# 3

 

Weiche Muskeln bewegten sich unter feucht schimmernder Haut, als Rakus Bettgefährte aus dem Bett stieg. Spitzen von zerwühlten, braunen Haar klebten feucht in dessen Nacken und das freche Grinsen, dass Noas Gesicht ihm über die Schulter zeigte, sollte sein Herz höherschlagen lassen.

Doch stattdessen fühlte es sich leer an.

Auch das neckische Zwinkern konnte Raku nicht wirklich berühren, dennoch erwiderte er aus Höflichkeit das Lächeln. Schließlich war es nicht die Schuld dieses Mannes, dass er emotional so kalt wie ein toter Fisch geblieben war.

Raku blieb auf dem Rücken im Bett liegen, als er in das winzige Bad verschwand. Während das Geräusch fließenden Wassers die Stille füllte, legte sich der Geruch von frischem Schweiß auf ihn wie ein hauchdünnes, nasses Tuch. Er starrte an die mit schummrigen, orangefarbenen Licht angeleuchtete Decke und versuchte das unangenehme Gefühl zu verdrängen, dass sich auch diesmal durch seine Eingeweide fraß.

Sein Körper war befriedigt. Davon zeugten unverkennbar die Flüssigkeiten, die seinen Bauch verklebten und seinen Bettgefährten ins Bad getrieben hatten. Sollte es sich nicht gut anfühlen, den Geruch voneinander zu tragen?

Aber da war gar nichts.

Dieser Kerl war nun schon der dritte Sex-Dienstleister, dem er Noas Aussehen als Hologramm übergestreift hatte. Zuerst war Raku etwas befangen gewesen, weil er bisher nur mit Frauen geschlafen hatte, doch Noas Aussehen und das zweifelsohne hervorragende Können der Prostituierten hatten ihm schnell körperliches Vergnügen beschert. Sex mit Männern war so ganz anders als mit Frauen – nicht besser oder schlechter.

Doch so angenehm das Stelldichein auch in der Tätigkeit an sich war, so sehr verhungerte währenddessen seine Seele.

Raku hatte doch mit der KI Noa nur seine festgefahrenen Grenzen aufweichen und lernen wollen, was ihm genau an einem Mann gefallen könnte. Schließlich fand er schon immer beide Geschlechter anziehend, hatte aber bisher immer nur Frauen gefunden, auf die er sich hatte einlassen können. Es war überhaupt nicht geplant gewesen, dass er Noa so verfallen würde.

Natürlich nicht – wer plante schon Liebe?

Wenigstens weiß ich nun sicher, dass es nicht nur sein Aussehen ist , stellte er gedanklich fest, während seine Haut an unangenehmen Stellen zu jucken begann.

Er begann unruhig mit seinen Zehen zu wackeln und verschränkte die Arme vor der Brust. Hoffentlich war das Bad bald frei.

Auch wenn diese Männer noch so sehr wie Noa aussahen, Raku bemerkte ständig, dass sie es nicht waren. Ihre Worte und Bewegungen waren so fremd. Deswegen ging er recht schnell zur Sache, denn beim Thema Stöhnen und Sex hatte er keine vergleichbaren Erfahrungen mit Noa. Aber sobald der Höhepunkt erreicht war und der Nebel der Lust sich verzog, fühlte es sich jedes Mal wie ein Schlag in die Magengrube an.

Das heute war wieder nicht der Mann, dessen Lächeln seine Knie weich werden und Lippen ihn beinahe in Flammen aufgehen ließen.

Außerdem war da dieses kratzende Gefühl in Rakus Hinterkopf – ein nagendes, schlechtes Gewissen Noa gegenüber. Dabei hatten sie sich nichts versprochen! Diese ganze Farce in der Realität war nur leider wesentlich bezahlbarer als ein Bodytalk des Holonets in einem Ganzkörper-Premiumanzug mit Noa – geradezu spottbillig.

»Du siehst nachdenklich aus? Die meisten Grinsen nur dümmlich, wenn ich mit ihnen fertig bin«, riss ihn eine fremde Stimme aus den Gedanken.

Raku stemmte seinen Oberkörper mit den Ellbogen nach oben und schaute zur Badtür. Darin stand ein gut gebauter Mann, dessen Grinsen von Ohr zu Ohr zu gehen schien. Sein Körperbau war Noas sehr ähnlich, er musste zu dem Holo-Overlay passen. Auf diese Weise fühlte es sich realistischer an, wenn Raku ihn berührte. An seiner dunklen bronzefarbenen Haut flossen noch ein paar Wassertropfen hinab und wollten den Blick auf die Regionen unterhalb des Nabels richten. Der Kerl fiel definitiv unter die Kategorie unwiderstehlich , aber für Raku war der Anblick seiner Blöße nun eher unangenehm.

Dementsprechend richtete er sich auf, legte unwillkürlich seine Hände vor seinen Schritt und blickte auf den abgetretenen Teppichboden.

»Das hab ich alles schon ganz genau gesehen«, meinte der Mann amüsiert, während er durch das winzige Zimmer spazierte.

»Mhmmm.« Raku nickte nur und spürte, wie sich die Matratze neben ihm senkte. Er hob den Blick und schaute in überraschend mitfühlende, dunkle Augen.

»Du wirkst allerdings nicht besonders glücklich. Vor ein paar Minuten hast du noch ausgesehen, als wärst du im Elysium«, plauderte der Mann, dessen Namen Raku nicht einmal kannte. »Große Gefühle für diesen Typen, oder? Sieht schon echt hübsch aus, dieses Holobild.«

»Schon möglich. Kann dir doch egal sein«, brummte Raku und fuhr sich durch sein verschwitztes Haar. Dann seufzte er laut. »Tut mir leid, das war nicht fair.«

»Schon okay, das bin ich gewohnt.« Der Fremde lachte leise. »Niemand will wirklich mich. Das ist auch kein Problem, das sorgt für einen gesunden Abstand.«

Raku zuckte nur mit den Schultern. Jetzt fühlte er sich noch zusätzlich mies, weil er diesen Mann wie einen Gegenstand benutzte – wenn auch bezahlt und freiwillig.

»Ich kenne diesen Blick«, führ er fort. »Du bist verliebt. Auf die unglückliche Art und Weise. Kein schnöder Fetisch auf einen Holonet-Star, den du schon immer mal richtig flachlegen wolltest.«

Das entlockte Raku ein knappes Nicken. Obwohl es in dem kleinen Raum warm war, fröstelte ihm. Ob andere Nutzer von Noas Abo ihn vielleicht einfach nur als Fetisch betrachteten? Das fühlte sich so falsch für ihn an.

Der Mann ließ sich nach hinten fallen, sodass die Matratze unter Raku heftig federte. »Warum datest du ihn nicht? Steht er nicht auf Kerle?«

»Das ist es nicht. Er hat mir zu verstehen gegeben, dass er das gern wollen würde«, erwiderte Raku leise.

»Wo liegt dann das Problem?« Das verständnislose Augenrollen konnte man beinahe Hören. »Lass mich raten. Entweder lebt er auf einem anderen Kontinent und ihr kennt euch nur über das Holonet oder er hat seine reale Optik so stark verändert, dass er sich dir nicht unter die Augen traut«, mutmaßte er. »Oder aber …«

Die bedeutungsvolle Pause ließ ein heißes Prickeln durch Rakus Adern schießen. Wusste er es? Hatte er heimlich recherchiert und herausgefunden, dass er wie ein naiver Idiot einer KI hinterherschmachtete? Er stellte sich auf ein grausames Lachen ein und zog den Kopf zwischen die Schultern, wie eine Schildkröte in ihren Schutzpanzer.

»Der Typ ist eigentlich eine Frau und hat nur einen männlichen In-Net-Charakter?« Die Stimme des Mannes klang siegessicher.

Raku schüttelte heftig den Kopf und schnaubte entrüstet, um seine Erleichterung über diese falsche Theorie zu verbergen.

»Na, was auch immer«, ächzte der Fremde, während er sich genüsslich streckte.

Dann schwang er seine Beine in die Höhe, sprang mit Schwung von dem schmalen Bett und positionierte sich genau vor Raku, sodass dessen Geschlechtsorgane vor dessen Gesicht herumbaumelten, wie überreife Trauben an einem Ast. Raku drehte ablehnend den Kopf zur Seite.

»Ich nehme an, Bodytalk ist auf Dauer unbezahlbar, habe ich Recht?« Er traf damit selbstverständlich voll ins Schwarze. »Keine ideale Lösung.«

Raku zog wütend die Augenbrauen zusammen und knirschte mit den Zähnen.

»Eine weitere Runde mit dir sicher auch nicht«, erwiderte er unwirsch und stand ebenfalls auf.

Ohne den Mann anzuschauen, glitt er hastig an ihm vorbei. Die Körperwärme des anderen streifte seine Haut, ohne dass sie einander berührten. Der Fremde war Rakus Meinung nach viel zu nah. Blödsinnig, wenn man sich gerade eben noch lüstern in dessen Körper versenkt hatte. Das wusste er auch und wollte trotzdem nur noch flüchten.

»Das sehe ich anders«, raunte der Mann mit sanfter Stimme. »Allerdings nicht mit jemanden wie mir. Du musst deinen Schwarm treffen – außerhalb des Holonets.«

Raku hatte das Bad erreicht, legte eine Hand an den Türrahmen und fühlte sich plötzlich bleischwer. Er legte die andere Hand vor seine auf einmal feucht brennenden Augen und schluckte schwer. Sein Brustkorb bebte, während er zitternd tief ein- und ausatmete, um sich irgendwie zu fassen.

Natürlich musste er das.

Doch Noa besaß keinen Körper.

Unmöglich.

»Nur zu. Tritt einfach weiter zu«, flüsterte er heiser.

»Bist du bereit, alles dafür zu tun?«, sprach der Fremde.

Raku antwortete nicht, sondern zog nur energisch seine Hand von seinen Augen und warf ihm einen glühenden Blick über die Schulter zu.

»Sogar jemand anderen dafür zu opfern?« Die Stimme des Mannes klang so ernst, dass Raku ihn anstarrte.

Doch die Gesichtszüge des anderen verrieten nicht, ob er sich nur einen Spaß daraus machte, ihn zu quälen. Raku ließ den Kopf hängen und legte die Finger auf seine Brust. Sein Herz schlug schneller – er konnte es deutlich durch seine Knochen hindurch spüren.

Er ballte die Hand zur Faust.

Der Fremde lächelte wissend.

 

 

Das Licht der Sonne ließ die Kanten der Gebäude flirren und der blaue Himmel reflektierte sich so klar auf ihren Glasfassaden, dass man das Gefühl hatte, in eine unendliche Weite zu schauen. Elegante Werbe-Hologramme zeigten lachende Gesichter die modernste Produkte aus Industrie und Wissenschaft präsentierten – jedes designt, um das Leben noch angenehmer zu machen.

Die mitreißenden Slogans der Regierung fügten sich formschön in das Stadtbild ein. Sie sprachen von Frieden, Sicherheit und Zusammenhalt, der sich jeglicher Gefahr erfolgreich entgegenzustemmen vermochte. Die war jedes Jahr eine andere: Extremisten, Krankheiten, Staaten, Konzerne und was sonst noch eine Beeinträchtigung für das Leben darstellen konnte.

Je mehr Raku sich vom Stadtzentrum entfernte, desto weniger ideal wirkte die Stadt. Die Hologramme wurden spärlicher, die Bäume seltener und das malerische Cyan des Himmels verrutschte immer mehr in ein Grau. Die Slogans wurden kürzer und prägnanter, die Bilder dazu zeigten unverhohlener, was die aktuelle Bedrohung von Frieden und Wohlstand wäre.

Raku kannte sie alle. Und wie jeder andere auch, versuchte er, die Propaganda aus seiner Wahrnehmung auszusperren. Dennoch hinterließ sie ihre Spuren. So manches Mal machte er es sich leicht und benutzte diese scheinbar logischen Argumentationsketten, um die chaotische Welt ein bisschen besser ordnen zu können, statt jedes Detail auf seinen Wahrheitsgehalt zu prüfen.

Was machte es auch für einen Unterschied?

Gar keinen.

Das wusste jeder von ihnen. Man hatte den Menschen vorgegaukelt, dass mit dem Ende des kalten Krieges, der zwischen den Großmächten der Erde geherrscht hatte, nun eine globale Gemeinschaft entstehen würde. Endlich würde man sich den Problemen der Welt widmen und gemeinsam in die Zukunft blicken.

Nichts war der Realität ferner gewesen.

Der kalte Krieg hatte niemals geendet – er war nur verlagert worden. Das Wettrüsten wandelte sich zu einem Wettwirtschaften, Wettforschen, Wettlügen. Unter dem Deckmantel von Freiheit geschah eine noch nie dagewesene Gleichschaltung – je nach dem moralischen System, welches gerade vorherrschend war.

Gerechtigkeit?

Biegsam und ohne Grenzen. Nur ein schöner Traum.

Doch der hatte sich längst ausgeträumt. Die Menschen hatten realisiert, dass es völlig gleichgültig war, was sie wollten. Die öffentliche Meinung war das Einzige, was zählte – und damit die derjenigen, welche sie formte.

Doch die Menschen waren nicht dumm.

Nur bequem.

Also zogen sie sich zuerst in ihr Privatleben zurück und nutzten die bahnbrechende Holo-Technologie, um sich eine schöne, kleine Welt zu schaffen. Als jedoch der Zerfall der Gesellschaft auch diese langsam zu einem Käfig umformte, flüchteten sie sich in das Holonet. Raus aus der Realität – hinein in einen wunderbaren Traum, in dem man sein Wesen selbst bestimmen konnte.

Daher zeigte sich Raku in den ärmeren Stadtteilen auch mehr von der Realität, die sich hinter dem Schleier aus falschen Versprechungen verbarg.

Die Gebäude bestanden nur noch aus glatten, grauen Betonwänden. Graue Kästen, die mit einer Holo-Fassade sicher so wunderbar wirken würden, wie in der Innenstadt. Der Asphalt unter seinen Füßen war rissig, die Bäume kahl und verdorrt. Der sonst immer blaue Himmel hing so tief in einem bedrückendem Grau über ihm, dass Raku unwillkürlich den Rücken krümmte.

Im Schatten einer Fabrik, dessen riesige Abwasserrohre wie verstopfte Venen wirkten, fand Raku endlich sein Ziel: eine verlassene Einkaufshalle, auf dessen Parkplatz sich Wohnwägen und Wellblechbehausungen aneinanderreihten, wie Blechdosen in einem Mülleimer. Bräunlich verschmutzte Stoffe versuchten etwas Farbe in diese Ansammlung von Schrott zu bringen. Im Gegensatz zur Innenstadt, waren die Straßen rege bevölkert. Etliche Leute liefen umher, saßen vor ihren Unterkünften oder unterhielten sich lautstark. Hauptsache raus aus den kleinen Löchern, in denen sie schliefen.

Sie alle waren für Raku verstörend weit von einem Ideal entfernt. Ihre Gesichter waren unsymmetrisch, die Körper viel zu schmal oder viel zu beleibt. Die Haut zeigte Verunreinigungen und die Kleidung war derart unmodisch, dass es seiner Meinung nach beinahe einem Verbrechen glich!

Reiß dich zusammen , ermahnte er sich in Gedanken. Sie nutzen lediglich keine Holos. Wir sehen alle nicht so schön aus, wie wir es gerne hätten.

Dennoch fragte Raku sich, warum der Sexdienstleister ihn gerade an diesen Ort geschickt hatte. Diese Leute konnten sich nicht einmal einfache Holo-Overlays leisten. Wie sollte er hier jemanden finden, der Noa in einer gewissen Art real werden lassen konnte?

Als er den Wagenplatz betrat, glotzten die Passanten ihn unverhohlen an. Rakus schönes Äußeres fiel hier auf, wie ein Scheißhaufen auf poliertem Marmorboden. Seine Schritte verlangsamten sich. Er tippte vor sich in die Luft, wischte sich durch das Bekleidungsmenü und wählte ein passenderes Aussehen: eine künstlich abgewetzte Jeans, ein schlichtes schwarzes Achselshirt und eine fleckige Stoffjacke. Insgesamt ergab das für ihn einen ausreichend schäbigen Look – auch wenn er in der Software eher als »rau und jugendlich« beschrieben wurde.

Seinen Körper beließ er jedoch, wie er war.

Ich habe schließlich auch meinen Stolz , dachte Raku und schritt mit grimmigem Blick weiter.

Der Platz lag in einem eigenartigen Zwielicht. Die Industriegebäude, welche ihn umgaben, sperrten das Tageslicht nahezu vollständig aus. Flackernde Lichter aus den mit Stoffen verhangenen Fensteröffnungen tanzten über die verhärmten Gesichter der Leute. Die Reflexionen kläglicher Versuche, etwas Gemütlichkeit zu schaffen.

Wochenlang hatte Raku gezögert, dem Hinweis nachzugehen. Er war nicht naiv. Die Möglichkeit, einem Holo einen realen Körper zu geben, wäre ein zu lukrativer Markt, als dass man sich das entgehen lassen würde. Horden von Fans würden ihren Lieblingscharakter aus Spielen und Filmen in ihr Leben holen wollen. Da scheinbar niemand davon wusste, und er selbst bei Recherchen im Holonet nichts dazu hatte finden können, musste das Ganze schwer illegal sein.

Doch Noa im Holonet zu begegnen, war so ganz anders als die Treffen mit den Prostituierten. Sie sahen zwar wie die liebevolle KI aus, waren allerdings nicht wirklich er. Rakus Seele schien aufzuatmen, wenn Noa bei ihm war.

Konnte man eine Künstliche Intelligenz lieben?

Hatte sie einen echten Charakter?

Raku wusste es nicht und derartige philosophische Fragen waren ihm auch egal. Er fühlte, was er fühlte – war ein Mensch und hatte Bedürfnisse. Raku brauchte nicht nur platonische Nähe, sondern auch körperliche. Wie schön musste es sein, ohne diesem Instinkt auszukommen? Manche Menschen konnten das, waren frei von dem Wunsch nach Körperlichkeit. Eine Laune der Natur, die ihm plötzlich elitär vorkam.

»Ist ja kaum auszuhalten, wie orientierungslos du hier herumstreunerst«, riss ihn plötzlich eine Stimme aus den Gedanken.

Raku stoppte und drehte den Kopf in Richtung des Sprechers: ein schlanker Mann, einen halben Kopf größer als er. Er hatte seine langen, braunen Haare zu einem wirren Dutt zusammengebunden, der vermutlich schon seit über einer Woche nicht gelöst worden war. Er trug Stiefel, die nur mit einem Seil zugeschnürt waren, eine vor Dreck starre Hose eines alten Projektionsanzugs und einen Pullover, bei dem der linke Arm kurz über dem Ellbogen abgerissen war und um den Hals bereits aufribbelte. Der Unterarm zeigte zwei Metallstangen, die sich kurz vor der Hand in seine Haut bohrten – ein provisorisches Exoskelett, weil der Knochen entweder frisch gebrochen oder nie verheilt war. Das konnte man aufgrund des fleckigen Verbands nicht wirklich feststellen.

Als ob sein Aussehen nicht schon deutlich genug machen würde, dass es sich um einen kläglichen Abschaum der Gesellschaft handelte, so machte es sein Gesicht ziemlich deutlich.

Eine hässliche Narbe zog sich von der Stirn über sein rechtes Auge bis zur Wange. Die Iris war grau und flach – eindeutig künstlich. Vermutlich hatte die Netzhaut den Biochip, den jeder Mensch kurz nach seiner Geburt implantiert bekam, bereits abgestoßen. Wahrscheinlich war das Auge mittlerweile beinahe erblindet. Vielleicht war das sogar besser so, denn ohne den Chip konnte man Hologramm-Overlays nicht sehen und müsste die ungeschönte Realität ertragen. Seine mittig schräg nach oben geformten Augenbrauen verliehen ihm den Ausdruck eines getretenen Hundes.

»Besser orientierungslos, als … so herumzuspazieren«, meinte Raku die Nase rümpfend, und deutete mit der Hand auf die dreckige Kleidung seines Gegenübers.

Der Kerl zuckte nur mit den Schultern und schien sich an dieser Beleidigung nicht zu stören. Stattdessen grinste er. Seine Zähne waren für Rakus Empfinden viel zu dunkel, aber er kannte auch nur die optimierten, strahlenden Zahnreihen normaler Bürger.

»Du siehst viel zu gut aus«, stellte er fest und kratzte sich mit dem Finger an seiner Nasenspitze, während er Raku neugierig musterte. »Hübsches Holo auf dir. Läuft das Abo bald aus und du kannst es dir nicht mehr leisten?«

Raku fiel auf die Schnelle keine Geschichte ein, die glaubhaft begründete, warum er hier war. Mit seinem Wunsch offen hausieren zu gehen, erschien ihm wenig sinnvoll – vor allem, wenn er illegal war. Der Fremde deutete sein Schweigen wohl auf seine eigene Art und plapperte munter weiter.

»Schon okay. Du musst nichts erzählen.« Er winkte ab und zwinkerte Raku mit seinem gesunden, sumpfgrünen Auge zu. »Wir alle haben unsere Geschichte, warum wir aus der schönen, heilen Welt gekickt wurden. Bei mir ist's das Übliche: ich wollte zu schnell viel mehr sein, als ich war, und hab mich mit den Abos verschuldet. Ohne wollte mich dann keiner mehr haben. Das war's. Werde übrigens Lenn gerufen.«

»Einfach so?« Raku zog skeptisch eine Augenbraue nach oben und entschied sich, seinen Namen vorerst für sich zu behalten. »Und dein Arm oder Auge haben nichts damit zu tun?«

Der Kerl schnaubte, lächelte jedoch melancholisch.

»Ist nachher gewesen. Halb so wild, passiert eben«, erwiderte er leichthin, griff sich jedoch an den verletzten Unterarm und rieb vorsichtig darüber.

Redselig , stellte Raku fest. Vielleicht kann er mir einen Hinweis geben.

»Gerade flüchte ich vor der Holo-Welt«, sagte Raku, in der Hoffnung, etwas Sympathie aufbauen zu können, damit er Antworten bekam. »Das ist mir manchmal alles zu viel.«

»Mhm«, brummte Lenn rau, nickte verständnisvoll und stopfte seine Hände in seine Hosentaschen. » Immer schön, stark und erfolgreich sein. Ziemlich viel Druck. Egal ob im Holonet oder in der Show des Augen-Chips.« Er musterte bedeutungsvoll Rakus Erscheinung. »Na dann: Willkommen in der ungeschönten, physischen Welt.« Lenn schmunzelte und breitete seine Arme einladend aus, was ihn kurz weniger schmuddelig wirken ließ, als er war. »Hier wirst du akzeptiert, wie du bist.«

Raku blinzelte ein paarmal, dann fing er schallend an zu lachen. »Ist das euer Werbeslogan?«, presste er zwischen zwei Atemzügen hervor. »Hier darf man sein, wie man ist? Scheiße! Das ist ja noch schlechter als der Kram, den die Regierung uns erzählt!«

Der Typ glotzte ihn nur verständnislos an. Allerdings suchte er auch nicht das Weite, sondern wartete, bis Raku sich wieder gefasst hatte.

»Menschen waren schon immer oberflächlich. Ob es das Gesicht, der Körper, die Kleidung, der Besitz oder der soziale Stand ist. Hier bei euch ist es nur …« Er ließ die Hand wie einen Propeller rotieren, während er nach dem richtigen Wort suchte.

»Rückständiger?«, schlug Lenn vor.

Raku wiegte den Kopf nachdenklich hin und her, bevor er nickte.

»Tja, also dann anders«, begann er erneut. »Ich nehme jeden, wie er ist. Ich finde Gefallen an jedem. Ob groß, klein, dick, dünn, Mann, Frau und alles dazwischen. Die Chemie muss einfach stimmen.«

Soll das etwa ein Flirt werden? , fragte sich Raku entnervt.

»Ahja. Und deswegen würdest du nie jemand mit attraktivem Äußeren vorziehen?« Raku rollte mit den Augen. »Ich hasse Heuchelei.«

Lenn zog seine Augenbrauen zusammen und wirkte plötzlich nicht mehr wie ein weinerlicher Köter, sondern wie ein sprungbereiter Wachhund.

»Jedes Holo ist eine Lüge«, entgegnete er und fixierte mit eindringlichem Blick Rakus Gesicht.

»Nicht, wenn man es mit Präsenz füllt«, hielt dieser dagegen. »Viele Menschen sehen nicht nach dem aus, was ihr Inneres zu bieten hat. Hologramme können das wahre Ich zeigen.«

So wie bei Noa , fügte er in Gedanken hinzu.

»Du willst behaupten, dass die Holo-Overlays real sind?« Lenn verschränkte erwartungsvoll die Arme vor der Brust.

»Hologramme geben den Menschen ein würdiges Leben.« Raku deutete auf die wackeligen Behausungen am Straßenrand. »Euch hält doch nur noch die Biologie aufrecht: Drogen und Instinkte.«

Lenn schaute den Straßenzug hinab und runzelte seine Stirn. Seine Kiefer mahlten. Rakus Worte schienen ihn zu beschäftigen.

Doch dem wurde das gerade alles zu viel.

»Ich sollte gehen. Hier gibt es nichts für mich«, stellte er fest und wandte sich ab.

»Warte!«, rief Lenn, rannte Raku hinterher und packte ihn am Handgelenk.

Das war für ihn so überraschend, dass er glatt vergaß, ihm seinen Arm zu entziehen. Stattdessen schaute er ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Hör mal … hast du vielleicht etwas Geld dabei?«, murmelte Lenn betreten.

»Ist das dein Ernst?« Raku schüttelte den Kopf und stieß fassungslos die Luft aus. »Ich habe nichts zu verschenken.«

Nun wollte er sich doch losreißen, aber der Griff des fremden Mannes wurde fester.

»Das musst du nicht«, erwiderte er nun mit fester Stimme. »Ich biete dir eine Gegenleistung an.«

»Lass mich los«, knurrte Raku, woraufhin sich die Finger lockerten. Er entzog Lenn seinen Arm und strich mehrfach über die Stelle, als würde er Dreck abstreifen. »Ohne Holos bist du nicht arbeitsfähig.«

»Niemand mit funktionierenden Abos, vor allem so hochwertigen wie deinen, kommt einfach so in dieses Drecksloch«, raunte Lenn. Sein Blick bekam etwas Stechendes und schien sich in Rakus Stirn zu bohren.

Ihm fuhr ein heißes Kribbeln durch die Adern und sein Herz beschleunigte sich. Würde dieser Kerl ihn jetzt niederschlagen und ausrauben? Vielleicht seine gesunden Organe auf dem Schwarzmarkt verscherbeln? Er spannte alle seine Muskeln an und versuchte grimmig dreinzuschauen.

»Ich gehe jetzt«, entschied Raku mit verräterisch schwankender Stimme.

»Du bist hier, weil du mehr als nur ein Holo willst, mehr als nur eine Simulation in einem künstlichen Anzug.« Die Worte des Mannes waren weich. Verständnisvoll. Wissend.

»Holos sind nicht real«, erwiderte Raku mit brüchiger Stimme.

»Hast du nicht eben noch etwas anderes behauptet?«

Worte wie Nadelstiche in Rakus Herzen.

Konnte Lenn das Gespräch absichtlich so gelenkt haben? Wusste er, was Raku suchte? Er schüttelte immer wieder mit seinem Kopf. Noa fühlte sich so real in seinem Herzen an, allerdings nur dort. Lenn legte ihm seine gesunde Hand auf die Brust und schob ihn in den Schatten eines großen Stahlrohrs. Seine Körperwärme wollte scheinbar Rakus Lunge versengen und er wagte es nicht zu atmen.

»Du kannst das Holo real werden lassen und alles damit machen«, flüsterte Lenn.

Raku leistete keine Gegenwehr, zu tief wühlten diese Worte in seinen tiefsten Sehnsüchten.

»… alles?«, wisperte er nur, während er nur noch kurze Atemstöße in seine Brust saugen konnte.

»Klar.« Lenn schnurrte das Wort beinahe. »Solange ich mich von den Wunden erholen kann, darfst du alles machen.«

Plötzlich fühlte sich Raku so, als hätte man ihm einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf geschüttet.

»Was … meinst du?«, keuchte er.

»Hart zutreten, die Haut aufschlitzen, würgen, bewusstlos schlagen«, zählte Lenn auf, die Lippen zeigten ein spitzbübisches Schmunzeln.

»Dein Arm … dein Auge …?«, stammelte Raku, während Gänsehaut seinen Rücken hinabfuhr, bei dem Gedanken, was ihm hier gerade angeboten wurde.

»Ich bin zu allem bereit, wenn du die ärztliche Behandlung zahlst«, sprach Lenn weiter. »Du kannst mir Finger abschneiden, meine Haut abziehen wie bei einer gekochten Tomate, mir die Zähne ausschlagen, damit dein Schwanz ungehindert …«

»NEIN!«, brüllte Raku, stieß ihn von sich und ballte die Hände zu Fäusten.

Vor seinem geistigen Auge sah er Noa, wie er blutend und verletzt unter ihm lag. Sein Herz wollte dabei in tausend Stücke zerspringen.

»Verpiss dich, du Drecksack!«, schrie er und schubste den Fremden erneut so fest er konnte gegen das Stahlrohr. »Ich will das alles nicht! Wieso sollte jemand so etwas tun wollen?!« Noas Lächeln drängte sich in seine Erinnerungen und die Wahrheit schnürte ihm beinahe die Kehle zu. »Ich will einfach nur Nähe! … Liebe«, krächzte er.

Lenn glotzte ihn verwirrt an, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann fuhr er sich betreten durch sein Gesicht und seine Augenbrauen verwandelten sich wieder in die eines verlassenen Hündchens.

»Das … okay. Das ist … etwas anderes als die gängige Praxis«, murmelte er, schaute kurz zur Seite und nickte dann. »Das geht natürlich auch.«

Raku erstarrte. »Was?«

»Du kannst auch einfach mit dem Holo kuscheln, ein schönes Date verbringen, gemeinsam essen und dieser ganze rosarote, romantische Kram. Das kostet aber nicht weniger!«, schob Lenn hastig hinterher und tippte mit dem Zeigefinger bedeutungsvoll auf seine ausgestreckte Handfläche.

Raku schürzte die Lippen.

»Also: Du sagst, du kannst ein Holo real werden lassen.«

Lenn bejahte.

»Du schauspielerst nicht. Das Holo handelt selbst?«

Erneut ein Nicken.

»Das hat aber irgendwas mit deinem Körper zu tun?«

»Ganz genau.«

»Und wenn ich gemütlich Essen gehe, dann ist das genauso teuer, wie wenn ich dir eine Hand absäge?«, fragte Raku frostig und schniefte betont.

»Ähm … ja?« Lenn grinste und zuckte mit den Schultern.

Wenig überzeugend , dachte Raku und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Hör mal, das ist echt nicht leicht … aber du musst ja nicht, wenn du nicht willst«, entgegnete Lenn.

Die Art wie er dabei Raku musterte und unsicher von einem Fuß auf den anderen trag zeigte jedoch klar, dass er diesen Job unbedingt haben wollte.

»Wenn ich jemanden date, dann rede ich mit der Person über mein Privatleben. Das ist etwas intimer, als jemanden zu fesseln und als Sextoy zu benutzen«, erklärte Raku ganz pragmatisch. »Da investiere ich schon grundsätzlich mehr.«

»Nein, nein!« Lenn hob beschwichtigend die Hände. »Beim Dive bin ich nicht wirklich da. Ich bekomme kaum mit, was du machst. Das überlagerte Persona denkt, handelt und fühlt, wie es das auch im Holonet tun würde. Ich spiele dir nichts vor.« Dann lachte er leise und schloss dabei kurz die Augen. »Bin auch ein verdammt beschissener Schauspieler.«

»Bist du.« Raku grinste und zwinkerte ihm zu.

Sein Interesse war geweckt. Das klang wirklich so, als wäre Noa derjenige, der handelt. Aber wie sollte das funktionieren?

»Also redet das Holo durch dich hindurch?«, hakte er nach.

»Nicht direkt. Dive überlagert meine Nerven- und Hirnaktivitäten mit den digitalen Impulsen der Persona. Ich rede gar nicht, das überlagerte Holo spricht. Mein Körper bewegt sich, wenn das Holo sich bewegt, weil es die Motorik über das Hirn ansteuert. Mein Körper wird dessen Körper«, erklärte er hölzern. »Also vereinfacht dargestellt.«

Erneut ein aufmunterndes Lächeln.

»Interessant. Aber …«, murmelte Raku.

»Jetzt komm schon.« Lenn rieb sich betreten den Nacken, bis seine Augen sich überrascht weiteten. »Ist's etwa eine Frau? Ich kann jedes Geschlecht verkörpern … hab ja auch eine Körperöffnung zwischen den Beinen, aber halt keine Brüste!« Er rieb sich mit verkniffenem Gesicht über seinen Brustkorb, dann kam ihm scheinbar eine Idee und erhob den Zeigefinger. »Kann mir was umschnallen! Das siehst du nicht bei einer Holoüberlagerung und fühlt sich recht echt an. Es gibt allerdings keinen Nervenimpuls, wenn du das berührst. Konzentrierst du dich eben auf anderes …«

Lenn kam sichtlich ins Schleudern. Er wollte ganz klar diesen Job nicht an einen Konkurrenten mit weiblichem Körper verlieren. Vermutlich war die Aussicht, nicht für einen irren Fetisch verdroschen oder verstümmelt zu werden, sehr verlockend. Immer weiter versuchte er, seine Vorzüge aufzuzählen, beginnend mit seiner Robustheit, falls Raku doch fester zulangen wollte, bis hin zu unmöglichen Schwangerschaften.

»Keine Sorge. Es handelt sich um ein männliches Holo«, erlöste Raku ihn grinsend. Lenn stieß erleichtert den Atem aus. »Aber warum ist dieses Dive illegal? Bodytalk ist doch auch kein Problem.«

»Sind wir im Geschäft?« Lenn ignorierte die Frage völlig und hielt Raku seine große, schwielige Hand hin.

Der starrte sie an und überlegte.

Konnte das wirklich funktionieren?

Würde Noa so etwas überhaupt wollen?

»Ich … muss ihn erst fragen«, sprach er, während der Funke der Hoffnung sein Herz bereits infizierte.