NEUN

(Alec)

 

Mit gemischten Gefühlen betrachte ich das kleine blonde Mädchen, das mit meiner Haushälterin Paula im Garten sitzt und die Blumen bewundert, die Dank der speziellen Fähigkeiten der Waldnymphe in der sonst eher grauen und dreckigen Stadt prächtig gedeihen.

Graveswell hat seinen Namen nicht von ungefähr. Die Gegend war von jeher kein Paradies. Wenn es hier keine wertvollen Rohstoffe gäbe, hätten sich wohl niemals Menschen angesiedelt.

Spezielle Beschichtungen auf den Fenstern meines Domizils lassen Licht hinein, filtern jedoch die für mich tödliche Strahlung heraus. So kann ich auch tagsüber nach draußen sehen, was manchmal eine echte Wohltat ist, besonders wenn mich düstere Gedanken plagen. Seit einigen Jahrhunderten gehört mein Leben der Nacht. Ich habe so vieles kommen und gehen gesehen. Jede Zeit hatte Gutes und Schlechtes, doch die aktuelle Lage beunruhigt mich.

Heather hat ihre Entführung erstaunlich gut verkraftet. Obwohl sie noch ein Kind ist, habe ich ihr reinen Wein eingeschenkt. Ich halte nichts von Lügen, und die harte Realität macht auch vor dem Nachwuchs nicht halt, wie die verdammten ‚Priests‘ gerade beweisen.

Zuerst hatte Heather Angst, schließlich ist sie an einem fremden Ort mit Wesen, die die meisten Menschen als Ungeheuer bezeichnen. Wie vorausgesehen war es die sanfte und lebenslustige Paula, der es gelang, das Eis zu brechen. Ihrem natürlichen Charme hat noch niemand widerstehen können.

Als die Kleine nun lacht, spüre ich ein leichtes Ziehen in der Brust. Es ist sehr lange her, dass ich so ein Geräusch gehört oder auch nur gesehen habe, wie Xenos und Menschen friedlich beieinander sitzen.

Warum kann es nicht immer so sein? Sind wir alle zu blind, um zu erkennen, dass wir im Grunde dasselbe wollen?

Aus tiefstem Herzen hoffe ich, dass die Familien von Mary, Zoe und Emma ihre Kinder auch bald wieder lachen hören und sie in die Arme schließen können. Als Heather und Paula zurück ins Wohnzimmer kommen, will ich mich diskret zurückziehen. Ich weiß, dass das Mädchen sich vor mir fürchtet, und möchte die fröhliche Stimmung nicht verderben.

»Alec! Ist alles gut? Brauchst du etwas?«, fragt Paula, bevor ich verschwinden kann.

Ich drehe mich zu ihr um und lächle sie an. »Nein, alles gut. Ich finde gerade nur einfach keine Ruhe.«

Die Nymphe seufzt. »Das verstehe ich. Ich muss auch ständig an die Kinder denken.«

Heather blickt ängstlich zu mir und versteckt sich halb hinter Paula.

»Die Hoffnung stirbt zuletzt«, sage ich so zuversichtlich wie möglich. »Ich lasse euch jetzt allein. Denkt bitte daran, dass ihr euch nicht außerhalb des Grundstücks aufhaltet.«

»Natürlich.« Paula nickt ernst. »Wenn du Gesellschaft brauchst, dann sag Bescheid.«

»Das mache ich«, antworte ich, obwohl ich nicht vorhabe, die beiden zu stören.

Die Unruhe in mir würde sich auf sie übertragen und die Fortschritte zunichtemachen. Ich winke zum Abschied und begebe mich in meine Räumlichkeiten im Keller. Auf dem Weg dorthin lausche ich dem Gespräch von Paula und unserem Gast.

»Hey, Heather. Ist alles gut?«

»Ja, ich fürchte mich nur vor Mister Black«, höre ich die zaghafte Stimme des Mädchens.

»Ach, das brauchst du nicht, Mäuschen. Alec ist nicht böse. Tatsächlich passt er auf alle hier auf und sorgt dafür, dass es uns gut geht.«

»Aber er hat mich meinen Eltern weggenommen.«

Ich zucke getroffen zusammen und bleibe stehen. Kinder für die eigenen Zwecke zu missbrauchen, ist echt mies. Doch in meiner Wut war mir das egal. Nun muss ich mit dem schlechten Gewissen leben und kann nur hoffen, dass meine Tat den ganzen Konflikt nicht noch anheizt.

Paula seufzt. »Das war nicht in Ordnung und dessen ist er sich auch bewusst. Allerdings möchte er damit nur erreichen, dass die Menschen uns helfen, unsere vermissten Mädchen zu finden. Im Moment haben wir leider keine andere Wahl, als dich hier zu behalten. Doch Alec würde dir niemals wehtun.«

»Aber er ist doch ein Vampir, und die fressen Menschen.«

Während ich die Fäuste balle, höre ich, wie die Nymphe lacht.

»Oh je. Wer hat dir denn diesen Quatsch erzählt? Vampire ernähren sich von menschlichem Blut. Das tut aber nicht weh und heutzutage können sie das über Konserven oder mittels Blutwirten tun. Letztere sind Menschen, die gebissen werden wollen.«

»Mhm. So klingt es gar nicht mehr so schlimm.« Heather klingt nachdenklich. »Die Erwachsenen sagen aber immer etwas anderes.«

»Manchmal erzählen auch Erwachsene Unsinn. Die meisten Menschen haben sich nie die Mühe gemacht, mit uns Xenos zu reden. Sie fürchten sich vor uns, weil wir uns in manchen Dingen von ihnen unterscheiden. Aber im Grunde möchten wir einfach nur in Frieden leben und keine Angst um unsere Familien haben müssen. Ob jemand gut oder böse ist, entscheiden die Taten, nicht die Zuordnung zu Xeno oder Mensch.«

»Also dich mag ich, obwohl du ein Xeno bist«, verkündet das Kind.

»Ich mag dich auch, Maus. Vielleicht darfst du mich ja besuchen kommen, wenn das hier vorbei ist.«

»Das wäre schön! Ich liebe deinen Garten.«

Ich atme einmal tief durch, bevor ich meine verkrampften Hände öffne. Natürlich kenne ich die Vorurteile und Gerüchte, die über Xenos verbreitet werden. Sie aus dem Mund eines Kindes zu hören, erschreckt mich trotzdem. Wenn die Menschen ihren Nachwuchs mit derlei Lügen füttern, dann sieht die Zukunft sehr düster aus.

Frustriert laufe ich zu meinem Schlafzimmer und lasse mich auf das große Bett fallen. Meistens schlafe ich allein, nur selten nehme ich jemanden mit her, so gut wie nie Menschen, denn ihnen mein Versteck zu verraten, wäre fahrlässig. Wenn mich doch einmal der Drang überkommt, dann lösche ich ihre Erinnerung an diesen Ort. Sicher ist sicher.

Leise seufzend streife ich mir die Schuhe von den Füßen und verschränke die Hände hinter dem Kopf. Es frustriert mich, dass ich im Falle der entführten Mädchen nicht mehr tun kann, als zu warten. Matt ist ein äußerst fähiger Mann und mit der Unterstützung von Sergeant McGee sollten sich unsere Chancen deutlich erhöhen.

Sofort taucht das Bild des attraktiven Menschen vor meinem geistigen Auge auf. Ich habe es genossen, ihn unter mir liegen zu haben und in Besitz zu nehmen – viel zu sehr. Allein bei dem Gedanken daran durchfließt mich eine Welle der Erregung.

Vielleicht sollte ich ihm heute Nacht einen Besuch abstatten oder ihn zu mir ins Red Moon beordern. Ein bisschen Ablenkung würde mir guttun.

Sex ist ein wunderbares Ventil. Währenddessen kann ich wenigstens mal kurz die Verantwortung vergessen, die ich für so viele Lebewesen trage. Ich könnte ein schlechtes Gewissen haben, weil ich mich nach Zerstreuung sehne, doch ich finde, ein vergnügliches Stelldichein mit dem süßen Cop ist eine gute Alternative zu einem Blutbad. Während ich noch überlege, was ich diesmal mit Josh anstelle, drifte ich langsam in den ersehnten Schlaf.

Vielleicht habe ich Glück und wenn ich aufwache, sind die Kinder wieder da. Ein bisschen Träumen ist schließlich auch mir erlaubt.