Zur fast selben Zeit,
zwei Decks über der Bibliothek
Ein Pochen an der Tür, ganz Old School, ließ Scott erschrocken zusammenzucken.
»Herein«, sagte er verstört.
Niemand klopfte mehr, außer…
»Scott, Schatz, Scott, komm her. Ich habe dich vermisst.«
Montgomery schritt mit Schwung auf seinen Ehemann zu und riss ihn in die Arme. Zu lange hatten sich die beiden nicht gesehen.
»Verdammt tut das gut, dich wieder im Arm zu haben«, wisperte Monti, wie er liebevoll von seinem Mann genannt wurde.
»Mann, hier wackeln unsere Grundfeste aber gewaltig. Was machen wir denn jetzt, Monti«, flüsterte Scott zurück.
»Ich habe überall Sperrvermerke gesetzt. Dieser Reiseleiter war Mitglied der Purity. Zielperson Rex, du weisst wieso. Er sollte bei dieser Reise sterben. Es hätte die Blutmacht ausgelöscht. Avery wäre ebenfalls verbrannt.«
Montgomerys Gesicht wurde blass. »Wenn die Purity dahintersteckt, haben wir ein Riesenproblem. Das sind, wie du weißt, Forscher, die jede Form der Ethik übersehen und jede Art der Forschung, lebensverlängernde Transplantationen von genetischen und medizinischen Optimierungen, bis aufs Äußerste betreiben, um den Übermenschen zu generieren.«
Diese Forschergruppe Purity – Reinheit genannt, wuchs und gedieh seit über 250 Jahren im Untergrund. In ihr sammelte sich all der wissenschaftliche Abschaum, Wissenschaftler aller Fachgebiete, die nicht an Ethik, sondern nur an schnellem Geld interessiert waren. Menschliche Optimierungen, die oftmals böse Abstoßungsreaktionen verursachen konnten und den Menschen vergifteten, wurden ebenso oft beschlagnahmt, wie Hybridlebewesen aus Hund und Mensch oder Echse und Mensch. Ziel des ganzen Forschens war ein unsterblicher Supersoldat.
»Scott, das macht mir Angst. Irgendwann haben wir nicht nur Roboter. Das dürfen wir nicht zulassen.«
»Monti, jetzt beruhige dich. Wir werden den Reiseleiter verhören und wenn nötig, wird er umgehend der Sanguis Potentia, der Blutmacht , übergeben und darf sich im 14. Jahrhundert den Arsch abfrieren vor den Burgmauern Stirlings. Wir werden die Purity überwachen und die Sanguis Potentia wird jeden Verstoß gegen das Forschungsverbot oder die Verkündung ihrer Wahrheiten ahnden.«
Die Blutmacht war die umfassende Bezeichnung aller Wissenschaftler und Ordnungshüter von Generationen, deren Aufgabe es einzig war, die Purity zu stoppen, über Planeten und Zeitepochen hinweg. Denn leider versteckten sich die Mitglieder der Purity nicht nur im Raum, sondern auch in anderen Zeitebenen. Ein menschenwürdiges Dasein mit genetischen Veränderungen in der von der Purity ausgeführten unsauberen Art ist unmöglich.
»Unsere Lairds und Earls und die Gefolgschaften der Sanguis Potentia sind bestens ausgebildet in allen modernen Belangen, um der Zeit unangemessene Forschung zu erkennen und zu verhindern. Als letzte Maßnahme steht immer noch …«
»Sprich nicht weiter, ich weiß Bescheid. Ich finde es genauso barbarisch wie die Methoden der Purity selbst. Allerdings, ein Supersoldat, unsterblich und unbesiegbar, das ist ebenfalls unvorstellbar«, knurrte Scott.
»Mein Vorschlag ist, wir unterweisen die drei Herrschaften und nehmen sie in die Sanguis Potentia auf. Avery könnte an den Ort des Brandes zurückgesandt werden und seine Regierungsgeschäfte wieder aufnehmen. Rex ist Chronist auf dem Castle Stirling und das weisst du bereits. Es sind seit dem Tag seines Verschwindens mehr als 27 Sonnenjahre vergangen. Niemand in dieser dunklen Zeit wird ihn als das erkennen, was er war, wenn wir zusehen, dass er zuerst einmal einen hohen Rang in der Sanguis bekleidet. Hannes allerdings, hm …« Scott überlegte.
»Sag mal, der ist doch Arzt und Pharmazeut, oder?«
»Soweit ich weiß, ist er Master of Pharmacy and Physicians. Ein Arzt, wenn auch jetzt in der Medikamentenforschung in einem langweiligen Labor. Intelligent genug ist er, die Auswirkungen zu verstehen und auch, um als Mitglied der Blutmacht aufzupassen. Zudem kann er vor Ort unsere Earls und Lairds und deren Gefolge behandeln, nach unseren Methoden und nicht nach …«, Monti stöhnte auf, »diesen ekelhaften, stümperhaften, vormedizinischen Heilmethoden damals.«
»Ja genau, das würde auch den Job der Mitglieder der Blutmacht hinsichtlich Pest und Cholera ein wenig sicherer machen.«
Die beiden Herren Richter saßen noch lange bei Calvados und einem Abendessen zusammen …
Am Abend im Wohntrakt
Hannes und Rex redeten noch lange am Kaminfeuer. Echtes Feuer war ausgeschlossen, aber durch Hologramme war auch ein riesiges Feuer im Wald schnell in die Bibliothek projizierbar. Die Männer liebten diese trauten Runden.
Avery schlief auf der Krankenstation und war allein von der Technik, der Zukunft, in der er sich befand, komplett überfordert. Er brauchte nicht noch verunsichert durch gewisse Verwandtschaftsverhältnisse um den Nachtschlaf gebracht werden. Hannes hatte das gute alte Casia Oleum, das Lavendelöl, genutzt und Avery sprach hervorragend darauf an. Er schlief vollkommen erschöpft ein.
»Rex, irgendwas stimmt hier nicht, die Sperrvermerke sind von oberster Stelle erlassen worden. Wir durften unbeschadet Avery mit hierher nehmen aus seiner Zeit. Mal abgesehen davon das Ihre Lordschaft im Computer eine Akte hat. Wir sollten deine Väter fragen, was hier vor sich geht. Ich bin gelinde gesagt beunruhigt. Kannst du dich an irgendwas aus deiner Kindheit erinnern?«
Rex überlegte.
»Ja an alles, die Elementary School, die Matura, die Studien, klar erinnere ich mich.«
»Aber auch an die Zeit der frühen Kindheit?« Hannes zog so ein komisches Gesicht.
»Welchen Verdacht hast du? Nun spucks schon aus«, knurrte Rex.
»Nun, dein Buch, das du so liebst. Darin steht, du hast es mir vorgelesen, dass ein sechsjähriger Junge, der älteste Bruder, Robert war sein Name, aus dem Thronsaal der Burg verschwunden ist. Oder entführt wurde? Wo genau sollte er denn hin sein? Ich mit meinem unendlichen Misstrauen vermute, dass der Junge entführt wurde, vielleicht sogar durch die Zeit entführt. Und dieser Junge, mein lieber Rex, bist du. Du bist Robert, der älteste Bruder von Avery und irgendwie bist du hier gelandet, in unserer Zeit und hier auf Station Berta.«
Rex fiel die Kinnlade beinahe zu Boden.
»Das, das kann doch nicht … Ich soll Robert sein?«, stotterte Rex.
»Na hast du eine andere Erklärung? Du bist definitiv ein Bruder Averys. DNA lügt nicht. Du hast vorgelesen, Cedric und Alistair wurden mit Pfeilen erschossen. Andere Brüder sind nicht erwähnt, wer solltest du also sein? Du bist Robert, der erstgeborene Sohn des 2. Earls Alistair von Stirling und damit der rechtmäßige 3. Earl of Stirling.«
»Aber was machen wir denn jetzt?«, flüsterte Rex.
»Nun, ich denke, schlafen gehen und morgen deine Väter zur Rede stellen. Sie haben dich aufgezogen. Sie müssen wissen, woher du kommst. Allerdings müssen wir Vorsicht walten lassen, ich traue ihnen nicht. Zuviel ist ungeklärt. Was ist, wenn sie dich entführt haben? Ich hege die Vermutung, dass da noch viel mehr dranhängt«, sagte Hannes sehr leise, als vermute er, belauscht zu werden.
Wie nahe er der Wahrheit in diesem Moment gekommen war, konnte niemand ahnen.
»Ich kenne sie mein Leben lang, sie müssen das erklären. Aber sie sind keine Gefahr Hannes, das spüre ich. Ich kenne meine Väter.« Rex klang resoluter, als er sich selbst fühlte.
»Computer, Aufenthaltsort von Richter Montgomery Douglas und Richter Scott Mangold.« Der geschäftsmäßige Ton, als Hannes den Computer befragte, schickte kalte Schauer über den Rücken seines Freundes.
»Richter Montgomery Douglas und Richter Scott Mangold, aktueller Standort X BETA 251074, Ebene 4, Quartier Mangold, Schlafebene«, säuselte der Computer, »Anruf erwünscht?«
»Negativ. Anruf nicht ausführen«, zischte Hannes. »Erinnerung 09:30 Uhr, morgen. Termin setzen 10 Uhr, Büro Richter Scott Mangold.«
»Erinnerung, Termin gespeichert«, bestätigte der Computer. Morgen würden Hannes und Rex Antworten verlangen.
•
In dieser Nacht fand außer Avery niemand in den Schlaf.
Montgomery und Scott schwelgten in Erinnerungen an den kleinen Rex und konnten nicht umhin, sich immer wieder gegenseitig zu versichern, dass sie die Entscheidung des Tages vor vielen Jahren wieder so treffen würden. Sie würden Rex und auch Hannes, den sie die letzten Jahre sehr ins Herz geschlossen hatten, erklären müssen, was vor 27 Jahren ihr aller Leben aus gewohnten Bahnen riss.
Hannes und Rex, jeder in seinem Schlafbereich auf Ebene 4, in ihren eigenen Betten, wälzten sich von links nach rechts. Die Zeit zog sich unendlich, Sekunden wurden zu Minuten, und Minuten schienen Stunden.
Um 03:00 Sternenzeit auf X Beta, der Erdenzeit angeglichen, hatte Rex die Nase voll. Antworten suchend, schlich er auf nackten Füßen Richtung Bibliothek, um sich in ein Buch zu vertiefen und seine Gedanken in ruhigere Gewässer zu lenken.
»Computer, Licht 50 LUX, Temperatur anpassen. 24 Grad Celsius«, flüsterte Rex, der niemanden wecken wollte.
»Licht ist auf 45 LUX, Temperatur beträgt 24,5 Grad Celsius, eine anwesende Person«, zirpte eine weibliche Computerstimme leise.
»Wer???«, Rex zuckte zusammen.
»Komm rein Rex, kannst du auch nicht schlafen?«, sagte Hannes leise und reichte Rex ein Glas Tee aus dem Automaten.
»Mann, ich bin so durcheinander. Ich meine, das fing mit meinem Lieblingsbuch an, dann waren wir in Stirling und sind fast verbrannt. Nun habe ich einen Bruder, was kommt als Nächstes? Was wissen meine Väter, wo komme ich her?«
Die jungen Männer unterhielten sich lange, und je mehr sie drüber nachdachten, was ihnen geschehen war, und je mehr sie nach einer plausiblen Erklärung suchten, desto weniger Sinn fanden sie in der ganzen Sache.
In den frühen Morgenstunden siegte die Müdigkeit und beide schliefen in den lauschigen Ohrensesseln der Bibliothek ihrem Termin entgegen.
•
Um 09:30 schnarrte der Computer »Erste Erinnerung, Termin 10:00 Uhr bei den Herren Douglas und Mangold, bitte bestätigen.«
»Termin bestätigt«, knurrte Rex mit tiefer Morgenstimme, sich unsicher umsehend.
Hannes ihm gegenüber schlief noch. Er berührte ihn sanft an der Schulter.
»Hannes, aufwachen, wir müssen noch Avery einsammeln und dann zu meinen Vätern. Und ehrlich gesagt, würde ich gern noch eben Zahnpflege betreiben.«
Sein Freund blinzelte und setzte sich grade auf. »Zahnbürste, gute Idee. Lass uns gehen und wir treffen uns um zehn Uhr vor dem Zimmer der Richter.«
Kurz vor zehn Uhr, alle drei jungen Männer befanden sich bereits auf dem Weg in das Büro des Richters Mangold, hallte die Stimme des Interkommunikationssystems durch die Gänge X Betas Ebene 3, der Büroebene.
»Hannes, Avery und Rex Treffpunkt Transportraum 23, 10:30 Uhr, Bekleidung Mittelalter, Grundverpflegung,«, schnarrte die Stimme der Elektronik.
Auf den Hacken bremsend kamen alle drei jungen Männer zum Stehen. Sie schüttelten gleichzeitig die Köpfe und standen still mit offenen Mündern. Nach wenigen Schrecksekunden fassten sich Hannes und Rex und rasten im Laufschritt zurück in die Quartiere, um sich reisefertig zu machen. Avery folgte ihnen ohne Gegenwehr. Er fühlte sich verloren, überfordert und verstört.
Was hatten die Richter mit ihnen vor? Was brauchten sie für die Reise? Pure Aufregung, Unverständnis und Neugier gepaart mit Angst durchströmte die Adern von Hannes und Rex. Natürlich waren ihre Nachforschungen entdeckt worden. Hannes durchströmte ein schlechtes Gewissen.
Doch die Neugier siegte und brach den Widerstand, der sich aufgrund aller Informationen aufgebaut hatte. Sie mussten wissen, was vor sich ging und wer wusste das besser als Rex Väter, so sie denn seine Väter waren und nicht seine Entführer.
Avery trabte verunsichert hinterher. Er verstand nichts. In seinen Adern pulsierte die reine nackte Angst. Die letzte Reise verschlief er schwer verletzt, sodass er keine reale Erinnerung an eine Zeitreise hatte.
Punkt 10.25 Uhr standen Hannes, Avery und Rex vor Transportraum 23. Avery war blass und wirkte mit seinen zusammengekniffenen Augen so unsicher, als fürchte er einen Angriff einer ganzen Horde wildgewordener Normannen.
Die Tür öffnete sich mit einem Zischen. Das Geräusch allein versetzte den Earl in den Panikmodus und er trat drei Schritt rückwärts.
Montgomery sowie Scott traten heraus. Sie griffen jeder eine Hand ihres Sohnes Rex und deuteten eine zarte Verbeugung in Richtung des Earls an, um ihm ihren Respekt zu zeigen. Ein lautes Aufatmen Averys lockerte seine verkrampften Gesichtszüge und er kam wieder näher. Offenbar planten die Herren keinen Hinterhalt und irgendwie kamen sie ihm auch bekannt vor, als hätte er sie schon einmal zu Gesicht bekommen. In einer anderen Zeit, in einem anderen Leben.
Scott begann zuerst mit einer Begrüßung aller drei jungen Männer und wandte sich dann an seinen Ziehsohn.
»Rex, du weißt, du bist 32 Jahre alt und wir haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass du adoptiert wurdest. In Liebe hast du gelebt und in Liebe und Vertrauen bist du aufgewachsen. Wir bitten dich also zuallererst darum, uns auch weiterhin zu vertrauen. Wir haben dich nie belogen. Du wurdest im Alter von 6 Jahren adoptiert, das ist nicht neu. Wir haben dich nicht entführt, falls das eure Gedanken gestern waren. Hannes, wir verstehen deine Neugier und deinen Wunsch, Rex zu schützen. Ihr gehört seit 20 Jahren zusammen wie Brüder. Bitte vertrau uns und höre zu. Wir werden euch alles erklären und nichts ist so, wie es scheint.« Scott sah Hannes so liebevoll an, dass der aufgebaute Widerstand in seinem Inneren zusammenfiel.
»Auf deine Frage nach deinen leiblichen Eltern, Rex, die du uns im Alter von 13 Jahren das erste Mal stelltest, konnten wir souverän antworten, dass alle deine Anverwandten bereits verstorben sind. Das war ebenfalls die reine Wahrheit. Aufgrund der Recherchen der letzten Tage wirst du das verstehen und in die richtigen Relationen setzen können«, setzte Montgomery an. »Diese Informationen reichten dir. Die nunmehr übliche Angabe des Geburtsortes mit dem Planeten/Planetensystem spielte uns in die Hände, denn du Rex bist auf der Erde geboren, genau wie Hannes und auch Avery. Auch das ist überall nachzulesen.«
»Aber, warum steht da überall Sperrvermerk und warum gibt es sogar ein Todesdatum, obwohl es gesperrt ist?«. Rex seufzte abgrundtief und dieses Geräusch sagte alles über seinen Gemütszustand.
Drei Paar Augen, verwirrt und immer noch mit einer Spur Misstrauen, schauten auf die Richter.
Bisher schien alles logisch in die Kette der frühkindlichen Erinnerungen zu passen und doch richteten sich die feinen Härchen auf den Armen aller fünf Männer in diesem Raum auf. Die Spannung schien wie Gelee über den Herzen zu liegen. Das Atmen fiel allen schwer ob zu erwartender Offenbarungen.
Die beiden Richter zogen die an den Wänden stehenden Stühle zusammen und baten mit einer Geste alle Anwesenden, Platz zu nehmen. Hannes, Rex und Avery sanken auf die Stühle, die Sitzhaltung zeigte Aufmerksamkeit und dennoch Anspannung, als würde die Last von Jahrhunderten auf ihren Rücken liegen.
Montgomery übernahm das Wort. »Alles, was hier in diesem Raum gesagt wird, unterliegt strengster Geheimhaltung und ich bitte euch, euch daran zu halten. Es hängen mehr Menschenleben daran, als ihr euch vorstellen könnt.« Er drehte sich seitlich: »Computer, Sprach- und Bildaufzeichnung dieses Raumes stoppen, letzte zehn Minuten löschen, keine Aufzeichnung speichern.«
»Rex«, Montgomery klang aufgeregt und besorgt, »Rex, mein Sohn, schau mich an. Zuerst das Wichtigste. Wir lieben dich. Wir wollten immer Kinder, aber nicht so, wie wir dich fanden . Und doch nahmen wir das Schicksal an und nahmen es als Wink des Himmels. Wir lieben dich und du bist das Beste, was uns je passiert ist, wenn auch nicht auf dem besten Weg. Also«, er räusperte sich.
Als sich Richter Douglas der Aufmerksamkeit der Anwesenden sicher war, fuhr er fort: »Rex, du wurdest am 02.07. 1358 als Robert Douglas, 3. Earl von Douglas auf Schloss Stirling geboren. Genau vier Jahre vor deinem Bruder Cedric, dessen Tod wir 1388 nicht verhindern konnten und genau acht Jahre vor deinem jüngsten Bruder Avery.« Dabei blickte er Avery, gesund und munter vor ihm stehend, liebevoll an.
»Robert, oder Rex, wie wir dich nannten, du wurdest Zeuge bei einer der größten Strafvollstreckungen gegen Wissenschaftler der Purity, die es jemals gab.«
Rex, Hannes und Avery sahen sich an und als geschähe es automatisch, nahmen alle drei die Hand eines anderen. Als bildeten sie eine Einheit, einen kleinen Dreierkreis.
»Sprich Vater«, krächzte Rex leise, und setzte fort, »ich hatte eine großartige Kindheit, habe Bildung genossen und führe ein privilegiertes Leben mit Bildung und ohne Geldsorgen. Ich liebe euch und nichts wird mich davon abbringen. Aber nun bitte ich doch um die Wahrheit und am besten in allen Einzelheiten.«
Scott stand auf, kam näher und zog Rex in den Arm. Anschließend strich er Avery und Hannes mit den Händen über die Wangen und sagte: »Wir können es uns ansehen, das wisst ihr. Wir reisen zu jenem schicksalhaften Tag am 27.7.1363 zurück. Wir müssen vorsichtig sein. Versprecht mir, euch an die Anweisungen zu halten. Wir bleiben außer Sicht, halten uns ruhig, rechts am Gebüsch und keinen Mucks, es ist lebensgefährlich. Ich weiß, dass es funktionieren wird, weil es schon funktioniert hat, es schon geschehen ist, versteht ihr? Zeit ist relativ, der Tod ist es nicht, bedenkt das. Earl Avery, Ihr seht das Schloss Eurer Vorfahren, Eure Mutter und Euren Vater. Bitte denkt daran, es geschah vor Eurer Zeit. Sollten sie Euch sehen oder erkennen, wäret Ihr der Feind und sie würden Euch töten. Bisher seid Ihr nicht geboren.« Scott verneigte sich kurz erneut.
Avery, bisher still und bei der Berührung an der Wange zusammengezuckt, schnappte hörbar nach Luft.
»Sir, nach dem was ich eben gehört habe, bin ich nicht der Earl, sondern Robert oder Rex ist der rechtmäßige Thronfolger, bitte nennt mich bei meinem Vornamen und lasst die Titel weg. Ich bin Avery, nur Avery«, sprach er leise und doch mit einer Vehemenz eines echten Earls.
Er sprang auf die Füße, lief hin und her, als würde ihn eine noch viel gewaltigere Frage quälten. Dann sank er zurück auf den Stuhl, atmete tief ein und aus, sah von Montgomery zu Scott und wieder zurück. Ein Schaudern zog über ihn, ein zartes Zittern und ein gequälter Laut drang aus seinem Mund.
Scott beobachtete das mit Argusaugen. Dann trat er näher, legte seine Hand auf Averys Schulter und sagte leise: »Sprich es aus, was quält dich so?«
Avery wrang die Hände und sah so verzweifelt aus, dass Montgomery das Wort ergriff. »Du bist verwirrt Avery, weil Rex zwei Väter hat, ist das richtig? In Stirling gilt der Grundsatz der Bibel, dass ein Mann nicht bei einem Mann liegen soll, wie bei einer Frau. Ist es das, was dir Sorgen macht?«
Avery nickte.
Montgomery sah ihn genau an. Er erkannte, dass es ein Grund seiner Verunsicherung war, aber da war noch mehr.
»Aber die Bibel?«, stotterte er.
»Oh Mann«, stöhnte Scott auf. »Was die religiösen Fanatiker des Mittelalters an Mist erzählten, unglaublich.«
Indem ergriff Hannes leise das Wort: »Avery, es ist nichts falsch daran. Es ist schwer für dich, das zu akzeptieren, aber seit mehr als tausend Jahren ist es normal. Das war es immer. Aber es ist jetzt akzeptiert. Was wichtig ist, ist die Liebe zwischen zwei Menschen, nicht das Geschlecht. Du bist verwirrt und verstört. Hier auf Berta in diesem Jahrhundert kennst du nichts und nichts ist, wie du es erlernt hast. Du wirst es verstehen, irgendwann.«
»Dann bin ich gar nicht krank?« Diese Frage kam unerwartet und die Männer sahen Avery an, der sich so klein machte, als erwarte er Schläge.
»Nein, nein Avery, du bist vollkommen normal. Alles ist gut. Du magst Männer?«, flüsterte Hannes.
Avery nickte und wurde rot.
»Folgt mir«, ergriff Montgomery das Wort, »wir müssen los, wenn wir noch ein paar wichtige Details klären wollen.«
So lenkte er geschickt von Averys Outing und seinem damit verbundenen Unwohlsein ab.