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I
st das Ihr Ernst?«
Niémans hatte soeben die Gestalt beschrieben, die er zwischen den Bäumen gesehen hatte.
»Sehe ich etwa aus, als würde ich scherzen?«, antwortete er schlecht gelaunt. »Der Kerl trug eine Art Sturmhaube mit Augenschlitzen. Unter dem Stoff war ein Steg zum Schutz der Nase.«
Kleinert nickte. Es war offensichtlich, dass er Niémans kein Wort glaubte. Seine kahle Stirn spiegelte wie eine Bowlingkugel und reflektierte die blauen Blitze der Einsatzwagen der Polizei, die sich auf den schönen Rasenflächen vor der gläsernen Villa drängten.
Die Szenerie war fast unwirklich. Die grellen Strahlen von LEDs blitzten zwischen Bäumen und Blättern hervor, schimmerten auf Baumstämmen, schmiegten sich in die Textur des Nebels und tanzten wie ein Ballett psychedelischer Irrlichter.
Der Polizeioberkommissar zog die Plane beiseite, die den Körper des Hundes bedeckte.
»Sind Sie sicher, dass er Sie angreifen wollte?«
»Einer musste dran glauben – er oder ich. Er war auf der Fährte der Gräfin, aber als er mich entdeckte, konzentrierte er sich auf meine Kehle.«
In seinem schwarzen Regenmantel mit aufgestelltem Kragen sah Kleinert mit seinem Spitzbart und dem vorn kurzen und hinten längeren Haar aus wie ein Verschwörer aus dem achtzehnten Jahrhundert.
»Apropos«, meinte er skeptisch, »wo ist die Gräfin überhaupt?«
»Nach Hause gegangen. Der Vorfall hat sie ziemlich mitgenommen.«
Der Deutsche lächelte kurz.
»Sie ist mit den Methoden der französischen Polizei nicht vertraut.«
Seine geradezu perfekte Aussprache ging Niémans auf die Nerven. Trotzdem ließ er sich nicht provozieren.
»Die Gräfin ist in Gefahr«, erklärte er. »Wir müssen sofort Personenschutz anfordern.«
Der Tonfall des Polizisten ließ seinen Gesprächspartner zusammenzucken.
»Damit das klar ist, Commandant, ich bin hier derjenige, der die Befehle erteilt.«
»Natürlich. Aber wir sind uns doch einig, oder? Offenbar soll nach Jürgen jetzt auch Laura dran glauben.«
Kleinert schüttelte den Kopf.
»Meine Leute haben im Park weder Reifen- noch Fußspuren gefunden.« Der deutsche Polizist zeigte auf eine Gruppe von Männern in schwarzer Kleidung hinter dem Absperrband. »Und auch die Leute von der Security haben nichts gesehen oder gehört.«
Niémans blickte zu den Schränken von Männern hinüber, die leise miteinander redeten.
»Diese Typen wissen was.«
»Nein«, erklärte Kleinert kategorisch.
»Und doch haben sie offensichtlich eine Menge zu besprechen.«
»Das sind Einheimische. Sie glauben noch an die alten Legenden.«
»Alte Legenden?«
»Ein Kapuzenmann in Begleitung eines schwarzen Hundes? Sie haben zu viel erzählt, mein Freund. Die Hälfte aller Märchen hier aus der Gegend handelt von genau dieser Begegnung. Das Besondere daran ist, dass man hier immer noch an diesen Unsinn glaubt, auch viele Erwachsene.«
Niémans hätte die Sache gern so entspannt gesehen wie Kleinert und die naiven Überzeugungen mit einem Schulterzucken abgetan. Aber seit er die Grenze überquert hatte, hatten ihn dieser Wald und seine Schatten als Geisel genommen. Und dann hatte er auch noch diese Maske zwischen den Kiefernnadeln gesehen …
Als wäre das nicht genug, inspizierte er noch den Hund, der im Gras lag wie eine schwere, kompakte Granitskulptur. Im Tod hatte er die Lefzen hochgezogen, als fletsche er seine riesigen Reißzähne.
»Wir sollten ihn Schüller zeigen«, meinte Ivana, die ihre eigene
Inspektionsrunde beendet hatte.
Ihre Anwesenheit genügte zu Niémans’ Rettung: Seit sie da war, fühlte er sich wieder warm, stark und lebendig. Mit Ivana ging alles besser.
»Dem Hausarzt der Familie von Geyersberg?«, fragte Kleinert. »Warum?«
»Er hat gesagt, er wäre Spezialist für Jagdhunde.«
»Wer sagt, dass es ein Jagdhund ist?«
»Kennen Sie diese Rasse?«
»Nein.« Kleinert lächelte unwillkürlich. »Ich habe in der Tat keine Ahnung von Hunden.«
»Wir leider auch nicht.« Ivana lächelte zurück.
Ihre plötzliche Komplizenschaft nervte Niémans, aber es gab Dringlicheres, als den Eifersüchtigen zu spielen.
»Den ersten Ermittlungen zufolge«, fuhr Ivana fort, »trägt er weder ein Halsband, noch ist er tätowiert. Er hat auch keine besonderen Merkmale. Also müssen wir bei der Rasse anfangen.«
Kleinert nickte. »Ich sage meinen Leuten, dass sie ihn zum Max-Planck-Institut bringen sollen.«
Er verabschiedete sich mit einer kurzen Verbeugung von Ivana und ging davon.
Nach einigen Metern rief er Niémans über die Schulter zu:
»Ich erwarte Sie morgen beide auf dem Revier in Freiburg.«
»Wegen meiner Aussage?«
»Nein. Um Krauss zu verhören.«
Den Mann hatte er vollkommen vergessen. Mit dem Angriff auf die Gräfin war das Geständnis bedeutungslos geworden. Aber Kleinert hatte recht: Man musste jede Spur bis zum Ende abarbeiten, ehe man zur nächsten überging.
»Was halten Sie davon?«, wollte Ivana wissen, als sie allein waren.
»Jürgen liebte die Pirschjagd und wurde nach deren Regeln getötet. Laura tendiert zur Treibjagd, und man hat einen Hund auf sie gehetzt.«
»Ja und?«
»Der Mörder hat sich entschieden, die Mitglieder der Familie von Geyersberg mit jeweils der Jagdtechnik zur Strecke zu bringen, die
sein Opfer am häufigsten anwendet.«
»Aber warum?«
»Für eine Antwort darauf ist es noch zu früh. Aber ich tendiere zu einem Rachemotiv.«
»Wegen eines Jagdunfalls?«
»Oder etwas anderem. Aber falls es sich um Rache handelt, will der Mörder mit der Jagdform offenbar ein Zeichen setzen.«
Sie gingen auf das Haus zu, das nun wieder hell erleuchtet war. Die Villa schien über dem blauen Rasen zu schweben.
»Wir müssen nach einem Ereignis suchen, das im Zusammenhang mit den Jagdpartien der Familie von Geyersberg steht. Und wir dürfen nicht vergessen, dass der Mörder am Tag vor der Treibjagd zugeschlagen hat, vermutlich damit alle Teilnehmer die Leiche während der Veranstaltung entdecken.«
Die Kälte der Nacht tat ihm gut. Seine Sinne kehrten zurück, seine Klarheit und sein großer Wunsch zu leben. Er hatte gefürchtet, sterben zu müssen, er hatte gewankt, aber es war vorbei.
»Fang noch heute Abend mit der Suche im Internet an«, trug er Ivana auf. »Lokalzeitungen, einschlägige Webseiten, all so was. Morgen wühlen wir uns durch das Polizeiarchiv. Irgendeine Nachricht unter ›Verschiedenes‹ könnte einen Bezug zu der Familie haben. Und wir müssen herausfinden, ob es in der Gegend einen Jäger gibt, der nachweislich verrückt ist oder auch mal über die Stränge schlägt.«
Sie waren nur noch wenige Meter von der Villa entfernt, als Niémans in einer Art Vorahnung aufblickte. Im ersten Stock stand die Gräfin im Erker und beobachtete sie. Ihre Haltung war genau wie vorhin im Wald, doch dieses Mal hatte sie einen Schal umgelegt.
Der Polizist unterdrückte einen neuerlichen Schauder, der jedoch nichts mit der Kälte zu tun hatte.
»Bist du in der Frage nach der wirtschaftlichen Situation des Konzerns weitergekommen?«
»Da gibt es nichts Interessantes, darüber reden wir morgen. Und Sie? Die Pirsch?«
»Genau das Gleiche.«
Sie stiegen die Vortreppe hinauf, aber Niémans schaffte es nicht, die Glastür zu öffnen – er zitterte wie ein Alkoholiker auf Entzug.
»Niémans …«, flüsterte Ivana.
Der Polizist gab seinen Versuch auf, und Ivana schob ihre Hand in den Mechanismus, der sofort nachgab.
»Was haben Sie für ein Problem mit Hunden?«
Niémans unterdrückte einen Fluch. Seine unverhältnismäßig große Angst war ihr also nicht entgangen.
»Das erkläre ich dir irgendwann mal. Aber das hat keine Eile.«
Sie nickte kurz und schlüpfte ohne ein weiteres Wort ins Haus. Niémans beobachtete, wie sie den Raum durchquerte und auf der Treppe zum ersten Stock verschwand.
Wieder war er allein. Er erstarrte erneut, spürte das Blut des Hundes auf seinem Gesicht, das geronnen war und seine Haut zusammenzog wie Meersalz beim Trocknen. Schließlich betrat auch er das Wohnzimmer und schloss die Glastür hinter sich.
Als er die Treppe hinaufging, befand er sich nicht mehr im Hier und Jetzt. Er war kaum zwölf Jahre alt und lag im Bett in einem kleinen Schlafzimmer im ersten Stock der Hütte seiner Großeltern.
Im Bett nebenan stieß sein älterer Bruder mit seiner Stimme eines Verrückten im Flüsterton Drohungen in seine Richtung aus, wobei er die S absichtlich lange zischte: »Réglisssssssse … Réglisssssssse … Hörst du? Er kommt! Réglisssssssse … Réglisssssssse … Er kommt, um dich zu töten!«