III

 

Weiß wie Schnee sah seine Umgebung aus, als er stöhnend die Augen öffnete. Erst ein Auge, ganz langsam, dann das andere. Die Helligkeit nahm ihn sofort gefangen, schmerzte in seinem Blick und in seinem Kopf, und zog wie ein kalter Pfeil durch seine Adern. Der Schmerz war so unerträglich, dass er beide Augen sofort wieder schloss und ein Würgen und anschließendes Keuchen ihm den Atem raubte.

Wo bin ich?

Dieser Gedanke beherrschte in diesem Moment sein ganzes Sein. Fragen zogen durch sein Hirn, das sich anfühlte, als wäre es zermust worden. Vorsichtig versuchte er, einzelne Worte zu artikulieren, aber außer einem Stöhnen kam nichts aus seinem Mund. Mit viel Fantasie könnte man ein WO erahnen, das fiel selbst ihm auf, jedoch schienen ihm weder sein Mund noch seine Stimme zu gehorchen.

Was zum Henker war passiert?

Vorsichtig öffnete er erneut ein Auge, sachte, blinzelnd, als würde er erwarten, dass ihm wieder jemand einen Dolch in den Schädel bohren würde, wenn er feststellte, dass er wach war. Helligkeit blendete ihn erneut und schnell machte er auch das eine Auge wieder zu.

Das war nicht die Sonne! Welches Licht leuchtete so hell? Eine Fackel war das nicht.

In seinem Hirn schien sich alles zu drehen, und dieses vermaledeite Piepsen, was er hörte, machte ihn verrückt. Ein unangenehmes Stöhnen durchzog den Raum. Wer zum Henker machte dort so einen Krach? Das war grausam und ziepte an seinem Kopf, sofern davon noch was übrig war.

Vorsichtig bewegte er seine Daumen hin und her und stellte fest, dass er auf etwas Hartem lag. Alles um ihn roch eigenartig frisch, irgendwie sauber.

Was zum pelzigen Arsch eines Bären ist mit mir passiert?

Oh, dieses Piepsen …

In diesem Moment erschrak er, weil er eine Berührung wahrnahm. Eine Berührung, die nicht in dieses Weiß passte, die keinesfalls Sinn ergab – irgendwie liebevoll. Er war der Earl von Douglas. Niemand war zu ihm liebevoll, jedenfalls nicht, ohne dafür bezahlt zu werden. Selbst die Mätressen waren immer unterkühlt, zumindest so lange, bis er sie unberührt wieder fortschickte. Er hatte nie Interesse an ihnen.

Zart strich in diesem Moment ein Finger über seine Wange. Ein Flüstern drang an sein Ohr, aber er nahm den Sinn der Worte nicht auf. Diese Stimme … warm, ruhig, irgendwie bekannt und doch fremd.

Wer bin ich, wo und …

In diesem Moment musste er wohl den Faden verloren haben und wieder in Morpheus Arme gerutscht sein.

Als er das nächste Mal ein Auge riskierte, war es dunkel und er sah nur blinkende blaue Lichter, flackernd wie die Glühwürmchen im Sommer, flackernd im Takt des elendig nervigen Piepsens.

Wo sind die Steinwände?

Avery lauschte angespannt. In welchem Raum der Burg war er hier, es gab nie einen weißen Raum. War er gefangen? Haben Heiler überlebt? Es fühlte sich so an, als wären seine Wunden verbunden worden.

Warum lebe ich noch? Oder bin ich im Himmel?

»Alchemist?«, stöhnte er seinen Verdacht heraus.

Schritte näherten sich und ein Stuhl scharrte offenbar über den Fußboden. Zumindest klang das Geräusch so, als würde jemand mit einer Säge Holz zersägen. Scheußlich!

»Orr …lei …sche«, schaffte er noch, zu nuscheln.

Dann schien ihn die Dunkelheit wieder zu umfangen.

Später, aber wie viel später konnte er nicht sagen, als der Earl das nächste Mal einen Blick riskierte, war die Umgebung eher farbenfroh, bunt und es hingen Bilder diverser Blumen an den Wänden. An Wänden von gelber Farbe, keine grauen Steinwände, keine Granite, keine Teppiche davor. Sowas hatte er noch nie gesehen und vermutlich konnte das jeder erkennen, der ihn starren sah.

»Die Blumen vor mir erkenne ich«, zischte Avery. »Bei den Bauern vor den Burgtoren wuchsen die bei zunehmendem Frühjahrsmond, zumindest sehen diese auf den Gemälden«, er stockte, drehte den Kopf zu den anderen Tulpenbildern, »so aus wie die der Blumenhändler auf dem Markt. Aber alles rundherum wirkt so fremd und der Geruch ist … es riecht sauber. Beängstigend.«

Er schrak zusammen, er hatte das laut gesagt. Verdammt er hatte keine Angst, er stellte sich allen Gefahren. Zumindest hatte ihm das sein Vater so eingebläut.

Das Piepsen wurde schneller, lauter.

Vorsichtig drehte er seinen Kopf herum und es knackte, als wäre alles festgerostet.

Um Gottes willen, was ist denn bloß passiert?

Wieder spürte Avery eine Berührung an seiner Wange und wandte vorsichtig den Kopf nach links. Es knackte erneut, als würden sämtliche Knochen in seinem Nacken irgendwo einrasten und sich festzurren. Ein Schmerz fuhr von oben nach unten, holla, nicht von schlechten Eltern. Das zu vernehmende Stöhnen war furchtbar.

Himmel, was haben die mit mir gemacht? Und irgendwo piepst es immer noch so fürchterlich. So ein Geräusch habe ich noch nie vernommen und es macht mir Angst.

»Machsch Lärm ausch«, versuchte er rauszuquetschen, als die warme Hand erneut seine Wange streichelt.

»Es wird gleich leiser, Earl«, säuselte die Stimme aus dem Hintergrund.

Earl, wer ist denn Earl, ist das mein Name und wenn nicht, wie ist der dann? Oh Mann, mein Geist ist wie Brei, er wurde zermatscht, in Wasser aufgelöst und bildet nun einen unverdaulichen Klumpen in meinem Kopf. Jedenfalls fühlt sich das so an.

»Earl? Woran erinnert Ihr Euch?«, flüsterte die Stimme neben mir.

Erinnern, ich? Finsterste Nacht herrscht, wo mal Erinnerungen waren. Da ist nichts mehr.

»Nischts«, nuschelte Avery, »wer isch Earl?«

Irgendwie verwaschen klang er, als hätte ihm jemand auch noch die Zähne gezogen. Unglaublich.

»Earl, weil wir Euch, mein Herr, nicht erschrecken wollen. Euer Name, erinnert Ihr Euch an den Namen?«

Er riskierte mit dem rechten Auge einen erneuten Blick Richtung Tulpe. Sicher war sicher.

Vorsichtig sah er sich weiter um und erkannte auf dem Stuhl neben seiner Lagerstatt ein kleines Gesicht, aus dem blaue, fast himmelfarbene Augen hervorsahen. Ein gepflegter, blonder Kinnbart zierte das jungenhafte Kinn. Der Mann wirkte verwundert.

»Was«, Avery räusperte sich und dieser Herr reichte ihm einen Becher voll Apfelsaft, »was ist denn nur passiert. Mein Kopf …«, stöhnte er haltlos auf.

Der fremde Mann sprang auf und drehte irgendwas, was an seinem Fuß herumhing. Es sah es aus, wie ein Sack, aus dem etwas heraustropfte. Avery war zu schwach und durcheinander, um Einspruch zu erheben oder sich zur Wehr zu setzen. Er begann zu zittern und dieser Mann deckte ihn sogleich zu, mit einem Laken, einer Decke, die weich war und so unglaublich sauber roch.

Na egal, jedenfalls wird das Matschmus in meinem Kopf ein klein wenig besser. Der Mann scheint ebenfalls friedlich zu sein, dachte er.

»Dann werde ich Euch berichten, was ich weiß, da Ihr offenbar keine Erinnerungen habt, auf die Ihr zugreifen könnt«, sagte dieser schmale Mann und sah ihn dabei so durchdringend an, als müsste sofort alles Wissen der Gelehrten auf ihn einstürmen.

»Also passt auf Eure Lordschaft. Euer Name ist Avery, Earl von Stirling. Ihr wurdet anno 1368 auf Schloss Stirling Castle in den schottischen Lowlands als dritter Sohn des Earl Alastair of Douglas geboren. Wir schreiben das Jahr 3359 nach Christus. Und wir befinden uns auf Basis 439 im Zentrum des Andromedanebels in der Intensivmedizinischen Fakultät der Universität 422 des Andromeda – Archipels. Klar soweit?«

Und ich dachte, irgendwer hätte mich verhauen. Er ist verrückt oder hat diese Krankheit, diese …

Dieser Mann, blond und jungenhaft, grinste verunsichert unter seinem Bart hervor. Herr im Himmel, solch einen Unsinn hatte Avery ja noch nie gehört.

»Andromedanebel«, keuchte Avery auf, »wer seid Ihr und geht es Euch gut? Das klingt nach Geistesverwirrung.« Ein klein wenig Wut machte sich wie brennendes Pech in seinem Bauch breit.

»Nun mal langsam, Euer Lordschaft«, sagte der Fremde und sah irgendwie mehr unglücklich als gefährlich aus.

»Wo bin ich und wie komme ich hierher?«

Avery sah bei seinen Fragen so verstört aus, dass es Hannes tief ins Herz schnitt. Er konnte ihn seit der Unterredung mit der Leitung des Sicherheits- und Desinfektionsdienstes nicht mehr aus den Augen lassen. Rex war oft bei ihm und auch Hannes zog etwas wie ein unsichtbares Gummiband immer wieder an das Krankenbett des Earls.

Blaue Augen sahen hilflos in seine. Die Brauen des Earls waren bis zur Nasenwurzel hin zusammengezogen und die Lippen bildeten einen weißen Strich, so fest presste Avery sie aufeinander.

»Das mit dem Andromedanebel klingt wirklich sonderbar«, flüsterte er und fühlte sich schon wieder reichlich erschöpft.

Sein Gegenüber räusperte sich, schien sich zu zieren, sah sich im Raum um und wich seinem Blick aus, als er zu flüstern begann: »Rex hat Euch hierhergebracht.«

»Wer seid Ihr?«, fragte Avery Hannes in diesem Moment.

»Also wie ich schon sagte, Euer Name ist Avery von Stirling. Mein Name ist Hannes und ich bin Euer, wie sagte man so treffend, Leibarzt. Der andere Mann, den Eure Lordschaft vielleicht schon wahrgenommen hat, ist mein bester Freund Rex, der Mann, der Euch der Feuersbrunst entreißen konnte.«

Avery nickte, er hatte das verstanden. Doch wie kam er hierher und wo genau ist dieses hier?

Wieder strich die Hand des Mannes über seine Stirn und obwohl Avery ein leichtes Unwohlsein verspürte, konnte er nicht von Angst sagen. Wenn dieser Hannes ihm hätte etwas antun wollen, er hätte es längst getan. Feinde der Burg zögerten nicht, sie töteten schnell und effektiv. Er blickte sich um und immer wieder in diese himmelblauen Augen, die ihm so fremd waren.

Erneut formulierten seine Lippen die Frage, nach dem Wo und vor allem nach dem Wann.

Hannes rieb sich immer wieder die Hände und räusperte sich mehr als nötig. Avery kannte diese Signale. Entweder plante er einen Verrat oder wollte etwas vor ihm verbergen.

»Rede!«, herrschte er den jungen Mann an, der an seinem, vermutlich war diese Lagerstatt ein Bett, saß und so aussah, als würde in einen sauren unreifen Apfel gebissen haben.

In diesem Moment betrat ein großer bärtiger Mann das Zimmer. Avery hielt den Atem an. War das Verstärkung und würden sie ihn jetzt umbringen?

Der eben Eingetretene sagte leise: »Mein Name ist Rex, ich saß bereits an Euren Bett Earl. Entspannt Euch, ich werde Euch nichts tun.«

Er nahm auf der anderen Bettseite Platz, sah zu Hannes und fragte ihn, wie es dem Patienten ging. Hannes erwiderte mit einem Daumen hoch Zeichen. Rex setzte sich gerade hin, drückte den Rücken durch und sah zu, dass beide Füße festen Bodenkontakt hatten. Keinesfalls wollte er unsicher wirken.

»Ihr seid, wie Hannes bereits sagte Avery, Earl von Stirling und ich kenne Euch aus einem Buch.« Diese Worte erschienen selbst Rex dumm. »Ich wollte Euch so dringend kennenlernen, da ich schon so viel über Euch gelesen hatte, dass wir ein Timetravel in das Castle of Stirling buchten. Uns wurde versichert, dass die Reise ungefährlich sei. Dennoch landeten wir direkt am Tag des großen Feuers auf dem Südrasen der Burg, also bei Euch zu Hause.«

Avery blickte ihn aus so riesig aufgerissenen Augen an, dass allein sein Blick klarmachte, dass er kein Wort glaubte. Dieser Rex war auch ein Geschichtenerzähler. Sehr verwunderlich. Um sich nicht in Gefahr zu bringen, beschloss er jedoch, das Spiel mitzuspielen und herauszufinden, welcher Earl eines verfeindeten Clans hier seinen Schabernack mit ihm trieb.

Rex sprach weiter: »Lediglich ein leises Atemgeräusch gabt Ihr noch von Euch, sonst nichts. Kunststück, war ja auch nichts mehr heil an Euch. Ihr lagt mehr tot als lebendig vor dem Burgtor in Richtung Osten, doch sowohl Gitter als auch Holzverschläge waren verschlossen worden, bevor man die Bewohner der Burg Stirling mit Brandpfeilen beschoss. Versteht Ihr Avery, Ihr solltet tot sein.«

Rex Stimme brach, als er die Schrecken noch mal vor seinem inneren Auge nachvollzog. Avery sah ihn so entsetzt an, dass er sich genötigt fühlte, ihm die Hand beruhigend auf die Schulter zu legen.

»Sagt mir, …«, Avery räuspere sich und wurde das Gefühl nicht los, irgendwas gründlich verpasst zu haben. »Wo … Jahr 3300 und was? Warum? Ich bin …« und er hielt dabei seine Hand vorsichtig nach oben, zumindest versuchte er es. »Ich bin 24 Jahre alt!«, sagte er leise und seine Lider begannen zu flattern.

Er glitt hinüber in den Schlaf.

»Schlaft Euch gesund, wir reden später«, waren die letzten Worte, die er vernahm, bevor er erneut in die Schwärze sank.

 

 

Als Avery das nächste Mal erwachte, piepste nichts mehr um ihn herum. Er schien allein zu sein.

»Was ist das für eine Lagerstatt«, platzte er heraus.

Aus der Ecke hinter seinem Kopf kam ein Lachen, das ihn verwirrte.

»Das, edler Herr, ist ein Bett und in Selbigem fristen Sie ihre Zeit bereits mehrere Sonnenzeiten des Hauptsterns, also nach Ihrem Zeitempfinden ungefähr 4 Tage.«

»Vier Tage? Ihr seid Hannes! Ihr sagtet, wir wären in einem Nebel im Jahr 3300. Den Rest habe ich vergessen.«

Dieser Hannes trug einen weißen Anzug, der sonderbar aussah und Avery in tiefe Verwirrung zog. Zudem hatte er einen metallischen Ring um den Hals, an dem rote Punkte aufleuchteten. Hannes hatte ein sonderbares Gerät in der Hand. Er schwenkte es sanft über dem Kopf des Earls hin und her.

»Was zum Henker ist das und warum wedeln Sie mir damit über dem Kopf herum?«, brach sich der Unmut des Earls Bahn.

Er grinste, räusperte sich und begann nunmehr erneut zu reden. »Das Gerät, werter Earl of Stirling, nennt man einen Kommunikationstranslator. Wir haben Ihnen einen hier um den Hals gelegt, das Halsband hilft Ihnen, uns zu verstehen. Ein Translator macht eine Verständigung zwischen Völkern, Planeten und auch zwischen verschiedenen Zeiten möglich. In der anderen Hand halte ich einen Visor, der dem Arzt in der anderen Station ermöglicht, Eure Verbrennungen zu untersuchen, ohne persönlich anwesend zu sein. Das ist sein Spezialgebiet, nicht meines. Bitte haltet kurz still.«

Hannes führte diesen Stab einmal quer, einmal längs über seinen Körper, hielt ihn an beide Beine, bis er summte und kleine Kribbler durch die Füße sandte. Er wandte sich um und sprach in die andere, sehr glänzende Schatulle ein paar Worte. Viel verstand Avery nicht von dem, was da gesprochen wurde. Hannes schloss mit jedoch mit den Worten »Alles in Ordnung!« ab. Aus der Schatulle kam eine andere Stimme, was Avery dermaßen zusammenzucken ließ, dass er beinahe aus dem Bett gefallen wäre, hätte Hannes nicht mit einer Hand zugepackt und ihn festgehalten.

»Erbitte Hautstatus.«

Hannes antwortete sofort: »Verheilt, meist narbenlos.«

Wieder diese Stimme: »Wassergehalt des Körpers?«

»54 Prozent, steigend«, gab Hannes zur Kenntnis.

»Allgemeiner Habitus?«

»Wach, aufmüpfig, neugierig!« Bei dieser Antwort grinste Hannes den Earl verschmitzt an.

»Also gut, darf aufstehen, bekleiden, zur Nahrungsaufnahme führen und um 19 Uhr vorstellen.« Die Box knackte und blieb still, als wäre das Gespräch verständlich und zufriedenstellend beendet worden.

Avery starrte Hannes an. »Nahrungsaufnahme, was?«

Hannes lachte. Ein tiefes und schönes Lachen ohne Scheu und, wie Avery fand, auch ohne Respekt. Einerseits mochte er das, mal nicht wie der Burgherr behandelt zu werden, doch andererseits verwirrte es seinen Kopf immer mehr.

»Los Earl, kommt, steht auf, ich geb Euch etwas zum Anziehen.«

Hannes warf Avery einen ebensolchen Anzug zu, wie er selbst trug, und Avery drehte ihn in der Hand, nicht wissend, wo Arme und Beine reingehörten.

»Gibt es weder Wams noch Hemd noch Hose?« Die Unsicherheit war ihn jeder Silbe zu vernehmen und er saß auf der Bettkante, den Kopf gesenkt, leicht zitternd und offenbar komplett überfordert.

Hannes setzte sich neben ihn. »Avery, alles, was ich Euch berichtete, ist wahr. Ihr seid hier im Andromedanebel in einer Zeit, fernab der gewohnten Zeitspanne eines Menschenlebens. Aber Ihr müsst keine Angst haben. Ich werde Euch nicht allein lassen und niemand wird Euch verletzen oder Euch etwas zu Leide tun. Ihr habt Hunger und müsst essen und trinken. Also kommt, ich helfe Euch in den Anzug. Möchtet Ihr vorab duschen?«

Hannes beobachtete den Earl genau und als dieser hilflos um sich blickte, als wäre er auf der Suche nach dieser ominösen Dusche, brummte er über sich selbst erschrocken auf.

»Ich Narr, Ihr wisst gar nicht, was duschen ist, oder?«

Avery schüttelte den Kopf.

»In Eurer Zeit nahm man ein Bad im Waschzuber, edler Herr«, spaßte Hannes und zog Avery, der leicht schwankend auf die Füße kam, rüber in die Nasszelle des Zimmers.

»Wir haben hier links«, Hannes zeigte auf eine Art Schüssel, »eine Toilette, wartet, Ihr nanntet es wohl Abort. Nicht erschrecken, es gibt keine Außenmauern und keine Gegner. Die Reste werden abgesaugt. Anschließend säubert Euch ein Wasserstrahl den Hintern.«

Wieder dieses Feixen von Hannes, als Avery nichts verstand.

Er senkte den Kopf und fragte beschämt: »Abort, bedeutet das, wenn ich mal auf den Nachttopf muss?«

»Oh verdammt, Ihr seid ein Adliger höchster Stelle, Ihr kennt diese ekligen Donnerbalken Eurer Burg wohl gar nicht.« Hannes war entsetzt. »Nachttopf, habt Ihr immer auf solch einen Topf …?« Er beendete den Satz mit einem Grinsen, holte tief Luft und fragte: »Und wer hat den sauber gemacht?«

Avery sichtlich peinlich berührt, flüsterte: »Das war der kleine Finley, der Abfalljunge. Er bekam dafür pro Monddurchlauf eine kleine Kupfermünze von mir. Damit konnte er sich und seine Schwester, die in der Küche Schalenmädchen war, ernähren. Sie haben auf dem Schloss gewohnt.« Er seufzte schwer und sah immer wieder verstohlen zur Toilette.

»Ich lass Euch mal kurz, also draufsetzen ohne Hose, wie auf den Nachttopf. Dann, na Ihr wisst schon und anschließend hier den Knopf drücken, aber sitzen bleiben, bis warme Luft kommt. Sonst habt Ihr einen nassen Hintern.«

Hannes lachte und Avery starrte ihn an. Alles war verwirrend, er war verwirrend, ein Traum. Aber ob es ein Guter war, konnte Avery noch nicht sagen.

Er blickte Hannes an und mochte, was er sah.

Dieser junge Mann hatte einen zufriedenen Gesichtsausdruck und schien sich nicht daran zu stören, ihm den Nachttopf zu erklären. In diesem Moment des Betrachtens rumorte es laut in seinen Eingeweiden und er musste, dringend!

Erschrocken sowohl über das Absauggeräusch als auch den lauen Wasserstrahl am Hinterteil und den anschließenden Wind am Po und doch unendlich befreit, klopfte Avery wieder an die Tür.

Hannes trat sofort ein und sagte im Brustton der Überzeugung »Jetzt ist es besser, oder?«, und mit gequältem Lachen konnte Avery nur ein »ja« rausquetschen.

»Dann erklär ich Euch mal die Dusche. Das kennt Ihr auf der Burg sicher nicht, aber einen Badezuber kennt Ihr, oder?«

Avery schnaufte. Sie waren doch keine Vandalen. Er nickte.

»Also das ist genauso, als würde die Magd einen Eimer über Eurem Kopf leeren, um die Seife abzuspülen. Seife ist Euch bekannt?«

Avery nickte erneut.

»Hier kippt also dauernd jemand Wasser von oben aus, und Ihr sitzt in keinem Bottich, sondern steht hier«, er zeigte in die Kabine, »und nachdem Ihr Euren Körper überall mit der Seife eingerieben habt, spült Ihr sie gründlich ab. Verstanden soweit? Hier ist die Seife.«

Er reichte Avery einen kleinen Brocken gepresstes Waschöl, denn auf Flaschen verzichtete man schon seit Jahrtausenden. Avery schnupperte und leckte an dem Stück, da es nach Frucht roch, nicht so muffig wie die Siedeseifen der Burg. Er verzog das Gesicht und lachte.

Leise murmelte er ein »Nicht lecker.«

»Mensch Avery, Ihr habt doch auch keine Seife gegessen, das hat sich nicht geändert. Essen gibt’s dann gleich in einem anderen Raum. Nun wascht Euch, hier geht das Wasser an und hier könnt Ihr einstellen, wie warm oder kalt es sein soll.«

Avery sah ihn dermaßen entsetzt an, den Mund offen, die Brauen zusammengezogen, dass Hannes laut auflachte.

»Fließend warmes Wasser strömt schon seit mehr als 1400 Jahren über ein Rohr aus der Wand. Also scheut Euch nicht.«

Er schob den verdutzten Avery direkt in die Kabine und zeigte nochmals auf die Regler. Natürlich erwischte Avery zuerst das kalte Wasser. Als dieses auf ihn herunter regnete, schnappte er erschrocken nach Luft und grollte tief aus dem Brustraum heraus.

»Oh Mann, Ihr holt Euch noch den Tod. Hier dreht daran.«

Hannes griff an dem immer noch das Krankenhausleibchen tragenden aber jetzt pitschnassen Avery vorbei und regelte die Temperatur angenehm.

Innerlich schalt er sich einen Narren, wenn er dachte, Avery könne so schnell 2000 Jahre Entwicklung aufholen. Dass er alles mit sich machen ließ, war sehr seltsam und Hannes wartete auf eine ängstliche oder wütende Reaktion des Earls. Menschen haben seit jeher Angst vor dem Unbekannten und zu Averys Zeiten gab es die in der Hexenverfolgung gipfelnde Angst vor Magie und Zauberei. Alles hier musste Avery wie Zauberei vorkommen. Selbst der Abort war verwunderlich.

Was wohl die geringe Gegenwehr verursachte?

Er sah an sich hinab. In seinem weißen Anzug, so blond und blauäugig sah er beinahe aus, wie …

»Oh nein, er wird doch nicht …?«

Hannes erschrak. Das musste er beobachten.

Der Earl starrte ihn an wie ein überirdisches Wesen. Und Hannes lachte unwohl auf. Er konnte sich nicht von seinem Empfinden leiten lassen, er musste dem jungen Mann zeigen, dass er ein Mensch war. Zuerst jedoch zeigte er auf die Seife und deutete Waschbewegungen an.

Avery war so verstört, dass er keinen Widerstand leistete, der bei seinem Adelsstand normal gewesen wäre. Er war dankbar dafür, diese moderne Latrine nutzen zu dürfen. Die Seife roch wunderbar frisch und gut, sodass er sich beeilte, das Hemdchen fallen zu lassen und seine Haut und Haare damit abzureiben, bis es heftig schäumte.

Himmlisch war das Wort, was ihm einfiel. Dieser junge Mann musste ein Mitglied der himmlischen Heerscharen sein. Anders konnte sich Avery die Güte in den Augen des anderen Mannes nicht erklären. Und die Himmlischen darf man nicht erzürnen. Das wusste Avery.

Nachdem er den Schaum abgespült hatte, drehte sich Hannes freundlicherweise um, so dass Ihre Lordschaft delikatere Stellen waschen und abspülen konnte.

Als ein leises »fertig« aus der Dusche kam, flüsterte Hannes »Kommt heraus« und griff das große Badetuch. Er reichte es am langen Arm zu Avery.

Wohlig aufseufzend wickelte sich der Earl in das Badelaken, zumindest das hatte sich nicht verändert, nur war dieses hier kuschlig und nicht kratzig und auch dieses duftete einfach frisch und sauber. Er musste zugeben, er fühlte sich besser.

Hannes geleitete ihn zurück ins Zimmer und deutete auf das Bett. Dort lagen das Unterbeinkleid und der Anzug.

»Sagt mir, wenn Ihr die Unterhose«, er räusperte sich, »also die Unterbeinkleider angezogen habt, dann helfe ich Euch beim Anzug.« Hannes wandte seinen Blick von Avery ab.

Die Minute nutzend, schlüpfte der junge Mann in die für ihn gänzlich neuartige Wäsche. Zumindest versuchte er es. Ein lautes Poltern ließ Hannes herumfahren. Der Earl saß auf dem Fußboden. Die Augen waren weit aufgerissen und er bebte. Es war nicht ersichtlich, ob er vor Wut bebte oder sich das Lachen verkneifen musste. Die Unterhose lag einen guten Schritt entfernt und Avery knurrte. Hannes drehte sich schnell wieder weg.

»Oh Gott, Avery, seid Ihr gestürzt?«, fragte er pikiert.

Der große Mann hatte Schwierigkeiten mit einer Unterhose. Hannes hatte Mühe, größte Mühe, das Lachen nicht aus seiner Kehle zu lassen, das dort versteckt vor sich hin blubberte.

Er flüsterte: »Mylord, habt ihr Euch verletzt, was ist geschehen? Soll ich mich umdrehen und Euch helfen.«

Avery knurrte lauter und schien ebenfalls um die Contenance zu kämpfen.

»Das Beinkleid schnippte einfach davon, als ich hineinsteigen wollte. Was ist das für ein Hexenwerk?«, schimpfte er.

Hannes drehte sich erneut um, blickte Avery in die blauen Augen und schnappte nach Luft. Vor ihm saß das Bild eines Mannes auf dem Boden. Die dunkel behaarte Brust mit einem verlockenden Pfad zum Glück ließ ihn in Gedanken aufseufzen. Natürlich drang davon kein Laut nach außen, das wäre unschicklich. Averys Schultern waren breit, die Hüften schmal und er schien sich sichtlich unwohl zu fühlen. Hannes unterbrach sein Starren, und reichte dem Earl die Hand. Er zog ihn auf die Beine und drückte ihn dann auf die Bettkante in den Sitz. Er bereitete die Unterhosen vor und hielt sie ihm hin, wie einem kleinen Jungen.

Der Earl grummelte vor sich hin, mühsam beherrscht.

Wut war einem Engel gegenüber nicht angebracht und so blond wie Engel Hannes war, musste er zu den obersten Engelsriegen gehören. Eine tiefe Angst setzte sich in Averys Bauch fest und er sah bestürzt zu Boden.

Einen Engel anzuknurren, war … gefährlich.

Hannes hielt nun den Overall genauso vorbereitet, dass er in das Beinkleid schlüpfen konnte und anschließend die Ärmel von unten nach oben über die Schultern streifte. Nach einigem Herumzupfen saß der Overall und Avery atmete erleichtert aus.

»Gar nicht so einfach, Eure Beinkleider, Angel of mine!«, murmelte er.

Er schnaufte und blickte verunsichert zu Hannes, der sich wieder das Lachen verkniff und besser nichts sagte. Er hatte jedoch sehr wohl vernommen, dass ihn Avery Angel genannt hatte. Nur er war kein Engel, ganz und gar nicht. Als er Avery dort so sitzen sah, hatte er eher sündige Gedanken.

»Man gewöhnt sich schnell dran, morgen geht das schon besser. Im Unterbeinkleid ist ein Gummiband. Das hält die Hose elastisch oben und kneift nicht. Jetzt, denke ich, werdet Ihr Hunger haben, oder?«

Kaum ausgesprochen, folgte ein Rumpeln aus dem Bauch Averys, als würde eine Horde wilder Hunde in seinem Inneren kämpfen.

»Kommt mit, folgt mir«, sagte Hannes und deutete in den langen Gang vor dem Zimmer, das sie in diesem Moment verließen.

 

 

Sie betraten die Verpflegungseinheit und Avery war mehr als verwundert. Keine Tiere an Spießen, kein Duft nach Brot, kein Gemüse. Irgendwas mussten die Leute hier doch essen? Sein Magen führte sich auf wie der Hofhund der Burg, nachdem man ihn drei Tage mit Nahrungsentzug bestraft hatte.

»Wo ... wo ist denn hier etwas zu essen?«, fragte er verstört.

»Na da drüben«, sagte Hannes im Brustton der Überzeugung und zeigte auf mehrere Geräte, die metallisch glänzten.

»Aber wo sind die Braten, die Spieße, die Brote?« Avery war entsetzt. Es roch nach nichts.

»Kommt mit.«

Hannes zog ihn zu diesem silbrigen Monstrum, drückte ein paar Knöpfe und fragte ihn, ob er Schweinebraten mit Soße, Kraut und Grütze haben wollen würde?

Avery sah sich um und nickte. Das klang vertraut.

»Dazu Brotpudding und Haggis?« Wieder nickte Avery, die Augen riesengroß auf den Kasten vor sich gerichtet. »Zum Nachtisch Kuchen und Mehlspeise?«, fragte Hannes und grinste dermaßen unverschämt, dass Avery vermutete, er würde ihn zum Narren halten und eine dünne Bohnensuppe servieren.

Doch Hannes drückte Tasten auf dem Bildschirm, es klangen raue schabende Geräusche und nach einem »Bing« öffnete Hannes eine Klappe. Auf einem Teller lagen fünf sehr gleichmäßige große Scheiben Braten in einer sämigen braunen Soße, knusprig und dampfend, daneben eine riesige Portion Rotkraut und zwei gigantische Haufen Grütze. Er reichte den riesigen Teller an Avery und drückte erneut auf einem Display herum. Kurz darauf erklang ein erneutes »Bing« und Avery erhielt einen großen Teller mit den köstlichsten Scheiben gebratenem Haggis in die Hand gedrückt. Dazu gab es eine Art Püree, von dem Hannes ihm erklärte, dass dies eine rübenähnliche Erdfrucht sei, die gekocht und gestampft serviert wurde.

Mit dem Begriff Kartoffelbrei hätte Avery nichts anzufangen gewusst. Die Kartoffel brachten die Spanier erst zum Ende des 16. Jahrhunderts aus den Gebieten der südamerikanischen Anden, von einem Stamm der Inka mit. Hannes hielt sich besser bedeckt, wenn er Avery nicht vollkommen verstören wollte. Zweitausend Jahre Geschichte brächte sicher den schlausten Gelehrten aus der Fassung.

Ihre Teller mehr schlecht als recht balancierend, ließen sich die Männer an einem Tisch nieder. Hannes begnügte sich mit einem Kaffee, er hatte bereits gegessen.

Avery schnupperte und räusperte sich.

»Welche Art Tee trinkt Ihr da? Er riecht doch sehr ungewöhnlich? Welche Kräuter nutzt Ihr dafür?«

Verdammt, das hatte Hannes nicht bedacht.

Auch Kaffee war Avery nicht bekannt.

»Nun, edler Herr, seit Eurer Zeit in Stirling gab es viele Veränderungen auf der Erde und es wurden viele Welten entdeckt, auf denen Leben möglich war. Aber alles zu erläutern, würde in dieser kurzen Zeit verwirren.« Hannes grinste.

Er konnte ihm schlecht sagen, wenn er auch nur ein Prozent von dem preisgeben würde, was seit 1392 geschehen war und das in die richtige Reihenfolge und Relation setzen wollte, dann bräuchte es Tage bis Wochen, abgesehen von der Erhaltung der geistigen Gesundheit des Earls, der die Informationen nicht annähernd würde verarbeiten können.

Er scheiterte bereits daran, zu glauben, wo sie sich befanden. Der erste Schritt war demnach, wenn das Essen beendet war, ihm genau das zu zeigen.

Avery aß mit großem Appetit und Genuss die Speisen, die er kannte, nicht ahnend, dass auch nicht ein Stück auf seinem Teller das war, was es zu sein schien. Schweine wurden weder gezüchtet noch geschlachtet und auch der viel besungene Schafmagen war in diesem Haggis definitiv nicht enthalten. Der Forschung gelangen pflanzliche Duplikate der Speisen nahrhafter, schmackhafter und würziger als das Original.

Hannes beobachtete zufrieden, wie die Teller sich leerten und Averys Nervosität nachließ. Gesättigt und offenbar zufrieden lehnte sich Avery auf dem Stuhl zurück und betrachtete die Umgebung mit Argusaugen.

»Wie genau funktioniert diese Essenskiste«, fragte er Hannes und nur pure Neugier zeigte sich auf seinem Gesicht.

»Das werdet Ihr in wenigen Tagen herausfinden, ich zeig es Euch dann. Doch zuerst machen wir einen Spaziergang. Wir gehen Rex besuchen, der zu dieser Zeit in der Bibliothek sein müsste, um die Forschungen über Euren offiziellen Verbleib voranzutreiben. Er ist fasziniert vom Mittelalter auf der Erde.«

»Mittelalter? Ich lebe doch in der neuen Zeit«, erwiderte Avery sichtlich verwirrt.

»Ähm, ja, aus Eurer Sicht habt Ihr recht, aber die Weltgeschichte ging weiter nach dem Fall Stirlings.«

»Stirling ist gefallen?«, keuchte Avery und er sprang auf, sodass der Tisch, an dem sie saßen, bedrohlich ins Kippen geriet.

»Das könnt Ihr gleich Rex fragen, aber zuerst lasst mich Euch was zeigen. Kommt mit, lasst das Geschirr stehen, R 23 kümmert sich darum.«

»R23?« Avery schien mehr als verstört. Hannes schlug sich gegen die Stirn, als er flüsterte: »Das lernt Ihr alles noch. Das ist der Küchenmanager, ein Roboter, der diese Aufgabe übernimmt. Bei Euch war es eine Magd. Egal, er wird aufräumen. Kommt …«

Der Earl schlich über den Flur, verstört und tief in Gedanken. Hannes tat es leid, dass er Avery mit den ungeschönten Tatsachen so überfallen hatte. Er hatte das Bedürfnis, den Mann neben ihm aufzuheitern, doch alles Geplapper schien diesen nicht zu erreichen. Avery folgte Hannes ohne ein weiteres Wort, bis sie eines der Außenfenster der Station erreichten.

Hannes blieb stehen und drehte sich dem Fenster zu. Er erlag immer wieder der Schönheit der Andromedagalaxie, wenn sie auch vollkommen anderes Licht aussandte, als man es auf der Erde kannte. Hannes war zwar auf der Erde geboren, aber seit der Jugend befand er sich auf der Station X Beta 251074, oder auch Station Berta, weil sein Vater als Arzt hierher versetzt worden war.

Die schiere Größe Bertas ließ ihn nichts vermissen, was er in seiner Kindheit auf der Erde kannte. Natur, wie er sie kurz über die Burgmauern Stirlings hatte sehen können oder von anderen Zeitenreisen kannte, gab es schon lange nicht mehr, weder hier noch auf der Erde.

»Schaut Euer Lordschaft«, wisperte er, als wolle er Avery beschützen. Er zeigte hinaus in die Weiten des Himmels. »Es ist erhaben schön, ein Sternenhimmel voller als der über der Erde.«

Avery schwieg und Hannes war verunsichert. Er drehte sich weg und musste kurz durchatmen. Wahrscheinlich war es ein Fehler, Avery hierher zu bringen. Auf den ersten Blick schien der Earl verängstigt und überfordert, doch dann sackte der Earl auf die Knie.

»Mo aingeal, tha mi air neamh«, seufzte er, drehte sich zu Hannes und sah ihn von unten an. »Tapadh leat, mo aingeal!«

Er dankte seinem Engel in reinstem Gälisch und stellte fest, dass er im Himmel ist? Hannes schnürte es die Kehle zu. Er streifte seine Rührung ab, griff dem Earl vorsichtig an den Arm und zog ihn auf die Beine.

»Kommt eure Lordschaft, wir gehen zu Rex, der wird Euch mehr über die Geschichte Schottlands berichten können«, versuchte Hannes Avery aufzuheitern und dazu zu bewegen, das Fenster zu verlassen.

Ein Schnaufen entkam Avery, das Hannes nicht zu deuten vermochte. Einerseits klang es resigniert, als hätte Avery mit seinem Leben abgeschlossen und andererseits klang es irgendwie hoffnungsvoll.

Der Earl räusperte sich und wandte sich mit sehr tiefer Stimme, in der ein winziges Zittern lag zu Hannes um: »Ich habe Euch noch nicht gedankt. Ihr habt mein Leben gerettet, mich den Flammen entrissen. Ihr habt mich zusammengeflickt und das sogar narbenfrei. Ihr habt mir gezeigt, wie …«, er wurde entzückend rot und Hannes sagte leise: »wie ein Klo funktioniert.« Avery lachte laut los. »Ja genau, wie dieses Klo funktioniert. Ich fühle mich geehrt, dass ich den Popowind ausprobieren durfte.«

Ein tiefes, freundliches Rumpeln ging durch Averys Brust. Er lachte und verbeugte sich tief, als er erneut »Mo aingeal« sagte.

Hannes sah zum Earl und schmolz dahin. Dieser Mann würde ihm zum Verhängnis werden. Schon jetzt spürte er deutlich, dass sein Herz in Averys Richtung flog, metaphorisch gesprochen. Dieser Mann war der pure Sex auf zwei Beinen und hielt ihn für einen Engel … Hannes schüttelte vehement den Kopf.

»Stimmt etwas nicht? Habe ich was Falsches gesagt?«, fragte Avery, dem der Stimmungsumschwung seines Begleiters nicht entgangen war.

Er blickte Hannes an. Dieser Engel, blond und blauäugig, war hübsch. Kaum durchzuckte Avery dieser Gedanke, schämte er sich.

Ein Engel und ein Mann.

Sodomie war falsch, die Kirche wusste es und Avery wusste es auch. Nur … so war er. Aber das sollte er mit ins Grab nehmen, es bedeutete die Todesstrafe, auch für einen Earl. Natürlich gab es Gerüchte auf Stirling, denen er versuchte, entgegenzuwirken. Doch konnte er mit den Mätressen seines Vaters nie etwas anfangen.

Mit den jungen Männern allerdings, nachts … in seinen Träumen.

 

 

Sie betraten die weiträumige Bibliothek. An den wenigen Wänden, die nicht aus Glas waren und den Blick in die Weiten der Galaxie gestatteten, standen Geräte, die Avery den Atem raubten. Nachdem ihn schon die Essensausgabe vollkommen verwirrt hatte, schwirrte ihm hier der Kopf.

Sein Haupt ging von rechts nach links und wieder zurück. Er schien auf seinem Hals zu rotieren, so sehr versuchte er, alles, was er sah, aufzunehmen und zu verstehen. Leise Kopfschmerzen schlichen sich an, waren Zeuge der massiven Überforderung, die ihn angesichts dieser Ausstattung der großen Gewölberäume erfasste.

»Na eure Lordschaft, alles ein bisschen viel auf einmal, oder?« Er registrierte den amüsierten Unterton in der Stimme und drehte sich Rex entgegen, der ihm entgegeneilte.

»Ich ... so viele Jahrhunderte, die Menschen haben viel gelernt, oder?«, flüsterte Avery ehrfürchtig.

»Ja, das kann man wohl sagen. Ihr seid überfordert, das sehe ich. Macht Euch keine Sorgen, Ihr werdet schneller lernen, als Ihr glaubt. Setzt Euch zu mir.« Rex zeigte auf einen großen Lehnsessel.

»Das ist mein Sessel aus der Burg«, keuchte Avery.

»Nicht direkt, schaut, ich habe ihn Eurem Sessel nachempfunden, seht Ihr?« Rex zeigte ihm ein Bild in seiner Printausgabe des Buches über die Geschichte der Burg Stirling.

Das Buch, das der Auslöser der Reise und der ganzen Geschehnisse der letzten Tage zu sein schien.

»Earl, hier ist Eure Lebensgeschichte verfasst«, sagte Rex voller Stolz. »Der große Brand ist beschrieben, Euer Chronist hat sich Mühe gegeben. Und doch endet das Buch, ohne dass Ihr noch mal erwähnt werdet. Nun offensichtlich schließt sich hier der Kreis, denn es bleibt offen, ob ihr verbranntet … Nur wir wissen, dass das nicht der Fall war. Ihr seid hier und die Welt hat sich für Euch anders gedreht als für die Menschen auf Eurem Schloss, die schon fast 2000 Jahre nicht mehr sind. Ihr seid hier.«

Rex knabberte an seiner Unterlippe und ein leichtes Zittern erfasste ihn.

»Muss es uns leidtun, dass wir Euch mitnahmen? Aber ich glaubte, Euch schon so lange zu kennen, durch das Buch, durch die Geschichtsaufzeichnungen. Ich konnte Euch nicht einfach dem sicheren Tod aussetzen. Das brachte ich nicht übers Herz. Ihr seid …«, stockte Rex in seinen Ausführungen.

»Ihr seid etwas Besonderes«, setzte Hannes den Satz fort.

»Etwas Besonderes? Warum?« Avery schien entsetzt.

Ein Engel hielt ihn für etwas Besonderes und der Mann neben ihm, Rex stimmte dem zu. Rex, lateinisch, der König. Ein Schaudern durchfuhr den Earl.

»Aingeal agus rìgh - Ein Engel und ein König«, flüsterte er.

»Ich habe eine Verbindung zu Euch, eine, die ich nicht zu erklären vermag. Ich kenne Euch mein Leben lang, obwohl Ihr nur eine Romanfigur für mich wart. Doch ich spüre, dass uns etwas verbindet. Lasst uns gemeinsam herausfinden, was es ist.«

Rex blickte Avery an und Hannes durchfuhr ein Schaudern. Die beiden Männer saßen in den Sesseln nebeneinander, und Hannes stand gegenüber vor dem Regal mit den wenigen erhaltenen Druckbüchern. Er blickte zwischen Rex und Avery hin und her. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn. Er musste nachforschen, musste seinem Gefühl nachgeben, dass an dieser Zeitreise, an der Geschichte mehr wunderlich war als an einer normalen Zeitreise.

Diese waren seit vielen Jahren eine Touristenattraktion. Es gab strenge Regeln und Vorschriften und niemand passierte ungeprüft ein Portal. Doch Ihre Lordschaft wurde hindurchgelassen, wurde auf die Krankenstation gebracht, statt auf die Isolier- und Haftebene. Irgendwas ging hier vor. Es war ein Ahnen, ein Kribbeln, das er nicht verstand.

Rex und Avery, beide mit dunklen Locken und rötlichen Bärten, einer mit dunklen, braunen Augen, einer mit stahlblauen und doch … Die Körpergröße überragend, die Statur ähnlich. Hautton und selbst die Locken ähnlich.

»Ich muss was nachprüfen, unterhaltet euch weiter«, sagte er an seinen besten Freund Rex gewandt. »Ich geh in das Archiv und hole Euer Lordschaft in einer Erdenstunde wieder ab.« Er zeigte auf Avery.

Ein tiefes Wissen, eine Ahnung, zupfte in einer Ecke des Gehirns, dem er unbedingt nachgehen wollte. So verließ Hannes eiligen Schrittes die Bibliothek und stapfte, voller Gedanken Richtung Archiv.

Dort angekommen, setzte er sich in den virtuellen Raum 312 und sprach leise, aber bestimmt: »Computer, zeige mir die Akten von Rex, Freigabestufe 4. Medcare.«

 

Rex, Personalnummer 28365831, Geburtsjahr 3327,

genaue Urkunden nicht vorhanden.

Geburtsort unbekannt, Zieheltern Montgomery Douglas und Scott Mangold.

Frühe Schulbildung Elementaryschool Dutschpoint Amsterdam, Matura Highschool Den Haag,

Universität Amsterdam Abschlüsse:

Master of Historical, Literary and Cultural Studies

Master of british law

Master of scottish history

 

Hannes schwirrte der Kopf. Sein Freund, den er immer für ein wenig, nun sagen wir, zu ruhig gehalten hatte, war dreifacher Master. Nun das erklärte zumindest die Liebe zu historischer Literatur, die er immer für ein wenig sonderbar gehalten hatte. Und der Nachname seines Vaters …

»Computer, Familienstammbaum und Familienname von Rex 28365831«

»Akte Sperrvermerk«, antwortete der Computer.

»Von wem veranlasst?«, keuchte Hannes.

Das ungute Gefühl in seinem Bauch nahm zu. Hier stimmte was ganz und gar nicht. Warum hatte sein Freund einen Sperrvermerk in der Akte? Das bedeutete, dass Informationen geheim bleiben sollten. Wer war er? Rex war lieb und fürsorglich und niemals laut zu Hannes. Er beschützte ihn und sah ihn immer liebevoll an. Hannes glaubte an einen Irrtum.

»Oberster Gerichtshof Den Haag, Sperrvermerk Richter Montgomery Douglas, House of Law, anno 3332.«

»Computer, Akte Avery, Earl of Stirling, Vita erbeten.«

»Akte Avery, Earl of Stirling, Mitglied der Sanguis Potentia, Zulassung Station X Beta 251074 unbeschränkt. Sperrvermerk«, zirpte die PC-Stimme.

Hannes stutzte. Der Computer kannte Avery? Hannes war aufgeregt.

Geheimnisse. Er liebte Rätsel.

Eilig bemühte sich Hannes, zu den beiden Männern zurückzukehren, die er in der Bibliothek verlassen hatte. Er musste Stillschweigen bewahren und weitere Forschungen anstellen. Auf diese simple Weise kam er nicht weiter. Der Sperrvermerk verhinderte eine Recherche und was ist ein Sanguis Potentia?