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W
ichtig beim Gang durch den Wald ist, weder zu denken noch zu analysieren oder zu planen. Nur die Beobachtung zählt. Man ist allein, man geht langsam, man verschmilzt mit dem Wald und konzentriert sich hundertprozentig auf das Wesentliche. Auf die Geräusche, die man selbst verursacht, auf die Geräusche der Beute … Das ist das Einzige, was zählt.«
»Alle Pirschjäger kennen es: Man streift umher, man sucht, aber man ist innerlich bereits mit dem Ziel verbunden. Eine Art Vibration, ein elektrischer Strom vereint den Jäger und seine Beute.«
Niémans lag mit dem Computer auf den Knien auf seinem Bett und sah sich auf YouTube untertitelte Berichte deutscher Pirschjäger an, die alle Loden trugen. Es gab unterschiedliche Ansichten bezüglich der Tarnung, in Deutschland aber hatte offensichtlich der Loden, ein weicher und raschelarmer Stoff, die Nase vorn.
»Man verliert das Gefühl für Zeit und Raum. Die Wirklichkeit löst sich auf. Man schwebt im Wald. Man fühlt sich wie in Trance.«
Gegenüber Ivana hatte Niémans den Advocatus Diaboli gespielt, aber auch er verstand nicht, welchen Genuss man bei der Jagd empfinden konnte. Jäger wie seinen Großvater, der Abende damit verbringen konnte, die Schönheit eines großen Hirschs zu erklären, welcher unbeweglich im Sonnenuntergang steht, und dessen einzige Reaktion darauf es dann war, das Tier zu erschießen, verglich Niémans mit einem Musikliebhaber, der, nachdem Mozarts Requiem
ihn zu Tränen gerührt hat, nichts Dringenderes zu tun weiß, als die Partitur zu verbrennen.
Der Polizist tippte auf der Tastatur herum auf der Suche nach einem weiteren Aspekt: den Techniken der Pirschjagd. Es ging um Tarnung, um die Feststellung der Windrichtung, um die Analyse von
Spuren und die Beurteilung der Mondphasen, die das Verhalten des Tieres beeinflussen. Diese Dinge fand Niémans wirklich interessant, hier ging es um Verfahren, die er verstehen und bewundern konnte, denn er war Polizist und verbrachte seine Zeit damit, das gefährlichste Wild von allen zu jagen.
Die Informationen aus dem Netz bestärkten ihn in seiner tiefen Überzeugung, dass der Mann, der Jürgen getötet hatte, kein Antijagdaktivist war, sondern im Gegenteil ein leidenschaftlicher Jäger. Nur so hatte es ihm gelingen können, den Erben auf seinem eigenen Land in den Wald zu locken und zu überrumpeln. Und ausschließlich aufgrund dieser Fähigkeiten war es ihm möglich gewesen, keine Spuren zu hinterlassen. Nur ein Raubtier in völligem Einklang mit der Natur konnte sich auf diese Weise in Luft auflösen. Im Übrigen war der Polizist sicher, dass der Eichenbruch zwischen Jürgens Zähnen eine Huldigung war.
Niémans kam die Idee, sich näher mit den Bruchzeichen zu beschäftigen, diesen belaubten oder benadelten Zweigen bestimmter Bäume, der »gerechten Holzarten«, die traditionell vom Baum gebrochen und vom Jäger auf seine Beute gelegt werden. Darunter gab es den »letzten Bissen«, aber auch den »Aneignungsbruch«, bei dem ein Zweig einer »gerechten Holzart« gebrochen und auf die Schulter des getöteten Tieres gelegt wird. Abhängig von der Richtung, der Lage auf dem Körper oder der Art, wie der Zweig gebrochen wurde, hat er unterschiedliche Bedeutungen. Im Fall von Jürgen hatten die Ermittler keinen Aneignungsbruch gefunden, dieser könnte aber vom Wind davongetragen oder von einem Tier verschleppt worden sein.
Vielleicht sollten sie die Fotos vom Tatort einem Pirschjäger zeigen. Möglicherweise hatte die Positionierung des Körpers oder ein anderer Aspekt der Inszenierung eine bisher nicht vollständig entschlüsselte Bedeutung.
In diesem Augenblick hörte der Polizist draußen ein gedämpftes Geräusch. Er lauschte aufmerksam. Nur wenig später vernahm er ein weiteres Knacken. Er sprang auf, griff nach seiner Waffe, eilte zum Fenster und blinzelte in die Dunkelheit, um zu erkennen, was unten vor sich ging – er hatte den Verdacht, dass jemand versuchte, in die gläserne Villa einzudringen.
Doch er sah nichts und konnte auch den Mechanismus zum Öffnen des Fensters nicht finden. Hastig zog er Jacke und Schuhe an, verließ den Raum und lief so leise wie möglich die Treppe hinunter.
Er durchquerte das Wohnzimmer und öffnete die Glastür. Es war noch ein paar Grad kälter geworden, und er nahm die Kälte überrascht zur Kenntnis, ehe er seinen Blick aufmerksam über die ausgedehnten Rasenflächen und die schwarzen Begrenzungsmauern gleiten ließ. Nichts. Kein Schatten, keine Bewegung.
Niémans entspannte sich. Die Nacht war wundervoll, mit dem Raureif, der die Baumrinden überzog, und den Tautropfen auf jeder einzelnen Fichtennadel gestaltete sich eine Mischung aus Präzision und vagem Schweben, denn einen Meter über dem Boden waberten Nebelbänke.
Tief atmete Niémans die feuchte Luft ein, als wolle er diese gesamte Schönheit auf einmal aufsaugen. Der Duft nach Harz und zertretenen Blättern umhüllte ihn und drang direkt in sein Gehirn. Sofort fühlte er sich wie im Rausch. Er geriet leicht ins Schwanken, und der Griff um seine Sig Sauer lockerte sich. Und dann sah er sie plötzlich.
Laura von Geyersberg ging rechts von ihm in Jeans und dunklem Mantel an den Tannen entlang. Sie schlang die Arme um den Körper, als wolle sie sich wärmen. Ihr schwarzes Haar glitt vor den Kiefern her wie ein Lackpinsel über eine dunkle Leinwand.
Niémans steckte seine Waffe hinten in den Gürtel und folgte der jungen Frau. Genau in diesem Moment verschwand Laura von Geyersberg zwischen den dunklen Zweigen. Der Polizist begann zu rennen.