Station im Alpha Centauri System
»Erster September im Jahre des Herrn 1392 – Stirling Castle Schottland/Lowlands«, murmelte Rex vor sich hin. Er liebte dieses Buch. Irgendetwas zog ihn magisch in die Bibliothek. Als Literaturwissenschaftler und Historiker las er für sein Leben gern Geschichten aus der Vergangenheit.
Sein Lieblingsbuch »The Ruler of Stirling Castle« war uralt und noch auf Papier gedruckt. Rex hatte es so oft durchgeblättert, dass die Seiten durchscheinend geworden waren. Die Ränder wellten sich und wirkten abgegriffen. Seiten schienen herausgerissen worden zu sein und das Exemplar war notdürftig geklebt.
Das Buch war eine der letzten gedruckten Papierausgaben vergangener Jahrhunderte, die im Zeitalter voller Digitalisierung noch in den Regalen der alten Bibliothek standen. Wenige Prints hatten die Zeit überdauert.
Das Wissen und die Bilder selbst hatten sehr wohl überlebt, waren eingelesen und in Dateiformaten für jedermann verfügbar. Der ureigene Geruch von Papier jedoch blieb unerreicht. Er legte sich wie eine sanfte Decke um die Schultern von Rex, wann immer er den bunten Lichtern und der Menge an ständig verfügbaren Informationen hier auf X Beta 251074 entfliehen wollte.
Genüsslich ließ er sich in den riesigen Ohrensessel sinken. Dieser war ein Nachbau alter Sitzmöbel längst vergessener Zeiten auf der Erde und an Bequemlichkeit unübertroffen.
Rex blätterte zu der Stelle im Buch, die er immer als Einstieg wählte. Der Wortlaut und der Schreibstil sprachen ihn in einer Ebene an, fluteten seine Gedanken, wärmten ihn auf eine Weise, der er nichts entgegensetzen konnte.
Er versank tief in den Worten des Geschichtenerzählers der Burg Stirling …
»Wir brauchen Hilfe, schnell, holt Wasser«, brüllte Avery von Stirling und lief entlang der südlichen Festungsmauern.
Überall loderten Flammen. Aus der Küche schlugen sie meterhoch und züngelten an den Fahnen hinauf. Sie krochen über die Wandbehänge und Gemälde der adligen Burgherren vergangener Jahrhunderte, an den Burgmauern hinan und fraßen sich weiter über die Holzläden, die vor den Fenstern der Burg hingen. Rauchschwaden, grau und schwer, zogen über das Land. Asche schwebte in der Luft, legte sich über die Mauern – eine schmierige Schicht des Todes. Schwarz und endgültig. Es roch nach verbranntem Holz, nach verkohltem Fleisch, und die Schreie der Menschen, die den Flammen nicht entkommen konnten, hallten über die Burg.
Stirling wird fallen.
Das Feuer zischte und knackte, ein Feuersturm zog den Burghof hinauf und fraß alles, was ihm im Weg stand.
Avery flehte zu Gott dem Herrn, er möge ihm einen Ausweg zeigen, möge eine Sintflut schicken, fähig, die Flammen zu stoppen. Doch alle Hoffnung schien vergebens. Er hustete und vernahm immer neue Schreie. Burgfrauen flohen in den Innenhof, ihre Kleider angesengt oder brennend, ihre Haut voller Blasen. Menschenleben, dem Tode geweiht. Schmerzen, die unendlich sein mussten, ließen sie zusammensinken, sich klein machen und in eine Stellung gehen, die man nur von Babys kannte. Schmerz und Feuer, die jene Haufen von Menschen und Kleidern bildeten, die Avery sah und ihm den Mageninhalt nach oben trieben.
Voller Entsetzen zog er Eimer um Eimer voll Wasser aus dem südlichen Brunnen. Avery rannte, half den Untertanen, die noch Leben in sich trugen, wieder auf die Füße und übergoss sie mit Wasser. Der schwere Rauch zog in die Lungen und verhinderte das freie Atmen. Ein Tuch vor dem Mund, nass wie er selbst, verhinderte, dass er zu Boden sank. Husten schüttelte ihn, doch er kämpfte um jeden Mann, jede Frau und jedes Kind. Er bellte noch letzte Befehle. Ob noch jemand lebte, der ihn hören konnte, wusste er nicht.
Rex wischte sich über die Stirn. Allein vom Lesen schwitzte er, schmeckte den Rauch und das Leid auf der Zunge, als wäre er in diesem Moment auf der Burg.
Gierig trank er das Wasser, das er sich mitgebracht hatte. Er wusste, dass ihn diese Stelle mitnehmen und tief berühren würde. Hunderte Male hatte er mitgefühlt, hunderte Male den unmittelbaren Kampf auf dem Burghof durchlebt. Er schien bei jedem Lesen an dieser Stelle zu verdursten und hatte vorgesorgt. Die Geschichte Averys zog ihn so tief in den Bann, als steckte mehr dahinter als eine Story über einen Earl des Mittelalters. Ein warmes Zugehörigkeitsgefühl durchzog seine Adern, als würde er die Gegend, die Burg und diesen Avery kennen.
Vierundzwanzig Sommer durfte dieser Avery, sein Hauptheld, leben. Wie viele er davon genießen konnte, wagte Rex nicht zu zählen. Seit Jahren versuchten andere Earls, Avery vom Thron zu stoßen, ihn zu vergiften, zu erschlagen oder ihm auf jede erdenkliche Weise nach dem Leben zu trachten. Beim Lesen war Rex oft versucht, Avery zu warnen, ihn zu beschützen. Er fieberte mit, durchdachte Handlungen und zog Schlüsse, was man hätte verhindern können. Doch es war und blieb nur eine aufwühlende Geschichte. Zwischen der Lebenszeit Averys und seiner lagen zwei Millennien.
Vielleicht wünschte sich Rex, er wäre Avery?
Sein Leben schien voller Abenteuer.
Rex stockte. Averys Dasein war abenteuerlich, aufregend und nicht so eingestaubt wie seines, aber es war auch voller Leid, Entbehrungen und Gefahr. Seine Brüder starben früh oder fielen feigen Anschlägen zum Opfer. Averys älterer Bruder Cedric, zweiter Sohn des Earl of Douglas, wurde bei der Jagd erschossen. Ein Narr, wer an Zufall denkt, denn der Pfeil steckte mittig in seinem Nacken. Robert, erster Sohn des Earl, verschwand schon mit sechs Jahren unter mysteriösen Umständen, die niemand nachvollziehen wollte. Er wurde im Thronsaal der Burg das letzte Mal gesehen. Aus dem Schloss entführt, verschwand der zarte Junge und niemandem gelang es, ihn seiner Mutter zurückzubringen.
Rex überkam erneut das Bedürfnis, nach diesem verschwundenen Bruder zu suchen. Die Geschichte zog ihn seit Jahren in die Bibliothek, er las jeden Zeitbericht, jeden Schnipsel Papier aus dieser Epoche, doch ohne Erfolg. Er fand keine neuen Hinweise in den Papieren und Dateien.
Seufzend, warm in eine Decke gekuschelt, las er weiter.
All der Fleiß, seine Freundlichkeit gegenüber seinem Volk, seine Gutherzigkeit verloren in diesem Augenblick an Bedeutung. Gier trieb die anderen Earls an, reine Machtgier und der Hunger nach neuem fruchtbaren Land.
Bis auf den letzten Mann hatten sie die Stellung verteidigt.
»Werft die brennenden Scheite herab! Entzündet das Pech! Versucht die Feinde in Schach zu halten!«, brüllte Avery über die Burgmauern.
Als die Späher die Eroberer wahrnahmen, standen sie nur einen halben Tagesritt vor Stirling. Zu nah, um zu reagieren.
»Schützt, was noch zu retten ist! Bringt euch in Sicherheit!«
Avery schleuderte Befehle. Es galt, so viele Menschen wie möglich von der Burg weg in die umliegenden Wälder zu schaffen.
»Selbst wenn es der sofort ausgesandte Bote durch die Wälder geschafft hat«, keuchte Avery, »sie kommen zu spät, wir sind verloren. Zu spät.«
Ein Keuchen und ein Schluchzen brachen sich Bahn. Stirling war dem Untergang geweiht, genauso wie Avery dem Tode geweiht war. Avery wusste es. Hier und jetzt wurde sein Ende besiegelt, im Eingang des Burghofes im Schloss seiner Vorväter Stirling Castle. Er sank zu Boden und rollte sich zusammen.
»Gott, wie traurig«, murmelte Rex und kuschelte sich in seine Decke im Sessel zusammen.
Die Stimme seines besten Freundes Hannes schreckte ihn auf.
Hannes wusste, wo er Rex finden konnte und wann immer die Forschung an medizinischen Neuerungen ins Stocken geriet oder die Gedanken davonflogen und die Konzentration mitnahmen, war es Zeit für einen Tee mit Rex. Er erdete ihn, wie es niemand sonst konnte. Hannes war Mediziner und arbeitete in der mikrobiologischen Forschung der Station X Beta 251074. Er stürmte in die Bibliothek und sah Rex wieder auf seinem Sessel sitzen. Natürlich saß er da. Es war nach 17 Uhr Erdenzeit, wo sollte sein Freund sonst sein.
Hier auf Station Berta, wie man den kegelförmigen Klotz am Rande der Galaxie auf dem Hochplateau des Steinklumpens irgendwo im Nirgendwo nannte, waren nicht mal Fuchs und Hase, die sich gute Nacht sagen konnten. Forschen und lehren waren die Aufgaben der Station. Der Kegel bestand nur aus Quartieren, Laboren und medizinischen Einrichtungen, der Reiseplattform und der Bibliothek. Die Büchersammlung, gleichsam einem gemütlichen Raum aus dem 19. Jahrhundert auf der Erde nachempfunden, nahm eine gesamte Etage inmitten des Kegels ein. Kreisrund, mit Außenfenstern, mildem Licht und einer behaglichen Wärme.
Hannes trat hinter den Sessel und legte Rex seine Hand von hinten auf die Schulter. Er blickte in das Buch, was dieser in der Hand hielt.
»Wieder der alte Schinken«, stöhnte er.
»Wer schreibt denn sowas, das ist ja gruselig. Solch Märchen hält der stärkste Mann nicht aus. Die Geschichtenerzähler waren damals schon sehr abgebrüht, den Tod und die Qualen der Menschen in so schillernden Farben darzustellen. Sag mal, gefällt dir sowas?«, fragte Hannes und blinzelte über die aufgeschlagene Seite, die mit einer brennenden Burg illustriert war.
Rex’ Blick ging hinüber zu seinem besten Freund und er grinste. Hannes stellte aber auch jedes Mal die gleiche Frage.
»Wenn du Avery retten könntest, würdest du eingreifen? Würdest du Feuer und Flammen trotzen?« Hannes sah Rex mit großen leuchtenden Augen an und wählte absichtlich diesen mittelalterlichen Slang. Er war immer auf der Suche nach einem Abenteuer, auch wenn er es nur erzählt bekam. Damit hatte Rex nicht gerechnet.
»Wir wissen nicht genau, ob diese Geschichte einen wahren Kern hat. So grausam konnte es dort nicht gewesen sein, oder? Der Autor hat bestimmt maßlos übertrieben. Es war zwar unter Tatsachen des schottischen Mittelalters einsortiert, aber vielfach kann das jemand durchaus aus der fantastischen Abteilung weggetragen haben.«
Rex war sehr skeptisch. Er liebte das Buch, aber ein Tatsachenbericht war das nicht. Dafür waren die Ausführungen doch zu ausgeschmückt.
Hannes kratzte sein kleines blondes Kinnbärtchen und schnalzte mit der Zunge, wie er es immer tat, wenn er etwas ausheckte. Rex wusste das und überlegte kurz.
»Hm, wer weiß. Klingt schaurig, aber es war das Jahr des Herrn 1392 – das steht hier. Diese Gottesgläubigkeit ist der Wahnsinn«, gluckste er. »Hannes, du weißt, es gab weder Strom noch eine ordentliche Feuerabwehranlage mit Sprinklern und Rauchabzügen. Eigentlich gab es überhaupt keine Technik, außer primitiven Baugeräten unter Nutzung der Hebelgesetze.« Rex wiegte den Kopf hin und her und begann zu grinsen.
»Obwohl mich der Gedanke durchaus reizt, nachzusehen, was wirklich in Stirling los und wer Avery war. Ich meine, mich zu erinnern, dass die Herren solch komische Röcke und dazu nur Kniestrümpfe trugen. Allein dieser Anblick interessiert mich, das muss ich zugeben. Wie hießen die doch gleich?«, fragte Hannes und sah Rex belustigt an.
Seine Augen strahlten voller Schalk.
»Aber nun denk mal, wir reisen zurück. Abgesehen davon, dass wir geschockt wären, wie würde Avery reagieren? Da machts Plopp und vor ihm, halb verbrannt, stehen wir in diesen …« Rex machte eine Kunstpause, bevor er den roten Faden wieder aufnahm. »Sieh uns doch an. Diese Anzüge sind aus Seide. Diese wiederum ist nicht aus der Seidenraupe gezupft , wie es zu Averys Zeiten in seltenen Fällen am Adelshof üblich war.« Rex sah Hannes an, als wäre er ein von seinem Studenten enttäuschter Professor.
»Dafür tragen wir keine albernen Karoröcke«, giggelte Hannes und sagte im Brustton der Überzeugung, »allerdings müssten wir uns anpassen, solche lustigen Karostoffe könnte man sicher auftreiben. Wie hießen diese, mir widerstrebt das Wort Beinkleider?« Er konnte sich kaum beruhigen. Allein die Vorstellung, Rex im Rock zu sehen, war so lustig.
»Würde Avery nicht erschrecken? Wir in Kilts, so hieß diese Art der Bekleidung übrigens«, führte Rex eloquent und in seiner besten Klugscheißermanier aus, »wären bestimmt ein besonderer Anblick. Gerade weil ich so groß bin. Wenn …«, er machte ein nachdenkliches Gesicht, »wenn es diesen Avery überhaupt gegeben hat. Vielleicht war er ein alter verhutzelter Mann. Hier steht zwar was von vierundzwanzig Jahren, aber Geschichtenerzähler, na du weißt, die schmücken gern einiges aus.«
Rex lachte, aber das Lachen erreichte seine Augen nicht, irgendetwas zog ihn ins Mittelalter, ein unerklärlicher unsichtbarer Sog.
»Außerdem ist Avery dort vermutlich gestorben, denn es fehlen weitere Aufzeichnungen zu ihm. Er ist mit seinen Untertanen verbrannt, da bin ich sicher. Ein Kapitän verlässt nie sein Schiff. Aber nehmen wir mal an, er hätte überlebt. Wie ginge seine Geschichte weiter, ich konnte nichts dazu finden«, sinnierte Rex. »Diese Phase des Mittelalters soll sehr finster gewesen sein. Mehr als einmal habe ich mich in den Vorlesungen erschrocken. Die Burgen waren zugig, kalt und dunkel. Krankheiten übelster Art grassierten. Aber eine Feldforschung in dieser Epoche der schottischen Geschichte hätte schon einen Hauch von Abenteuer. Und für Abenteuer bin ich immer zu haben. Vielleicht kümmern wir uns erstmal um angemessene Kleidung. Wahrscheinlich ist das schon aufregend genug. Ein Kilt muss doch aufzutreiben sein.«
Rex machte sich gleich an die Recherche, nicht ohne nochmal auf das Buch auf dem Tisch vor sich zu schielen. »Wenn wir uns auf die Reise begeben sollten - ich glaube für uns zwei, Hinreise und wichtig, die Rückreise, plus Ausrüstung, Impfungen gegen die damaligen Seuchen und zumindest eine minimale Ausbildung in der Etikette bei Hofe im 14. Jahrhundert sollten so etwa 15000 Credits reichen. Machbar, was denkst du? Stürzen wir uns in das Experiment?«
Hannes blickte Rex an, als hätte dieser nicht alle Tassen im Schrank und schien plötzlich unglaublich aufgeregt.
»Du meinst, um Feuer und Flammen in Echtzeit zu sehen? Dabei zu sein? Oh ja, das wäre ein absolut geniales Abenteuer. Ich bin auf jeden Fall dabei.« Hannes sprühte regelrecht vor Tatendrang.
Rex sah Hannes mit Skepsis in den Augen an. »Aber was, wenn wir ihn finden und er noch lebt, was machen wir dann? Ich habe Fragen an ihn, Hannes, und ich will das Mittelalter erforschen.«
Hannes rechnete und überlegte.
»Nehmen wir an, wir buchen zwei Wochen, da könnte man die Geschichte der Clankriege life erleben und vielleicht auch mit anderen Clananführern ins Gespräch kommen. Und mal angenommen, Stirling Castle brennt vollkommen nieder, was dann?«, fragte er mit Blick auf Rex.
»Man könnte um eine Audienz beim König in Edinburgh ersuchen. Ganz ehrlich, Avery von Stirling ist ein interessanter Kerl und in den Geschichtsaufzeichnungen als sehr heroisch beschrieben, aber das allein ist kein Grund für eine Reise. Es zieht mich sehr dorthin, das ist keine Frage, aber dann will ich auch Edinburgh und den Herzogensitz Dunfermline sehen. Was würdest du sehen wollen von Schottland und dem Mittelalter? Ich habe darüber viel gelesen, aber dein Zeitalter ist das eher nicht, wenn ich mich recht erinnere.« Rex grinste Hannes spitzbübisch an.
Er wusste, dass Hannes sich mit Geschichte und dem Lesen von Büchern, die nicht der Medizin der Neuzeit gewidmet waren, schwertat.
Hannes versank in Gedanken und schmatzte dabei vor sich hin, als würde er darüber nachsinnen, ob es überhaupt genug zu essen auf der Burg gab. Dann schauderte er und zuckte zusammen.
»Ha, so cool, war da nicht die Beulenpest unterwegs? Das stelle ich mir grundlegend widerlich vor, aber medizinisch betrachtet, ist dieses alte Stäbchenbakterium yersinia pestis ein spannendes Forschungsobjekt, zumal in seiner natürlichen Umgebung und nicht in einer Nährbodenschale.«
Hannes war innerlich ganz flattrig, wenn er auf medizinische Fragen stieß, die es zu beobachten und erforschen galt. Er liebte die Feldforschung, zumindest so weit, wie es um Krankheiten ging, die jetzt mit einer Tablette oder Injektion heilbar waren.
Rex schüttelte den Kopf. Pest gab es seit Jahrtausenden nicht mehr. Aber er verstand Hannes' Aufregung. Medizin war dessen Steckenpferd, genau wie Geschichte und Literatur Rex interessierten.
»Nein, ich glaube die Pest war erst im 16. Jahrhundert, das war später«, antwortete er und Hannes glaubte ihm. »Aber wollen wir zwei Wochen in der Kälte hocken und uns den Arsch abfrieren, mal abgesehen von den Gefahren, die von Waffen und wilden Tieren ausgehen? Bitte denk auch an den komischen Naturfraß aus Tierkadavern und Sauerteigbrot.«
Hannes sprang auf, als hätte ihn ein Floh gebissen.
»Und REEEEX«, quiekte er laut auf, »die hatten keine Entsorgungslogistik. Rex, die haben über die Burgmauern im freien Fall geschissen, auf hölzernen Donnerbalken. Echt.« Er holte tief Luft und setzte zu einer neuen Tirade an. »’N paar Stunden geht das, aber spätestens nach der ersten Mahlzeit mit Fleisch, ehrlich, ich habe keinen Bock auf solch primitive Resteentsorgung. Ganz zu schweigen von meiner Reaktion auf das Kraut. Erinnere dich an den Ausflug an den Hof Ludwig des XIV. vor zwei Sonnenzeiten. Bah, igitt, das will ich nicht noch primitiver haben.«
Hannes sah Rex an, dass es ihn ebenfalls vor Ekel schüttelte. Die Vorstellung war aber auch zu widerlich. Immerhin gab es hier auf der Station und auf der Erde seit fast zwei Jahrtausenden Absauganlagen mit Filtersystemen und Reinigungsbecken, die den Schlick gleich chemisch umwandelten in eine Art Nährboden für Schattenseidenrosen.
»Nur mal angenommen, lies mal hier …« Hannes tippte auf eine Stelle im Buch.
»Ich mein, die fackeln die Bude ab. Angenommen wir verletzen uns. Die Heiler, oder Quacksalber, waren damals eher – igitt, du verstehst? Ich meine, die haben auf Ausschläge jedweder Art gepinkelt, haben irgendwelchen Schlamm auf Wunden geschmiert und statt sich mal die dreckigen Finger zu waschen … Seife kannten sie und haben sie nicht benutzt. Die haben mit Ratten zusammengehaust und kamen nicht auf die Idee, dass Flohbisse Krankheiten übertragen könnten.« Hannes räusperte sich und murmelte erneut was von Cholera, Pest und Masern vor sich hin.
Nein, so gern Rex nach dem vermutlich imaginären Avery forschen und so gern er das Mittelalter sehen wollte, ihm war gar nicht wohl bei der Sache.
»Andererseits kööööönnte es aber auch sein«, Rex zog das Ö bewusst mächtig in die Länge, »dass Avery ein wunderbarer, eloquenter Gesellschafter und die Feldforschung unglaublich spannend sind. Vielleicht war das Leben auf der Burg bequemer als wir denken und die Medizin gar nicht so rückständig.«
Er sah Hannes um Zustimmung heischend an.
Dieser blinzelte abenteuerlustig.
»Kööööönnte so sein«, echote er. »Also, los, lass uns das Abenteuer genießen. Ich guck gleich mal im Interplan.«
So schnell konnte Rex gar nicht gucken, da entstand das Reiseportal als Holoprojektion direkt in der Bibliothek vor seiner Nase.
Dieses Interplanetarische Onlinenetzsystem war Fluch und Segen zugleich.
Eigentlich musste man das Haus niemals mehr verlassen. In den vertikalen Städten, die nunmehr auf kleinstem Raum wie Spargelstangen in den Himmel ragten, gab es alles, was das Herz begehrte. Aber weil man dadurch das Haus kaum noch verließ, wurde es so langweilig, dass sich die Bürger des Alpha Centauri Systems im Andromedanebel und erst recht auf der staubtrockenen Erde schnell mit der Tourismusindustrie beschäftigten. Findige Forscher hatten es vor mehr als 1100 Jahren geschafft, zuerst ein Schaf namens Dotty II in die Vergangenheit zu schicken. Als dieses dann mit einer Nachricht, dreckig und stinkend, aber gesund und munter wieder zurückkam, reisten die Forscher selbst.
Rex und Hannes waren viel in der Weltzeit unterwegs, jedoch mieden sie das dunkle Mittelalter und beschäftigten sich liebend gern mit den alten Griechen. Zeitreisen waren der Renner und Unternehmen schossen wie Pilze aus der Nährlösung.
Diese Griechenlandreisen waren sehr unterhaltsam. Durch das zufällige »Fallenlassen« eines Wortes oder Satzes waren die Antiker herrlich aus der Ruhe bringen. Noch lustiger waren Urlaubszeiten mit den Philosophen. Ein geäußerter Gedanke und diese Jungs waren monatelang beschäftigt und kamen zu den abstrusesten Entschlüssen und Erleuchtungen.
Falls nun einer auf die Idee käme, das würde die Vergangenheit ändern und die Zeitachse verdrehen, der irrt. Das Paradoxon der Zeit ging von der Annahme aus, dass die kleinste Änderung in der Vergangenheit eine unglaubliche Konsequenz in der Zukunft hätte. Es gibt aber auch jene Theorien, dass ohne Zeitreisen und Änderungen auf der Zeitachse, eine Entwicklung der Menschheit nicht oder nicht so schnell stattgefunden hätte. Um niemanden zu überfordern oder zu gefährden, führte man die Reiseregel ein, dass nichts in oder aus der Zeit mitgenommen werden durfte.
Hannes überlegte. »Was wir wissen, reicht aus, um Ort und Zeit genau zu definieren. Sagen wir 1. September 1392 Stirling Castle, südlicher Burghof um, hm was meinst Du? Sieben Uhr Ortszeit?« Er blickte zu Rex, der nickte.
»Sieben Uhr scheint gut zu sein. Ich glaube nicht, dass es so früh Angriffe gegeben hat, und da wären wir in Nullkommanichts …« Er führte es nicht weiter aus, sondern überließ es Hannes, den Gedanken zu Ende zu führen.
Hannes war schon so aufgeregt, dass Rex es kaum wagte, noch an dem Plan zu rütteln.
»Wichtig ist«, merkte er noch an, »dass wir die Security Edition buchen, um einen gesicherten, gecheckten Standort zu haben, an dem wir den Überblick behalten. Ich muss nicht unbedingt im Geschehen sein. Ich will Da Vinci nicht den Stift oder Pinsel mopsen, will nicht mit Platon um die Wette rennen, während er abstruse Gedanken ausbrütet und auch keinem Earl unter den Kilt gucken. Ich will mal sehen, was in Stirling los war und ob wir ohne viel Federlesen in diesem einen Realitätsstrang Avery ein bisschen kennenlernen können. Dann nehmen wir den Rückflug.«
Die Vorbereitungen schritten voran, die Securityedition war gebucht, Urlaub war eingereicht. Drei Wochen wurden genehmigt. Das Bündel zur Reise konnte geschnürt werden.
»Ich habe ein wenig Antibiotikum eingepackt, gegen die Erkrankungen, die viele Menschen das Leben kosteten, obgleich diese Krankheiten mit lediglich einer Kapsel oder Tablette heute heilbar sind«, philosophierte Hannes. »Man weiß nie, vielleicht kann ich den großen Heiler spielen und Abrakadabra ein bisschen herumzaubern. Das könnte Spaß machen.«
»Wir sollten nicht so viel in der Vergangenheit rumwühlen, die Menschen sind noch nicht bereit. Du weißt, dass sie Ketzer und Hexen auf den Scheiterhaufen verbrannten?« Rex stöhnte auf, als Hannes das ausführte.
»Außerdem, der Geschichte um Avery angemessen, packe ich besser noch ein wenig Kunsthaut ein«, sagte Hannes.
Er meinte diese kleine Rolle, die, auf Brandwunden aufgelegt, dafür sorgte, dass sich diese binnen Minuten verschlossen und schmerzfrei abheilten.