ZEHN

(Josh)

 

»Dort!«

Matts Rufen lässt mich innehalten. Sofort stoppe ich die Aufnahme und jetzt springt auch die Gesichtserkennung an. Ich zoome in die Videoaufzeichnung hinein und tatsächlich sind darauf die drei vermissten Mädchen zu sehen. Die Aufnahme läuft weiter und wir verfolgen, wie die Kinder ein Eis essen, im Buchladen stöbern und sich schließlich ein paar Süßigkeiten kaufen.

»Sieht aus, als würden sie gehen wollen«, murmle ich.

Als sie zum Ausgang streben, tritt ihnen plötzlich jemand in den Weg. Matt und ich sehen uns an.

»Der Ladendetektiv?«, frage ich irritiert.

»Ein rassistisches Arschloch wohl eher«, antwortet er ungehalten. »Die Mädchen haben nichts Verbotenes gemacht.«

Wir lassen das Video weiterlaufen. Tatsächlich zeigen die Mädchen ihre Taschen und Rucksäcke vor, doch das scheint nicht zu genügen. Plötzlich kommen noch zwei weitere Sicherheitsleute und wollen sie abführen. Die Mädchen wehren sich gegen diese miese Behandlung. Doch sie werden mitgezerrt und verschwinden aus dem Bild.

»Das kann doch wohl nicht wahr sein!«, sage ich entsetzt.

»Doch«, kontert Matt wütend. Seine grünen Augen glühen förmlich und ich frage mich unwillkürlich, was für ein Wesen er ist. »So etwas kommt sehr oft vor. Sobald Menschen mitbekommen, dass Xenos unter ihnen sind, werden Anschuldigungen erfunden oder es wird beleidigt. Und natürlich hat niemand etwas gesehen.«

»Das muss sich ändern.«

Müde fahre ich mir mit den Händen über das Gesicht. Die kurze Nacht rächt sich und diese ganzen Anfeindungen schlagen mir aufs Gemüt. Gegessen habe ich auch noch nichts, was meine Konzentration nicht unbedingt verbessert. Allerdings haben wir jetzt zumindest einen Ansatzpunkt und jemanden, den wir in den Arsch treten können.

»Wir knöpfen uns diese Securityleute vor und dann das Management des Einkaufszentrums. So ein Verhalten darf nicht geduldet werden.«

Während ich das sage, ist Matt schon dabei, die Aufnahmen soweit heranzuzoomen, dass man Gesichter erkennen kann. Als er nacheinander auf die Köpfe der Mistkerle tippt, die die Mädchen bedrängt haben, poppen Namen und Adressen auf.

Wir rufen den Rest des Teams zusammen und berichten. Dann werden die Aufgaben verteilt. Die Personalien der Verdächtigen werden überprüft und deren Infos an alle weitergeleitet. Ein paar Leute sichten das restliche Videomaterial.

Matt und ich ziehen unsere Jacken über, schnappen uns die Ausrüstung und fahren zurück zum Einkaufszentrum. Diesmal begleiten uns Bruno, Lars, der Werwolf mit den langen blonden Haaren, und Saskia, eine IT-Fachfrau aus meinen Reihen.

Während wir durch die Räume nach draußen gehen, herrscht emsiges Treiben. Zähneknirschend hatte der Chief meine Forderung erfüllt, sodass die Baracke mittlerweile gut besucht ist und ein paar meiner Kollegen mitarbeiten. Erst hielten die Cops Abstand und beäugten die Fremden misstrauisch, doch das hat sich im Laufe des Tages verändert. Tatsächlich vermischen sich Menschen und Xenos immer mehr, denn das gemeinsame Ziel, die Mädchen aufzuspüren, schweißt offenbar zusammen.

Ich bin froh, dass sich die anfänglich eher feindselige Stimmung deutlich gewandelt hat. Wenn wir uns gegenseitig die Köpfe einschlagen, ist niemandem geholfen.

»Denkst du, diese Leute gehören zu den ‚Priests‘?«, erkundigt Saskia sich und tippt auf ihrem Tablet herum.

Über ihrem linken Auge sitzt eine Art bionische Brille, die dazu beträgt, dass die zarte Blondine innerhalb kürzester Zeit Daten sichten und Codes knacken kann. Ich bin sehr froh, dass sie dem Team freiwillig beigetreten ist, denn ohne Saskia wäre es noch schwieriger, die Kinder in der riesigen Stadt zu finden.

Wir sind unterwegs zum Einkaufszentrum und haben die nötigen Haftbefehle in der Tasche. Allein das war ein Kampf und uns steht noch jede Menge Arbeit bevor.

»Es würde mich wundern, wenn nicht«, antworte ich. »Bei Diebstahl hätten sie die Eltern und die Polizei benachrichtigen müssen. Da das nicht passiert ist und die Kinder verschwunden sind, haben sie auf jeden Fall Dreck am Stecken.«

Gedankenverloren blicke ich nach draußen. Es ist ein sonniger Tag, doch trotzdem scheint ein düsterer Schatten über Graveswell zu liegen.

»Vampire sind die einzigen, die Gedanken lesen können, oder?«, frage ich die Xenos.

»Ja.« Matt nickt. »Ich kann Lügen aber recht gut erkennen. Falls wir nicht weiterkommen, können wir Alec bitten, sich ihrer anzunehmen.«

Unwillkürlich läuft mir ein heiß-kalter Schauer über den Rücken. Nach dem, was letzte Nacht zwischen mir und dem Vampir geschehen ist, bin ich nicht gerade erpicht darauf, ihm schon wieder gegenübertreten zu müssen.

»Hoffen wir, dass es nicht nötig sein wird. Je eher wir die Mädchen finden, desto besser.«

 

 

»Ich wiederhole mich nur ungern, von daher sollten Sie die Frage besser beim ersten Mal beantworten. Wo sind die Mädchen?«

Der schmierige Typ, der mir gegenüber im Verhörraum sitzt, grinst selbstsicher. »Das wüsstet ihr gern, was?«

Ein gefährliches Knurren ertönt hinter mir. Ich werfe nur einen kurzen Blick über meine Schulter zu Bruno. Der Hüne steht neben der Tür und hat die Hände zu Fäusten geballt.

»Hast deine Schoßhündchen wohl nicht unter Kontrolle, du Xenokuschler?«, höhnt das Arschloch.

Ich ziehe nur eine Augenbraue in die Höhe. »Für Sie immer noch Sergeant McGee, Mister Cox.«

Scheinbar gelassen verschränke ich die Arme vor der Brust und lehnte mich auf dem ungemütlichen Metallstuhl zurück.

»Ich würde behaupten, dass sich alle anwesenden Polizeikräfte sehr gut unter Kontrolle haben, schließlich wurde Ihre hässliche Visage noch nicht verschönert. So ein blaues Auge würde Sie optisch wirklich aufwerten.«

»Wollen Sie mir etwa Gewalt androhen?«, entrüstet er sich.

Ich lächle. »Wie kommen Sie denn auf diese absurde Idee? Das war einfach eine Feststellung von Tatsachen. Im Gegensatz zu den ‚Priests‘ verhalten die Xenos sich doch überwiegend moralisch einwandfrei. Zumindest ist mir noch nicht zu Ohren gekommen, dass von ihnen junge Menschenmädchen im Einkaufszentrum belästigt und dann entführt worden wären. Den Aufschrei in den Medien hätte ich unmöglich verpassen können.«

»Pah! Dieses weichgespülte Gelaber erträgt doch ohnehin kein vernünftiger Mensch«, ereifert der Widerling sich. »Warum wird denn nicht von den Verbrechen der Xenos berichtet? Vampire fallen über Ahnungslose her. Sukkuben stehlen unsere Kinder, um sie durch ihre eigenen dämonischen Bälger zu ersetzen. Werwölfe vergewaltigen unsere Frauen oder nehmen uns unsere Arbeitsplätze weg!« Bei diesen Worten tritt ein fanatischer Glanz in die Augen des Verdächtigen. »Es herrscht Krieg zwischen Menschen und Xenos. Nur redet niemand darüber. Wir sorgen dafür, dass diese Bestien für ihre Missetaten zur Rechenschaft gezogen werden.« Er schaut mich verächtlich an. »Und ihre Marionetten gleich mit.«

»Interessant, dass mir derlei ‚Missetaten‘ unbekannt sind«, sage ich gespielt erstaunt. »Woran könnte das nur liegen?«

Mit gerunzelter Stirn blicke ich auf die verspiegelte Wand hinter dem Verdächtigen. Mir ist bewusst, dass meine Vorgesetzten mich im Auge behalten und der Ausgang dieser Geschichte sehr wohl von meinem Geschick abhängt.

Schade, dass ich mich an die Spielregeln halten muss, während die Xenophobiker fast uneingeschränkt tun können, was ihre kranke Fantasie verlangt.

Gerade würde ich es zu meinem Erstaunen nämlich überhaupt nicht schlimm finden, wenn Bruno seine Pranken um die Kehle des Verdächtigen legen würde. Oder ein gewisser Vampir einfach die Infos aus dem Verstand dieses Arschlochs herausholen würde. Dann könnten wir die Mädchen schon befreien, statt diesen lästigen Eiertanz aufzuführen und wertvolle Zeit zu verschwenden.

Urplötzlich schnelle ich nach vorn und schlage mit den Handflächen auf den Tisch. Der Verdächtige zuckt erschrocken zurück und fällt fast vom Stuhl.

»Wissen Sie, was ich überhaupt nicht leiden kann? Wenn Schwächlinge wie Sie sich an Unschuldigen vergreifen«, schnaube ich. »Ziehen die Xenos mordend und marodierend durch die Straßen? Entführen und quälen sie Menschen? Kinder? Nein!« Mein Blick geht zurück zur Scheibe. »Denken Sie mal darüber nach, wer hier die wahren Monster sind.« Ich stehe auf. »Bruno, ich glaube, in der Zelle mit den ausgehungerten Vampiren ist noch Platz. Die freuen sich sicherlich über Zuwachs. Abführen!«

Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck schreitet der Werwolf zur Tat und hievt den Verdächtigen mühelos vom Stuhl. Dieser zappelt panisch.

»Das können Sie nicht machen! Ich verlange eine Einzelzelle! Mit diesem Abschaum ...«

Mehr höre ich nicht, denn Bruno schleift ihn aus dem Raum und die Tür fällt hinter ihnen zu. Matt tritt zu mir.

»Ihr habt doch gar keine Vampire in Gewahrsam.«

»Wirklich? Da muss ich wohl etwas verwechselt haben«, antworte ich und zwinkere ihm verschmitzt zu.

Matt lacht. »Ich mag deinen Humor, McGee.«

Für einen kurzen Moment genießen wir die lockere Atmosphäre, dann werden wir wieder ernst.

»Leider hat uns die Befragung nicht wirklich weitergebracht«, seufze ich. »Ich gebe es ungern zu, aber so ein gedankenlesender Vampir wäre gerade hilfreich.«

»Lass uns erst einmal hören, was bei den anderen herausgekommen ist. Alec kann ich hinterher immer noch anrufen«, schlägt Matt vor.

»Stimmt. Wenn der Boss der Unterwelt hier auftaucht, wird der Chief definitiv keinen Freudentanz aufführen.« Ich kann mir das Drama bereits bildlich vorstellen. Am Ende würden sie noch versuchen, Alec zu verhaften. Noch etwas fällt mir ein: »Fehlt uns nicht die Zeit, um auf Sonnenuntergang zu warten?«

Mein Begleiter grinst. »Vampire vertragen kein Sonnenlicht, das stimmt. Allerdings haben sie Mittel und Wege gefunden, sich tagsüber zumindest eingeschränkt zu bewegen. Ein Treffen in der Tiefgarage wäre durchaus möglich.«

»Ah, okay.«

Matt schiebt mich nach draußen. »Jetzt solltest du dir aber auch mal eine kurze Pause gönnen und etwas essen, Josh. Deine Aura flackert.«

Verständnislos sehe ich ihn an. »Aura?«

»Erkläre ich dir gleich. Du musst Energie tanken.«

Der blonde Xeno lotst mich in ein kleines Bistro und ordert mir ein großes Schnitzel mit allem drum und dran, während er selbst sich mit einem Schinken-Sandwich begnügt.

»Was bist du eigentlich?«, frage ich zwischen zwei Bissen.

Tatsächlich spüre ich jetzt erst, wie ausgehungert ich bin. Das Essen ist köstlich und ich gestatte mir, mich für einen kurzen Moment zu entspannen.

»Wir nennen uns selbst Traumwandler. Inkubus wird dir vermutlich mehr sagen.«

Ich nicke. »Das habe ich tatsächlich schon gehört. Allerdings gibt es zu euch nicht allzu viele Informationen.«

»Das soll auch so sein.« Matt lächelt selbstbewusst. »Unser Revier ist die Traumwelt. Diese können wir nach Belieben formen und unsere Opfer durch die Hölle schicken oder den Himmel auf Erden erleben lassen.«

Auf meinen Armen bildet sich eine Gänsehaut. Bisher hatte ich angenommen, dass der schmale Xeno nicht zu den Dämonen gehört. Ein Fehler, wie das belustigte Blitzen in seinen geheimnisvoll leuchtenden Augen beweist.

»Wir ernähren uns von starken Emotionen oder zapfen uns im Diesseits etwas von der Lebensenergie anderer Wesen ab.« Genüsslich beißt er in sein Sandwich. »Deswegen sehen wir die Auren anderer Lebewesen und deren Gefühle. Ich kann gerade also sehr gut erkennen, dass dir unwohl ist.«

»Unwissenheit kann ein Segen sein«, brumme ich.

Das bringt Matt zum Lachen. »Glaub mir, das ist erst die Spitze des Eisbergs. Unsere Welt ist deutlich komplexer als ihr Menschen ahnt.«

»Offensichtlich.«

»Iss, Josh. Du wirst die Kraft brauchen.« Er zwinkert mir zu. »Außerdem wird dich ab jetzt niemand ungestraft anzapfen. Alec ist da sehr rigoros.«

Ich weiß nicht, ob mich diese Aussage erleichtert oder mehr beunruhigt. Entschlossen vertreibe ich diesen Gedanken und konzentriere mich auf meine Aufgabe.

Matt hat recht, wir haben noch einiges vor uns.

 

 

Als wir zurück in die Baracke kommen, herrscht helle Aufregung. Matt und ich sehen uns fragend an. Der Xeno tritt vor und pfeift durchdringend.

»So. Leute, was ist los?«

Saskia erhebt sich. »Möglicherweise habe ich den Aufenthaltsort herausgefunden.«

»Das ist doch großartig!«, meine ich und wundere mich über die Aufregung.

»Schon, aber ...« Betreten blickt sie zu Boden.

»Was ist es?«, frage ich und rechne mit dem Schlimmsten.

»Ich zeige es dir.« Flink tippt Saskia auf ihrem Tablet herum und kurz darauf erscheint eine Projektion der Stadt im Raum.

»Mir ist es gelungen, die Bewegungsdaten der Verdächtigen von den Kommunikationsnetzbetreibern zu erhalten und die Wege nachzuverfolgen. Sie führen vom Einkaufszentrum weg an die Außengrenze der Stadt. Dort liegt ein ... ein alter Schlachthof, der vor ein paar Jahren stillgelegt wurde.«

Grauen erfasst mich.

»Sie halten die Mädchen in einem Schlachthof gefangen?« Ich gehe zu Saskia und betrachte die Projektion des Gebäudes. »Kannst du die Satellitendaten anzapfen oder gibt es irgendwelche Überwachungskameras in der Nähe?«

Die junge Polizistin tippt eifrig und kurz darauf erscheint ein Bild statt des Modells. Ein großer, grauer Betonkomplex mit kleinen Fenstern ist darauf zu sehen. Umrandet von ominösen, dunkel gefärbten Flächen, die wahrscheinlich früher zur Lagerung der Schlachtabfälle und dem Abladen der todgeweihten Tiere dienten.

»Sind das Reifenspuren?«, fragt Matt und Saskia zoomt in das Bild.

»Durchaus möglich. Sie mussten die Mädchen ja irgendwie zu ihrem Versteck transportieren.«

»Dort!«, ruft einer der Xenos plötzlich, was mich zusammenzucken lässt. »Vergrößere die rechte untere Ecke. Bei der Pforte liegt etwas.«

Saskia tut wie geheißen und tatsächlich.

»Ein weißer Turnschuh«, flüsterte ich. »Hatte eins der Mädchen so etwas an?«

Matt nickt. »Emma.«

Entschlossenheit durchströmt mich.

»Macht euch bereit. Saskia, behalte das Gebäude und die Umgebung im Auge. Ich bezweifle, dass sie niemanden zur Bewachung abgestellt haben. Ich hole mir jetzt einen Durchsuchungsbeschluss und dann nehmen wir den Laden auseinander.«