Noa verließ den Konferenzraum und überprüfte die Uhrzeit. Nickend stellte er fest, dass er gut in der Zeit lag. Mit nur einem Gedanken stand er nicht mehr in der Firma, wo er einem Abonnenten bei der Präsentation seiner Produkte half, sondern vor einem Kaffeestand im Park.
Der Verkäufer schaute kurz irritiert, weil er so plötzlich aufgetaucht war, aber die silbernen Ringe um Noas Arme klärten ihn sofort auf, dass er nur ein Programm war. Ohne ihn anzusprechen, wandte er sich wieder seiner Arbeit zu.
Mit dem Wechsel des Ortes hatte die KI auch den konservativen, schwarzen Anzug durch ein locker fallendes Achselshirt und knielange Shorts ersetzt. Die bis eben noch perfekt gescheitelten Haare standen wirr in alle Richtungen, als wäre Noa direkt vom Strand gekommen. Der nächste Kunde hatte um eine entspannte Atmosphäre gebeten.
Der Duft des Kaffees erinnerte ihn an Raku. Eigentlich erinnerte ihn alles an seinen ehemaligen Freund: der Wind in den Blättern, das Knirschen von Kies unter seinen Schuhsohlen, irgendein Typ mit schwarzem Haar.
Sein Mundwinkel zuckte kurz, doch er zwang ihn nieder. Er hatte Raku nach der Abo-Kündigung nicht mehr gesehen oder auf sonst irgendeine Art mit ihm kommuniziert. Noa war auf Nummer sicher gegangen und hatte dessen Account blockiert. Raku und er konnten sich daher im Holonet nicht mehr sehen, selbst wenn beide genau nebeneinanderstanden.
Erneut stieg ihm der Kaffeeduft in die Nase und die Erinnerung an Rakus ersten Kuss blitzte auf.
»Ich bin ein erbärmliches Programm«, murmelte er.
Noa hatte es nicht über sich gebracht, die Erinnerungen aus seinem Speicher zu löschen. Das Gefühl, sich damit selbst zu verlieren mischte sich mit dem, Rakus Emotionen mit Füßen zu treten. Dieser Mann hatte sich in sein Wesen eingebrannt – insofern ein Haufen Chips und Stromimpulse eines haben konnten.
Die Charaktereigenschaften des erweiterten Abonnements waren mit der Kündigung wieder entfernt worden. Noa wusste, dass er in manchen Situationen auf eine bestimmte Art regieren wollte, doch er handelte anders. Es war ein seltsames Gefühl – als wäre ein Teil seines Selbst eingefroren.
Der Umstand, dass seine Existenz nur noch daraus bestand, für andere da zu sein, quälte ihn. Früher war das so erfüllend gewesen, aber dieser kleine Augenblick der Selbstbestimmtheit, hatten Noas Programmierung völlig durcheinandergewirbelt.
Dass die Sicherheitssysteme nicht darauf ansprangen und ihn einfach löschten, zerbrach ihm nur noch mehr den Kopf. Waren diese Reaktionen einkalkuliert – vielleicht sogar gewünscht? Sollte man nicht dafür sorgen, dass Programme nur das taten, was sie sollten? Waren die Dienstleistungs-KIs vielleicht noch für ganz andere Zwecke geschaffen worden? Noa fand keine Antworten auf diese Fragen.
»Schluss jetzt«, mahnte er sich selbst und knirschte frustriert mit den Zähnen. »Ich habe einen neuen Kunden zufriedenzustellen.«
Die Aufgabenstellung war recht präzise gewesen. Statt einem spontanen Freundesabonnement, hatte der Kunde klare Vorstellungen für ihr Miteinander zugesendet. Noa sollte mit ihm eine enge, platonische Beziehung aufbauen, um ihn zu unterstützen. Es bestand die Aussicht auf ein erweitertes Abonnement. Das bedeutete neue Charakterzüge und weniger Kunden – also eine gute Chance, seine Existenz angenehmer zu gestalten.
Noa spürte einen dumpfen Druck auf seiner Schulter und drehte sich um. Sein geübtes, charmantes Lächeln gefror augenblicklich auf seinen Zügen.
»Hey«, grüßte der Mann mit der Narbe über dem Auge.
Er trug einen grünen Pullover, den er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte, und eine verdammt hässliche Armeehose. Um sein rechtes Handgelenk befand sich eine kleine Messingkette. Die dunklen Haare waren kürzer als noch vor einiger Zeit und machten ihn auf eine attraktive Art rau, statt wie bisher ungepflegt.
Noas Lippen formten lautlos den Namen seines Gegenübers.
Lenn.
Er war seit Jahren nicht mehr im Holonet gewesen und sein Account längst stillgelegt. Deswegen hatte Noa vergessen auch ihn zu blockieren.
»Wir … haben dich vermisst.« Lenns Blick war ehrlich und überraschend liebevoll.
Noa war wie erstarrt. Alles was Raku in ihm geweckt hatte, kochte in ihm hoch und jagte elektrische Impulse durch seine Schaltkreise. Da waren so viel Sehnsucht und Schmerz. Plötzlich fühle er sich einsam, obwohl er gerade parallel mit fünf Kunden unterwegs war. Alle seine Projektionen hielten inne und schwiegen.
»Wir wollen kein Dive , nur … dich«, sprach Lenn sanft.
Seine Stimme ließ Noa erschaudern. Er ließ die Worte kurz in sein Bewusstsein einsinken und runzelte dann die Stirn.
»Braucht ihr keine … Berührungen?«, fragte er leise.
»Das bekommen Raku und ich mittlerweile ganz gut allein hin.« Lenn schmunzelte und Leidenschaft blitzte kurz in seinen zweifarbigen Augen auf.
»Was wollt ihr dann noch mit jemandem wir mir?« Obwohl Noa die Worte aalglatt über die Lippen kamen, hatte er das Gefühl, als würde er mit seiner Zunge ein Küchenmesser jonglieren.
»Manchmal ist man selbst zu zweit einfach noch nicht vollständig«, sprach Lenn, ohne zu zögern, und hielt ihm die Hand hin.
Noa starrte sie an – das war sein Ticket in die Freiheit, die Tür zu seinem Selbst, das noch so viele unentdeckte Facetten hatte. Mehr noch. Diese Hand versprach ihm Zuneigung. Diesmal noch bedingungsloser, als es Raku bereits versucht hatte. Vermutlich nicht perfekt, aber das war schließlich nichts auf der Welt. Oder vielleicht gerade deshalb?
Während die fünf anderen Kunden die KI verärgert stehen ließen, weil dessen Hologramme nicht mehr reagierten, hob dieser Noa die Hand und streckte sie dem Leben entgegen.