VII

X Beta 251074

in der Jetztzeit anno 3359

 

Das Reiseportal verlassend, sahen sich alle fünf in die Augen.

»Wir müssen reden«, flüsterte Rex, nicht in der Lage, seine Gefühle und Gedanken zu sortieren.

Er war Robert, 3. und als rechtmäßiger Nachfolger Montis auch 60. Earl of Stirling und der rechtmäßige Erbe Alistairs. Ein Zeitreisender, der von seinem Erzeuger getötet werden sollte. Das Wort Vater verdiente dieser Mann nicht. Scott und Montgomery hatten ihm das Leben gerettet. Er hatte zwei Brüder, die er kennenlernen könnte. Einer war an seiner Seite.

Avery schien mindestens ebenso verstört, als er leise zu sprechen begann: »Er war nie liebevoll und sanft. Er war laut und bösartig, verletzend und gefährlich. Robert hat er nie erwähnt. Was ich von Robert wusste, entnahm ich den Chroniken von Stirling. Meine Mutter«, er räusperte sich, »unsere Mutter hatte ein Gemälde von Robert.«

»Ja, das hat sie anfertigen lassen nach einem Bild des Jungen, was wir ihr haben zukommen lassen. Sie hat alle ihre Söhne sehr geliebt«, sagte Scott leise.

»Es gibt Aufzeichnungen«, Avery sprach leise. »Hätte der Geschichtsschreiber nicht Notizen über die Geburt und sein plötzliches Verschwinden in die Bücher gekritzelt … Oh dieser Bastard von einem Vater«, echauffierte er sich.

Dann drehte er sich um und sah Rex an. Nur wenige Sekunden vergingen und er sank in eine tiefe Verbeugung vor Rex und leise Worte drangen herüber.

»Rex, Robert, rechtmäßiger Earl of Stirling, bitte erweist mir die Ehre einer Umarmung«.

Rex starrte ihn an. Was sollte das denn, wieso fragt man vor einer Umarmung? Laut sagte er: »Selbstverständlich Laird Avery« und riss den jungen Mann vor sich fest an seine Brust.

Minuten zogen sich wie Stunden und ein Räuspern trennte die Brüder.

»Jungs, ich brauch was zu essen und einen ordentlichen Schluck Whisky. Himmelherrgott, das überfordert selbst mein Hirn.« Hannes lachte und schlug erst Avery und dann Rex kurz auf die Schulter. »Wir brauchen einen Plan, erst mal essen, dann reden wir in der Bibliothek. Gehen wir zurück und bauen Stirling wieder auf? Errichten wir ein Imperium unter Leitung von euch Brüdern? Oder vergessen wir die ganze Sache und tun so, als wäre es nie passiert?«

 

Bibliothek auf X Beta 251074

 

Die drei jungen Männer Hannes, Rex und Avery saßen zusammen. Rex hielt die Hand seines Bruders und die Hand seines besten Freundes.

Alsbald betraten auch Scott und Montgomery die Räume. Montgomery hielt einen Whisky und einen papiernen Aktenstapel in der Hand. Eine nie da gewesene Wärme durchströmte Rex, eine Gewissheit, dass egal was geschehen würde, er sich der Unterstützung seiner Familie sicher sein konnte.

»Könnte ich denn zurückkehren?«, fragte Avery als Erster leise in den Raum. »Ich bin tot. Verbrannt«, flüsterte er.

»Nun eigentlich steht seit dem Brand von deinem Schicksal in diesem Buch nichts mehr geschrieben. Es könnte sein, dass du überlebt hast?«, antwortete Scott.

Ein Gedanke überzog Rex’ Gesicht mit einem Schatten.

»Was wäre, wenn wir alle zurückkehren würden, zum Tag des Brandes und du die Herrschaft über Stirling Castle und die Ländereien behalten würdest? Ich bin zwar der rechtmäßige Earl, aber das weiß in deiner Zeit niemand. Hannes und ich könnten als befreundete Adlige an deinen Hof berufen werden und mit dir die schottischen Ländereien bewachen und den Menschen beim Wiederaufbau helfen, Was wäre, wenn …«, er räusperte sich vernehmlich.

»Ich muss euch etwas sagen«, Montgomery sah beschämt zu Boden, »oder besser zeigen.«

Er stand auf und reichte Rex einige Seiten Papier und ein zweites kleines Buch.

»Am Abend in der Bibliothek, als ihr eure Ähnlichkeit festgestellt habt, hatte ich kurz zuvor Scott geschickt, dieses Buch aus der verschlossenen Abteilung zu entfernen, in der Hoffnung, die Geschehnisse noch aufhalten zu können. Ich hatte solche Angst um euch.« Er seufzte abgrundtief. »Ich habe recherchiert, tiefer und gründlicher. Wir waren auf vielen Missionen, oft auf Stirling zu Besuch und …«, er brach ab und räusperte sich, bevor er nach Scotts Hand griff und weitersprach. »Rex, du liebst das Buch um die Burg Stirling, deine Mittelaltergeschichte, die du jahrelang gelesen hast.«

Monti setzte das Wort »Mittelaltergeschichte« in imaginäre Anführungszeichen.

»Die Geschichte, die dich immer wieder in einen tiefen Bann zog, ist deine Geschichte. Es fehlt die Seite nach dem Titel«, sagte er leise, nahm ein Stück Papier und reichte es Rex.

Er blickte scheu zu Scott und immer zwischen den drei jungen Männern hin und her.

Rex las »The Ruler of Stirling Castle« by Robert Rex Douglas, Earl of Stirling.

»Warum?« Rex wusste kaum, wie ihm geschah. So viele Fragen stürmten auf ihn ein, keine konnte er formulieren. Nur ein »Warum?«, verließ seine Lippen.

Montgomery setzte sich neben Rex und nahm seine Hand. Er blickte ihn an und sah dann zu Avery.

»Zuerst einmal habe ich deine Akten, Avery, gesperrt, weil ich dein Todesdatum genau kenne.« Montgomery sah betreten zu Boden.

Avery schrak auf und überlegte fieberhaft, ob er das wissen wollte, denn er fühlte sich bei bester Gesundheit und dachte noch lange nicht ans Sterben. Schließlich hatte Rex ihn gerade erst den Flammen entrissen.

Der Richter Douglas deutete auf den Tisch. »Sieh selbst.«

Avery griff nach den eilig sortierten Informationen und las. Die Zeit zog sich wie Kaugummi und Rex war einem Nervenzusammenbruch nah, als Averys Mundwinkel zuckten und sich ein wunderschönes Lächeln auf seinen bärtigen Zügen ausbreite.

»So alt werde ich? Das ist wunderbar. Aber warte, hier steht verstorben 1470 in Edinburgh? Wie geht das?«

Er lachte, rieb sich die Hände und stand auf.

Dann begann er in der Bibliothek hin und her zu laufen und sinnierte: »Hundertzwei Jahre, stolzes Alter, damit kann ich gut leben. Aber wo seid ihr und wieso Edinburgh?«

Er sah von einem Richter zu anderen.

»Auch dazu habe ich was gefunden in den Analen des genialen Geschichtenschreibers der Burg Stirling Castle. Aber zuerst blickt bitte hier auf das Buch.« Montgomery reichte das zerfledderte Papier direkt an Rex.

Hannes und Avery reckten die Hälse, um besser sehen zu können, was Montgomery meinte. Beide zischten laut auf, als sie verstanden, warum dieses Buch weggeschlossen worden war. Dieses Buch schien eine Fortsetzung des Lieblingsromanes von Rex zu sein.

Es hieß The Grace of Time by Robert Rex Douglas .

»Die Gnade der Zeit«, flüstere Rex.

»Die Zeit war gnädig zu mir, schenkte mir ein besseres Leben, ich konnte lernen und verstehen und habe zwei wundervolle Väter. Ich konnte meinen Bruder kennenlernen und durch die Zeit hindurch reisen und …«, er brach ab und sah liebevoll auf die beiden älteren Herren vor sich.

Er legte eine freie Hand auf die verschränkten Hände seiner Väter und lauschte.

Scott übernahm das Wort: »Rex, mein Sohn, du bist wie du dem Autorensignum der Bücher entnehmen kannst, der Chronist der Burg Stirling. Über mehr als 50 Jahre lang hast du viele Schriften verfasst, Zeitdokumente erstellt und, wenn wir bei euch waren oder ihr uns hier auf der Station oder auf der Erde besucht habt, mit einem Handscanner auch digitalisiert. Du hast viel erreicht und bewegt. Du hast die Geschichte verändert …« Er brach ab und drückte gerührt die Hand seines Sohnes.

»Lies das Buch …«, verlangte Monti.

»Und lies es laut vor«, verlangte Hannes im gleichen Ton.

 

The Grace of time by Robert Rex Douglas

Bruder des 3. Earl of Stirling Avery Douglas

Chroniken anno 1410- 1460

 

- Vorwort-

 

»In einer Zeit der Kriege und Krisen trat ein Mann an die Spitze der Ländereien Stirling, dessen Güte und Gerechtigkeit keine Grenzen kannte. Er lehrte die Menschen das Lesen und Schreiben, forschte in vielen Wissenschaften und galt als großer Diplomat. Nach dem verheerenden Brand 1392 baute er unermüdlich Schloss und Ländereien auf.

Seine getreuen Mannen, allen voran Hannes von Stirling, Laird of Stirling Wood und Zeit seines langen Lebens treuer Gefährte des Earls sowie sein Geschichtsschreiber und lange vermisster Bruder Rex Douglas nebst seiner geliebten Gattin Aileen und den vier gemeinsamen Kindern Magret, Alai, Montgomery jun. sowie Scott jun. wichen nicht von seiner Seite.

Avery, dem keine Kinder geschenkt wurden, übergab die Würde des 4. Earls of Stirling an seinen Neffen Alai of Douglas, den er Zeit seines Lebens als rechtmäßigen Thronerben anerkannte. Avery war von großer Statur und Sanftmut. Er war ein gerechter Herrscher über die Ländereien der Lowlands. Viele Earls und Lairds, des Kämpfens müde, schlossen sich unter seiner Führung zusammen, auf dass Frieden herrschte.

Scott jun., Verfechter der beginnenden modernen Medizin übernahm die Heilung und Pflege der Kranken und Verwundeten. Ihm wird der erste Operationssaal des Mittelalters zugeschrieben.

Die Beratung in psychologischen Belangen übernahm Lady Magret of Douglas, die die Ladies Schottlands lehrte, diplomatisch und zu keiner Zeit respektlos und doch sehr überzeugend den Willen der adligen Herren in friedvolle Bahnen zu lenken.

Montgomery jun. wurde abberufen und diente in der belgischen Exklave Den Haag als Richter.

Dieses Buch umfasst ihre Geschichten.«

 

Rex stockte, schluckte, klappte das Buch zu und sagte vernehmlich: »NEIN, diese Zukunft ist noch nicht geschrieben, obwohl vergangen. Wir wissen um unsere Entscheidung, wir wissen um unser Sein und unsere Aufgaben. Und ich weiß, dass ich mein Leben, ein langes und, wie mir scheint, erfülltes, gesundes Leben voller Liebe an eurer Seite verbringen darf. Mehr muss ich nicht wissen, denn das ist alles, was ich mir für die Zukunft wünschen kann. Avery, Hannes, lasst uns Vorkehrungen treffen und nach Hause gehen. Wir haben Ländereien zu verwalten, haben Menschen zu lehren, ihnen zu helfen, sie zu heilen. Packt Material zusammen, Lehrbücher, Medizin, und vor allem irgendeine Technik gegen diese unsäglichen Klos auf der Burg.«

Avery lachte laut los. »Solch Popofön wäre mir dort willkommen. Vielleicht könnten wir auch über eine Dusche reden und eine solche installieren und in die Gesellschaft integrieren? Fließendes Wasser wäre eine wundervolle Sache. Helft Ihr mir dabei, Ihr edlen Herren?« Er blickte Hannes an.

Ein Lachen überzog Hannes Gesicht. »Na das klingt doch nach einem neuen wunderbaren Leben. So viele Abenteuer sind zu bestehen. Wir können so viel verbessern in dieser Zeit. Da wir offenbar alle sehr alt werden, scheinen wir die Verbindung zur Station Berta zu halten?«

Er blickte Montgomery und danach Scott an. Beide lächelten und nickten. »Ihr seid hier willkommen, wann immer ihr die Annehmlichkeiten unserer Zeit oder jede Art von Hilfe braucht. Wir geben euch einen Kommunikator mit, der euch Portale öffnet. Wir bitten lediglich darum«, er sah Avery und Rex an, »dass ihr Leuten der Purity niemals nachgebt und die Strafkolonie aufrechterhaltet. Sie dürfen nie erfahren, dass unsere Zeitalter so eng verbunden sind.«

Avery und Rex nickten gleichzeitig, während Hannes verschmitzt zu Avery schielte.

Er grinste.

»Avery, Euer Lordschaft« Hannes zappelte ein wenig herum. Er atmete tief durch. »Jetzt wo in dem Geschichtsbuch steht, das ich der Laird an deiner Seite sein werde und, und … ich meine, die Geschichte sagt ja, es ist schon passiert, hättest Du vielleicht Lust, also …« Er wurde rot wie eine Tomate.

Rex fiel Hannes ins Wort: »Nun frag Eure Lordschaft schon nach einem Date, so schwer kann das doch nicht sein, Hannes.«

Hannes nickte und krächzte: »Ja, also Avery, würdest du mit mir ausgehen?«

Averys Augen wurden groß und größer und er zeigte eine sanfte Röte, die seinen Hals hinaufkroch.

»Und hier ist es wirklich kein Problem, wenn zwei Männer?« Er sah Rex um Erlaubnis heischend an.

Rex brummte. »Nö, kein Problem, vollkommen normal«.

»Na dann, würdet Ihr, Hannes von Tarmin, zukünftiger Laird of Stirling Wood, mir die Ehre erweisen, und mich zum Essen begleiten?« Er hielt Hannes die offene Hand entgegen, die dieser sofort ergriff.

»Mit reinem Vergnügen, Euer Lordschaft«, flüsterte Hannes und sah dabei sehr zufrieden aus.

Rex drehte sich um und verließ nach Montgomery und Scott die Bibliothek, um Reisevorbereitungen zu treffen. Auf seinem Gesicht lag eine Zufriedenheit, eine Zuversicht, dass alles gut werden würde.

Besser als gut, mit seinen Lieben an seiner Seite.