, wie sie errötete. Sie hatte lange an sich gearbeitet, aber es wollte beim besten Willen immer noch nicht klappen, sie
wurde beim kleinsten Kompliment sofort puterrot.
»Nun, wie lief Ihre erste Begegnung mit unseren Gesetzeshütern?«
Sie wandten sich um. Laura war ihnen nach draußen gefolgt. Sie hatte sich einen Kaschmirpullover um die Schultern gebunden. Hinter ihr waren die Lichter in der gläsernen Villa angeschaltet, das Haus sah aus wie ein zum Start bereites Raumschiff.
Erneut musterte Ivana die Gräfin. Diese Frau errötete bestimmt nicht wegen jeder Kleinigkeit.
»Eher steif«, antwortete Niémans kurz angebunden.
»So ist das eben hier bei uns. Wissen Sie, warum die Feuerwehr 1933 den Reichstag abbrennen ließ?«
»Nein.«
»Wegen der Schilder mit der Aufschrift: ›Das Betreten der Rasenflächen ist verboten‹.«
»Sehr witzig«, sagte der Polizist wenig überzeugt.
»Das ist deutscher Humor. Ich habe Ihre Zimmer herrichten lassen.«
Überrascht blickten die beiden Franzosen sie an.
»Gastfreundschaft ist bei uns eine alte Familientradition. Ich habe sogar meine beiden Vettern zum Abendessen eingeladen. Sie können sie befragen, ohne dafür durch die Gegend fahren zu müssen.«
Mit diesen Worten zog Laura sich in ihre Villa zurück, während Niémans und Ivana schweigend überlegten: Gastfreundschaft oder Hinterhalt?