# 4

 

Noa schloss genießerisch die Augen. Nur langsam bewegte er seinen Kiefer und kostete den Sinneseindruck voll aus. Die Konsistenz kitzelte seinen Gaumen, die würzige Soße schien auf seiner Zunge regelrecht zu explodieren. Seine Lider flatterten, nachdem er den Bissen heruntergeschluckt hatte.

»Das ist nur ein einfacher Burger mit Käse und Salat.« Raku grinste breit und biss ebenfalls von seinem Essen ab.

Noa schüttelte einfach nur den Kopf, leckte sich über die Lippen und schaute den Berg tropfenden Fastfoods zwischen seinen Fingern mit glitzernden Augen an.

»Okay, ich sollte das nächste Mal wirklich gutes Essen besorgen«, meinte Raku, wischte sich mit der Faust etwas Soße aus dem Mundwinkel und gluckste zufrieden.

Beide saßen auf dem Sofa in Rakus Apartment. Noa hatte sich zurückgelehnt, beäugte den Burger aus allen erdenklichen Winkeln, schnupperte daran wie ein Hund und knurrte leise bei jedem Biss. Raku lehnte sich nach vorn, stützte die Ellbogen auf seine Knie und versuchte zu verhindern, dass die Soße auf das Möbelstück oder den Teppich tropfte.

Als er sich zum Schluss die Finger an einer Serviette sauberwischte und zu Noa schaute, lachte er beim Anblick dessen völlig vollgesauten Shirts laut auf. Sein Freund ließ sich davon aber nicht stören, sondern blickte mit halbgeschlossenen Lidern zur Decke und verschränkte die verklebten Hände auf seinem Bauch.

Rakus Lachen wandelte sich in ein sanftes Lächeln. Noa sah so zufrieden aus. Sein Brustkorb hob und senkte sich langsam und er schien jeden Atemzug zu genießen. Seine entspannten Gesichtszüge löschten alle Gedanken aus Rakus Hirn. Nur Wärme erfüllte seinen Körper und er griff mit seiner Hand nach Noas. Ganz automatisch verknoteten sich ihre Finger miteinander. Die matschige Burgersoße blendete er dabei völlig aus.

»Es ist so völlig anders«, murmelte Noa und seine blauen Augen richteten sich unter den dunklen Wimpern auf Raku. »Menschen haben keine Ahnung, was ihnen Tag für Tag geschenkt wird.«

Raku hob spöttisch die Augenbrauen und strich mit dem Daumen über Noas Finger. Er hätte nicht gedacht, dass es ihm einmal so leichtfallen würde, ihn so zu berühren – ihn überhaupt wirklich zu spüren.

»Das sind lediglich Notwendigkeiten«, entgegnete er und machte mit der anderen Hand eine wegwerfende Geste, die seine Wohnung mit einzuschließen schien. »Sie halten uns funktionsfähig«

»Es ist schade, dass Menschen das so sehen«, meinte Noa, woraufhin Raku mit den Schultern zuckte.

»Vielleicht ist es auch nur die Werbung, die uns erzählt, dass Glück mehr benötigt«, sinnierte er.

Er ließ sich ebenfalls zurückfallen, sodass er neben Noa lehnte und den Kopf zurücklegen konnte, um gemeinsam mit ihm die Decke der Wohnung zu betrachten.

Eine Zeitlang schwiegen sie. Ein leises Rascheln ertönte, als Rakus Finger sich umpositionierten und Noas Hand sich dem anpasste. Er würde Noa nicht loslassen, solange kein anderer Sinneseindruck ihn vereinnahmte. Dadurch hatte er ihn nur für sich.

Was für eine wunderbare Ausrede.

»Du hast das Abo hochgestuft«, durchbrach Noa die Stille mit leiser Stimme.

»Mhm.« Raku nickte und drehte ihm den Kopf zu. »Mehr Zeit mit dir, auch im Holonet.« Er lächelte.

Noa wandte ebenfalls seinen Kopf in seine Richtung und ließ Rakus Hand von seinem Bauch auf das Sofa gleiten. Er ließ sie nicht los.

»Du darfst nun mehrere Charaktereigenschaften von mir festlegen«, fuhr er mit unbewegtem Gesicht fort.

»Ich konnte die blinkenden Werbebanner kaum übersehen.« Raku schmunzelte und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Ich möchte, dass du selbst wählst.«

»Du willst, dass ich meine Parameter selbst festlege?« Noa wirkte ehrlich überrascht. Plötzlich waren seine Augen weit geöffnet und die blauen Iriden zogen sich zusammen, als würde er aus einem dunklen Raum in die Sonne treten.

»Wähl die aus, die deiner Meinung nach am ehesten deinem Charakter entsprechen … oder probier aus, was du schon immer gern sein wolltest. Hauptsache, du fühlst dich wie du selbst.« Raku räusperte sich kurz und schaute dann wieder zur Decke. Sein Griff um Noas Hand wurde eine Spur fester. »Es können auch … unbequeme sein, wenn sie dich ergänzen. Ich mag dich trotzdem.«

Ruckartig setzte sich Noa auf. Raku drehte seinen Kopf von ihm weg, aus Angst, er könnte all seine peinlich romantischen Gedanken lesen. Blickkontakt kam ihm im Dive so viel intimer vor als im Holonet – mehr noch als die Berührung von Noas Hand.

»Du … magst mich wirklich sehr«, stellte Noa mit hörbarem Lächeln in der Stimme fest.

Statt etwas zu erwidern, lief Rakus Gesicht einfach nur rot an. Obwohl er nicht das erste Mal verliebt war, kam er sich gerade wie ein Teenager vor. Wenn doch wenigstens sein Bauch aufhören würde zu kribbeln, als würde man ihm eine Gans durch den Darm blasen!

»Dann weiß ich, welche ich nehme.« Noa schien sich sehr sicher zu sein, seine Stimme verriet keinerlei Zögern.

»Welche denn?«, murmelte Raku vor sich hin.

»Gehört es nicht zu einem Date, das selbst herauszufinden?«, fragte Noa amüsiert.

Raku rieb sich mit der Hand über sein glühendes Gesicht und brummte nur vor sich hin. Als sich auf einmal Noas Hand aus seiner löste, wollte er erschrocken auffahren, doch sein Freund schwang das Bein in einer geschmeidigen Bewegung über seine, setzte sich auf seinen Schoß und griff mit Daumen und Zeigefinger unter sein Kinn. Rakus Augen wurden tellergroß, als Noas Lippen auf seine trafen. Immer wieder zogen sie sich wenige Millimeter zurück und legten sich erneut auf seinen Mund. Rakus Geist war völlig überrumpelt, aber sein Instinkt reagierte. Er öffnete seine Lippen und stieß sanft mit der Zungenspitze gegen Noas, die bereitwillig Einlass gewährten.

Als Noas große Hände seine Körperseiten nach oben strichen, wollte Raku schlicht dahinschmelzen. Er legte seine Arme um ihn und zog ihn an sich, sodass er spüren konnte, wie sich Noas Brustkorb mit jedem Atemzug hob und senkte. Sein Herz schlug genauso schnell wie seines und die Wärme seines Körpers ließ Rakus Bauchmuskeln zittern.

Er hatte Noa bereits mehrfach als Overlay von Lenn getroffen – im Dive . Seine Hand zu halten oder den Arm um seine Schulter zu spüren, als sie gemeinsam auf einer Bank saßen, war so wunderbar gewesen. Die Stunden flogen nur so dahin, obwohl sie manchmal einfach nur beieinander waren und sich unterhielten. Jedes Mal nahm Raku sich vor, Noa erneut zu küssen, doch die Zeit war bereits immer abgelaufen gewesen, bevor er all seinen Mut zusammenkratzten konnte. Ihn zu umarmen, war für ihn in unerreichbarer Ferne gewesen.

Noa durfte von sich aus niemals den ersten Schritt machen, seine Programmierung machte das unmöglich. Und doch tat er nun genau das.

»Ist … mutig und fordernd sein eine der Eigenschaften, die du gewählt hast?«, flüsterte Raku an Noas Lippen, als die beiden kurz Luft holten, ohne ihre Gesichter nennenswert voneinander zu entfernen.

Er spürte, wie sich dessen Mund zu einem Lächeln verzog. Dann neigte er seinen Kopf ein Stück mehr und küsste Raku so leidenschaftlich, dass sich dessen Finger in den Stoff von Noas Kleidung krallten. Daraufhin rutschte Noa mit der Hüfte so nah an seine heran, dass Raku deutlich spüren konnte, dass sie beide sich gerade verdammt gut fühlten.

»Ich …«, japste er, während er das Gefühl hatte, dass seine Lenden in Flammen standen.

Noa glitt mit der stoppeligen Wange über Rakus und küsste sein Ohr. Der heiße Atem wirbelte darin umher und schaltete mehrere Synapsen in dessen Hirn auf Systemausfall .

»Ich habe ein paar Filme darüber geschaut«, flüsterte er mit heiserer Stimme. »Aber dich so … fühlen … es ist so überwältigend. Ich würde gern … aber kann dich nicht führen.«

Das weckte ganz klar Rakus Instinkte.

»Musst du nicht«, raunte er.

Er wusste nun, dass Noa ihn genauso wollte, wie er ihn. Die fremden Männer hatten ihm gezeigt, was sich gut anfühlte. Nun wollte er seinen geliebten Freund alles erleben lassen, was ein menschlicher Körper an Glück zu bieten hatte.

Das funktionierte noch wesentlich besser, als Raku es sich in seinen kühnsten Träumen ausgemalt hatte. Davon zeugten der umgekippte Tisch, die quer durch die Wohnung verteilten Klamotten und die zwei Stimmen, deren Ekstase sich in sein Hirn brannte. Allerdings schafften die beiden es nicht aus dem Wohnzimmer hinaus, weil sie sich kaum für wenige Sekunden voneinander lösen konnten. Als ihre beiden Körper schließlich ineinander fanden, sang etwas in Rakus Inneren.

Seine Seele, die bei den anderen stumm und einsam geblieben war, weitete sich.

Danach lagen die beiden schwer atmend aufeinander, Noa erneut in der Position, in der sie begonnen hatten – allerdings mitten auf dem Teppich. Rakus Finger spielten in seinem Haar, die andere Hand streichelte seine Wirbelsäule entlang. Immer auf und ab. Noa vergrub das Gesicht an Rakus Hals und barg dessen Kopf in seinen Armen. Der Geruch der Haut berauschte beide gleichermaßen. Wohlige Erschöpfung ließ die beiden Männer immer wieder kurz in seichten Schlaf driften.

Nach einer Weile stemmte Noa sich auf seine Ellbogen, gab Raku einen Kuss auf die Nasenspitze und richtete sich verspielt grinsend auf. Ihre Lenden waren noch immer miteinander verbunden und endlich fühlte es sich für Raku völlig richtig an, obwohl der Höhepunkt vorüber war. Mit verklärtem Blick musterte er seinen Geliebten.

Noas sportlicher Körper war eine Augenweide. Jede Bewegung glich für Raku einem Zauberspruch. Die silbernen Ringe um Arme, Beine und Brustkorb störten ihn nicht mehr. Sie gehörten zu Noa. Raku konnte sich nicht entsinnen, ob er beim Erstellen seines Aussehens die Möglichkeit gehabt hätte, sein Geschlechtsorgan zu gestalten. Ob das Standartparameter waren oder Noa sie mit der Abo-Erweiterung selbst gewählt hatte, war ihm gleich. Das dort unten war die Frucht, die es irgendwann noch zu erobern galt – vielleicht so, wie Noa heute seine beansprucht hatte.

»Ich glaube, auf meiner Platine sind ein paar Schaltkreise durchgebrannt«, meinte Noa, als er in sich physisch spüren konnte, in welche Richtung Rakus Gedanken bereits wieder abschweiften.

»Und bei mir sind einige Synapsen geschmolzen.« Raku lachte leise und aus tiefster Brust. »Fühlte sich zumindest so an.«

»Aber ich sollte nun langsam gehen«, sagte Noa, strich sich das wirre Haar zurück und wirkte sichtlich unzufrieden mit der Idee.

»Wir haben noch ein paar Minuten«, erwiderte Raku und stützte seinen Oberkörper mit den Ellbogen nach oben. »Ich möchte jede Sekunde mit dir gemeinsam genießen.«

Noas Blick wanderte neugierig über das Spiel von Rakus Muskeln. Dennoch schüttelte er langsam den Kopf.

»Ich sollte wirklich gehen«, wiederholte er und stemmte sich nach oben.

Ihre Verbindung löste sich und Rakus Augenbrauen zogen sich melancholisch zusammen, als die Kühle zwischen den Beinen deutlich machte, dass Noa ihn für heute verließ.

»Du gehst immer vor dem eigentlichen Ende unserer Zeit«, sagte er und setzte sich auf. »Ich verstehe das schon … es lässt das Ganze authentischer wirken. Aber ich möchte diesmal alles – jeden Augenblick. Bitte.« Sein Blick versuchte, Noas einzufangen.

Der schaute jedoch betreten zur Seite und rieb sich unsicher über den Oberarm. Das Spiel seiner Schulter- und Armmuskeln hüllte Rakus Geist sofort wieder in rosarote Wolkenschwaden und er schluckte schwer, als könnte er so den Impuls niederringen.

»Das ist wirklich wichtig. Wegen Lenn«, sprach Noa und seufzte laut.

»Was soll denn mit ihm sein?« Raku runzelte die Stirn. »Das ist doch egal.«

Noa strafte ihn für diese Aussage mit einem traurigen Blick und Raku bereute seine Worte sofort. Er rang sich zu einem Lächeln durch und nickte schwerfällig.

»Tut mir leid. Dann lass mich dich noch zur Tür bringen«, meinte er, rappelte sich hoch und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Noa schnappte sich sein verdrecktes Shirt und zog es hastig über den Kopf. Doch als ihm Raku die Hose reichte, begann er plötzlich heftig zu zittern. Ruckartig beugte sich sein Oberkörper nach hinten, als hätte man ihm einen Dolch in den Rücken gerammt, nur um danach vornübergebeugt vorwärtszutorkeln. Noa ächzte schmerzerfüllt. Raku eilte zu ihm.

»Was ist los? Noa!«, rief er erschrocken.

Plötzlich schmolzen seine Gesichtszüge wie Buttercreme in der Sonne. Seine helle Haut wurde dunkler und die silbernen Ringe verblassten. In einem heftigen Kraftausbruch stieß er Raku beiseite. Der fiel rücklings auf den Boden und starrte mit großen Augen auf seinen Freund. Noas markerschütternder Schrei wandelte sich in das Gebrüll einer wesentlich tieferen Stimme. Schließlich fiel er auf die Knie und sackte mit dem Oberkörper gegen die Wand. Keuchend rang Lenn nach Atem, während seine Gliedmaßen zuckten, als würden Stromstöße durch sie hindurchfließen.

Raku presste die Lippen zusammen, sprang auf und holte ein Glas Wasser aus der Küche. Er kniete sich neben Lenn, hielt ihm das Getränk an die Lippen und streichelte, ohne nachzudenken, seine Schulter. Lenn schluckte gierig die kühle Flüssigkeit. Als Raku das Glas absetzte und dessen Gesicht besorgt musterte, fixierten ihn ein grünes und ein graues Auge.

»Und?«, krächzte er erschöpft. »Bist du zufrieden mit mir?«

Raku blinzelte verwirrt.

»Ich bekomme grob mit, was ihr beiden so treibt.« Sein Lächeln erreichte nicht seine Augen. Er atmete ein paar Mal durch, bevor er fortfuhr. »Schließlich spüre ich wie Noa sich fühlt – zumindest ein bisschen.«

»Du … weißt, was Noa fühlt?« Raku war überrascht, weil er dachte, dass Lenn damit erst nur die physischen Empfindungen gemeint hatte. »Sag es mir. Bitte. Was fühlt Noa, wenn er mit mir … zusammen ist?«

Lenn runzelte die Stirn und verzog die Lippen. Die Narbe um sein Auge warf kleine Fältchen. Sein Hundeausdruck wurde grimmig.

»Das wäre ziemlich unfair, oder?«, knurrte er. »Würde er es wollen, dass ein Fremder das ausplaudert? Wolltest du das nicht selbst herausfinden mit deinen Dates ?« Er spuckte das letzte Wort geradezu aus.

»Zumindest weiß ich sicher, was ich fühle«, erwiderte Raku, ließ von Lenn ab und trat einen Schritt zurück. »Ich will Noa ganz für mich. Gib mir mehr Zeit. Wie ist dein Preis?«

Lenn stemmte sich an der Wand nach oben, den versehrten Arm konnte er dank des Exoskeletts zum Glück zum Stabilisieren nutzen. Sein brennender Blick schien Raku direkt ins Fegefeuer stürzen zu wollen. Als er halbwegs sicher stand, schien sich jeder Muskel in seinem Körper anzuspannen, damit er nicht erneut zusammenbrach. Lenns Körper war Noas Statur sehr ähnlich, das machte das Gefühl wesentlich authentischer. Seine Haare hatte er auf Noas Länge gekürzt. Zerwühlt von Rakus Leidenschaft, standen sie wirr in alle Richtungen ab. Allerdings war Lenns Haut nicht so perfekt ebenmäßig und die Silhouette rauer. Die Sehnen traten durch die Anspannung an seinen Armen hervor.

»Du willst dein persönliches Spielzeug«, stellte er kalt fest.

»Ich liebe ihn«, erwiderte Raku scharf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Natürlich will ich mehr Zeit.«

»Ach?« Lenn grinste süffisant. »Die romantischen Treffen hast du schnell hinter dir gelassen. Mehr Zeit für Spaß, mhm?«

Dann griff er mit einer Hand nach hinten zu seinem Hintern, zog sie wieder nach vorn und präsentierte eine zähe, weiße Flüssigkeit zwischen seinen Fingern als wäre es ein Schmuckstück.

»Du hast keinen Gedanken an meine Gesundheit verschwendet – oder deine. Wozu auch save? Wolltest dein Holo so heiß wie möglich vernaschen. Eben wie alle anderen Kunden. Zum Glück halte ich die Ware gesund«, erklärte Lenn abgebrüht, während er seine Hand zur Nase führte und daran schnüffelte wie ein Hund am Hinterteil eines Artgenossen. »Ihn wie ein Spielzeug zu benutzen war ziemlich geil, oder? Liebe und Nähe. So so.« Er schnaubte und schmierte Rakus Samen achtlos an seinem Shirt ab – gleich neben den Burgersoßenflecken. »Da hast du wohl Blut – oder besser: Schwanz – geleckt.«

Raku sah rot. Jedes Wort war wie Säure auf seiner Haut. Er ging in die Knie, ballte die Hände zu Fäusten und atmete schwer.

»Hör auf!«, schrie er wütend. »Rede nicht so!«

Lenn degradierte seine Nähe zu Noa zu etwas Schmutzigem. Natürlich war er naiv gewesen, weil er, ohne nachzudenken, gehandelt hatte, aber das machte ihn seiner Meinung nach nicht automatisch zu einem rücksichtslosen Bastard. Noa hatte sich auf seine Führung verlassen und wusste genau, worauf er sich eingelassen hatte. Aber war einer KI der Körper möglicherweise total egal? Er hätte schließlich jederzeit widersprechen können. Oder wollte Noa ihn einfach nur gemäß seiner Programmierung glücklich machen und hatte seine eigenen Wünsche für ihr Zusammensein hintenangestellt?

Diese Gedanken schnitten tief in Rakus Herz.

Tränen brannten in seinen Augen. Also stürmte er wie von einer Wespe gestochen durch seine Wohnung, schnappte sich Lenns dreckige Kleidung, die nicht mehr wie Noas aussahen, und warf sie ihm grob ins Gesicht.

»Verschwinde«, zischte Raku leise. Er wollte Lenn am liebsten seine Faust in das Gesicht rammen, aber ein Teil von ihm hatte Angst, ihn als Avatar für Noa zu verlieren. »Wag es nie wieder, unser Zusammensein so in den Dreck zu ziehen.«

Lenn zog sich stillschweigend an und wandte sich zur Tür. Letztendlich war er nicht verletzt worden. Das hier war ein einfacher Job. Was war da schon ein verklebter Arsch? Kurz bevor er sie erreicht hatte, hielt er jedoch inne.

»Nähe?«, sprach er leise, ohne sich umzudrehen. »Du hast nur zwei Nutten. Die eine zahlst du im Abonnement, die andere auf Abruf. Und eine von beiden ist nicht mal echt.«

Dann verließ er die Wohnung.

Raku starrte auf die geschlossene Tür.

Noa ist echt! Ich fühle das! Seine Gedanken rasten und der Puls wollte seinen Schädel sprengen. Nur er ist in dieser Welt wirklich real. Ich brauche sonst nichts in meinem Leben!

Mit einer wütenden Bewegung riss er seinen Arm nach oben und öffnete so das Holo-Menü. Mit einem Schlag, als würde er jemanden eine Ohrfeige geben, strich er in die Wohnungsdekorationssektion. Er rammte seine Faust auf Abschalten .

Das großzügige Loft mit seinen hohen Fenstern zerfloss in eine regenbogenfarbene Suppe.

Dann stand Raku in einem einzelnen Raum, drei mal drei Meter groß und gerade so hoch, dass er die Arme nach oben ausstrecken konnte. Außer dem Gatter der Belüftungsanlage sowie der Nische zu einem winzigen Bad, riss nur eine winzige Luke ein Loch in die Wand und gab den Blick auf eine gegenüberliegende, dunkle Hausfassade frei. Die Wände des Raumes zeigten kahlen Beton und der Boden war bedeckt mit fleckigem, teils durchgetretenem Stoff. Ein Plastiktisch, ein aufgerissenes Sofa, ein dreckiger Herd und ein Metallschrank waren alles, was es zu sehen gab, wenn man den verschwitzten Sensoranzug in der Ecke nicht mitzählte.

Noch immer völlig nackt stand Raku in seiner holo-leeren Wohnung und starrte auf deren ungeschöntes Sein.

Doch sein Körper war noch immer so ideal wie bisher – sportlich, gepflegt, seidig schwarzes Haar sowie ein attraktives Gesicht mit einem asiatischen Zug um die himmelblauen Augen – und hatte unten vielleicht ein klitzekleines bisschen mehr zu bieten, als die Natur es eigentlich geplant hatte.

 

 

Nur schemenhaft zeichneten sich die alten Verschläge vor der Fabrik ab. Der Mond hatte sich hinter dichten Rauchschwaden verborgen, sodass Lenn kaum die Hand vor Augen sehen konnte. In der Innenstadt hatte er einen schillernden Sternenhimmel über den Wolkenkratzern bewundern können. Obwohl der natürlich nur ein riesiges Hologramm war, hatte der Anblick ihn nachdenklich gestimmt.

Während er vorsichtig durch die Finsternis tapste, versuchte er mit seinen Augen die Dunkelheit zu durchdringen und die Gesichter der Passanten zu erkennen. Manche hatten kleine Lampen dabei, doch das Gegenlicht blendete ihn lediglich, sodass ihre Gestalten nur schwarze Umrisse blieben.

Vermutlich hatte die Stromgesellschaft erneut ihre geheime Leitung gefunden und durchtrennt. Es würde Tage dauern, bis die Bewohner des Wagenplatzes eine neue Möglichkeit gefunden hatten, Strom zu stehlen. Ohne Energie würden die Leute frieren und hungern. Das interessierte allerdings weder Unternehmen noch Regierung – wobei das eigentlich eh ein und dasselbe war.

Normalerweise war Lenn froh, wenn man ihn ignorierte, vor allem nach einem Dive . Doch heute fühlte er sich irgendwie … verloren. Das Einerlei aus Grau und Schwarz, die Abwesenheit von Lichtern und das Fehlen von Stimmen machten ihm zu schaffen. Dabei hatte so etwas doch gar keine Bedeutung.

Weil das alles für die Welt keinerlei Bedeutung hatte.

Fernab des schönen Scheines war alles zur absoluten Bedeutungslosigkeit degradiert worden. Wer nichts für diese Gesellschaft zu leisten vermochte, der hatte von ihr auch nichts zu erwarten. Eine einfache Gesetzmäßigkeit, die schleichend mit der Krise gekommen war und jegliche Empathie in die hintersten Ecken verstaubter Moral gedrängt hatte.

Als Lenn in Gedanken versunken mit dem Fuß gegen etwas Schweres stieß, fluchte er hingebungsvoll und trat noch einmal fest dagegen.

»Autsch, verdammte Scheiße!«, rief er, als Schmerz seine Zehen durchzuckte, trat jedoch noch ein drittes Mal zu.

Schmerz hatte bisher zu seinem Alltag dazugehört.

Doch in Rakus Welt schien es keinen zu geben. Dieser Job war ein Spaziergang, denn der liebeskranke Trottel behandelte seinen Holo wie einen Prinzen. Obwohl sich Lenn im Dive wie in einer Art Halbschlaf befand und kaum etwas wahrnahm, konnte er jedoch spüren, wie es Noa erging. Lenn fand es etwas seltsam, dass eine KI sich ... gut fühlen konnte. Normalerweise begegneten diese Abo-Holos den Berührungen von Menschen mit Gleichgültigkeit. Schließlich waren es nur Programme, eine clevere Aneinanderreihung von 1en und 0en.

Oder lag es an etwas ganz anderem?

»Vielleicht daran, dass sie von uns normalerweise als Spielzeug benutzt und gegebenenfalls umgeschrieben werden«, murmelte Lenn, blieb stehen und legte sich eine Hand vor seine Augen. »Eben schlichtweg gefickt«, schob er leise hinterher. »Im übertragenden wie auch realem Sinne.«

Ein lautes Seufzen entwich seiner Kehle.

Warum hatte er zu Raku diese hässlichen Dinge gesagt? Seine Argumente waren zwar grundsätzlich nicht falsch, aber es konnte ihm doch egal sein, wenn der verknallte Typ sein Holo mit Herzchen in den Augen ins Bett zerrte. Das Programm von Noa mochte das sogar irgendwie, das fühlte Lenn in seinen Eingeweiden. Dessen Körper war schon auf vielfältige Art und Weise benutzt worden, also warum gefährdete er diesen guten Job mit diesem moralischen Scheiß?

Lenn hasste es, wenn sich Leute etwas vormachten. Hologramme waren die Essenz von Lüge. Trotzdem hielt er normalerweise seine große Klappe. Raku hatte ihm Wasser gebracht und ihm beigestanden, als er nach dem Abziehen der Persona erschöpft zusammengebrochen war. Und weshalb?

»Die Ware darf nicht kaputt gehen«, knurrte Lenn in der Dunkelheit.

War es das? War das der Grund für seinen Ausbruch? Dummer Stolz, dass Raku nur seinen Körper wollte? Das hatte ihn doch sonst nie gestört.

Lenn war nicht nur gegenüber anderen ein verdammt mieser Schauspieler – auch sich selbst vermochte er kaum zu täuschen. Einer der Gründe, weswegen er vor langer Zeit aus dem Kokon der »Normalität« hinausgeworfen worden war. Deswegen bohrte er unerbittlich weiter in sich selbst, auch wenn es ihn zerfleischen sollte. Schon nach wenigen Gedankengängen, die sich um Rakus Handhabe mit Noa drehten, zeigte ihm ein ätzendes Stechen in seiner Brust deutlich, was sein Problem war.

Irgendetwas tat höllisch weh.

Mehr als die gewohnten Schläge.

Raku und Noa brauchten Lenn, um beieinander zu sein.

Nein – nur seinen Körper.

Seine Hand rutschte von seinen Augen zu seinem Mund. Sein Atem strömte zwischen den Fingern hindurch und wärmte seine Lippen. Er erinnerte sich an Noas Gefühl, als Raku ihn geküsst hatte. Das bloße Empfinden, wenn er von ihm angelächelt wurde, war wie eine Kerze in tiefster Dunkelheit gewesen.

Lenn wusste genau, dass nichts davon ihm galt – weder das gute Essen noch die interessanten Gespräche, erst recht nicht die Berührungen.

Normalerweise war es gut zu wissen, dass man nicht wirklich das Ziel der Avancen eines Kunden war – selbst wenn man es wie er mochte, wenn es ordentlich rau zuging. Doch diesmal nagte diese Ignoranz an ihm, fraß sich unerbittlich durch seine Eingeweide und hinterließ ein Brennen, das seltsamerweise mehr schmerzte, als wie ein Stück minderwertige Scheiße zusammengeschlagen zu werden.

Lenn würde Raku so gerne hassen!

Der schien jedoch ein guter Kerl zu sein. Noa fühlte sich bei ihm sehr wohl und einige der Erinnerungsblitze, die Lenns düsteres Grübeln erhellten, zeigten, dass er recht sympathisch war und sich um seinen Freund wirklich bemühte. Lenn war der Beobachter eines guten Lebens und einer erblühenden, romantischen Beziehung.

»Nein«, raunte er und ballte die Hand vor seinem Mund zur Faust. »Wäre ich doch nur das.«

Lenn war leider nicht nur der Gaffer einer Serie oder Leser eines Liebesromans. Er fühlte zwar nicht alles, aber manche Regungen hatten ihn so neugierig gemacht, dass er im Dämmerzustand genauer den Empfindungen gelauscht hatte. Der hingebungsvolle Sex zwischen Raku und Noa hatte ihn dann geradezu berauscht. Das war mehr als eine Befriedigung der Instinkte gewesen – so schrecklich wunderbar, dass Lenn sich wünschte, dass er einmal so berührt werden würde.

Lenn wollte auch gesehen werden.

Sein Herz wurde schwer wie Blei, schien abzusacken und alle seine Eingeweide mit hinabzureißen.

Er schloss kurz die Lider, als ein Schaudern seinen gesamten Körper erfasste. Als sie sich wieder öffneten, schwammen seine Augen in Schmerz.

»Ich schätze, ich sollte mir etwas harten Stoff besorgen«, presste er gequält hervor.