(Alec)
Nervös tigere ich in meinem Arbeitszimmer hin und her. Selten habe ich es so verflucht, dass die Sonne scheint und ich drinnen gefangen bin. Vor zwei Stunden hat Matt mich informiert, dass sie die Mädchen gefunden haben und sie befreien wollten. Dass er sich noch nicht gemeldet hat, gefällt mir gar nicht.
Hoffentlich ist alles glatt gelaufen.
Ich sorge mich um die Kinder und darum, was passiert, wenn diese verdammten ‚Priests‘ erfolgreich wären. Maeve hat völlig recht mit der Aussage, dass dann ein friedliches Miteinander so gut wie unmöglich wird.
Wir übernatürlichen Wesen sind alles andere als wehrlos, zumindest die meisten von uns, trotzdem mieden wir bisher den offenen Konflikt. Wir wollen nicht Gegenstand irgendwelcher Schauermärchen sein, mit denen man kleinen Kindern Angst macht und den Hass der Erwachsenen schürt. Wir möchten einfach in Ruhe leben, auch wenn es bei uns ebenfalls vereinzelte Krawallmacher gibt. Diese würden den Menschen nur zu gern unter die Nase reiben, dass sie schwache Geschöpfe sind.
Doch wenn die Menschen unsere Kinder angreifen, wird selbst der friedlichste Xeno zur wütenden Bestie. Besonders, da uns immer wieder suggeriert wird, dass wir jegliche Bemühungen seitens der Polizei nicht wert sind. Eine gelungene Rettung der Mädchen unter Beteiligung der Menschen könnte die Situation etwas entspannen.
Ich hoffe sehr, dass sich einiges durch die neue Sondereinheit ändert. Josh – ähm, Sergeant McGee – scheint ein fähiger Mann zu sein, der auch willens ist, sich mit Xenos zu befassen. Erschrocken ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass ich mir auch um den jungen Polizisten Sorgen mache.
Menschen sind so zerbrechlich ... und diese verdammten ‚Priests‘ unberechenbar.
Dass sie xenofreundliche Mitmenschen ebenfalls auf dem Kieker haben, weiß ich nur zu gut. Ich habe ihnen Josh förmlich zum Fraß vorgeworfen und werde in Zukunft wohl gut auf mein Spielzeug aufpassen müssen.
Plötzlich klingelt mein Telefon. Matt ist am anderen Ende.
Endlich!
»Ja, was gibt’s?«
»Wir haben die Mädchen«, informiert er mich, klingt jedoch besorgt.
Sofort befällt mich eine ungute Vorahnung.
»Leben sie noch?«
»Ja, ihnen geht es den Umständen entsprechend gut. Sie werden einige Tage zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben müssen, aber körperlich sind sie nahezu unversehrt.«
Irritiert runzle ich die Stirn. »Was ist? Du klingst eher, als wäre etwas gewaltig schief gelaufen.«
»Ist es irgendwie auch.« Ich höre, wie er schluckt. »Es ging alles so schnell und wir mussten die Mädchen retten, dabei wurde Josh, also Sergeant McGee, verletzt.«
Mein Herz rutscht in die Hose. »Wie schlimm ist es?«
»Wir wissen es noch nicht. Eine Säge hat ihn hinten am Rücken erwischt. Er hat viel Blut verloren ...«
Nein, nein, nein! Das darf nicht wahr sein!
»In welchem Krankenhaus ist er?«
»East Side Hospital. Es hat mich zwar einiges an Überredungskunst gekostet, doch am Ende haben sie sich erweichen lassen. Ich dachte mir, dass du ihn vielleicht sehen möchtest, falls ...«
In diesem Moment weiß ich nicht, ob ich Matt knutschen oder schütteln soll. Da wir nur telefonieren, muss ich die Entscheidung auf später verschieben.
»Ich muss dafür sorgen, dass Heather heil zu Hause ankommt, dann fahre ich ins Krankenhaus. Oder fehlt dafür die Zeit?«
»Josh wird gerade operiert. Es schadet jedoch nicht, wenn du dich beeilst.«
»Keine Augmentationen, klar? Josh dreht sonst durch.«
»Ich sehe, was ich tun kann. Hier werden die ja sehr selten benutzt.«
»Bis gleich.« Nachdem ich aufgelegt habe, muss ich erst einmal tief durchatmen.
Ruhig. Jetzt keine Panik. Alles schön der Reihe nach.
•
»Paula, Heather!«, rufe ich, bevor ich das Wohnzimmer betrete.
Ich finde die beiden auf dem Sofa vor. Sie haben es sich mit einem Buch gemütlich gemacht. Das Mädchen sitzt auf Paulas Schoß und schaut fasziniert auf das alte Kinderbuch aus Papier, das ihr wie ein Relikt aus uralten Zeiten vorkommen muss. Heutzutage haben die wenigsten gebundene Ausgaben zu Hause. Digitale, oft interaktive Bücher werden viel öfter konsumiert.
»Hi Alec, was ist los?«, fragt die Nymphe.
»Sie konnten die Mädchen befreien«, erkläre ich.
Paula legt sich eine Hand auf die Brust. »Welch ein Glück! Geht es ihnen gut?«
»Sie sind zur Beobachtung im Krankenhaus. Allerdings wurde jemand vom Team beim Einsatz verletzt. Ich würde Heather jetzt nach Hause bringen und dann ins East Side Hospital fahren.«
Das Mädchen schaut mich mit großen Augen an. »Ich kann nach Hause?«
»Natürlich. Ich habe doch versprochen, dass du nur solange bei uns bleiben musst, bis unsere Kinder in Sicherheit sind.«
Heather blickt auf ihre Hände.
»Darf ... darf ich die anderen Mädchen mal sehen?«, fragt sie schüchtern.
Erstaunt schaue ich sie an, dann zucke ich mit den Schultern. »Ich denke schon, dass es möglich ist, wenn es die Ärzte und Eltern erlauben.«
Die Tochter des Bürgermeisters hüpft freudig auf Paulas Schoß herum. »Oh toll!«
»Na dann packe deine Sachen. Wir fahren ins Krankenhaus und danach geht’s ab nach Hause.«
•
Etwa eine halbe Stunde später stellen wir das Auto in der Tiefgarage des Krankenhauses ab, während draußen die Sonne untergeht.
Das East Side Hospital wird von Xenos für Xenos betrieben. Dass der Rettungsdienst Josh hier eingeliefert hat, grenzt an ein Wunder. Menschen werden in der Regel in dem großen Klinikkomplex auf der anderen Seite der Stadt behandelt. Dort könnte ich mich jedoch nicht frei bewegen. Das East Side ist hingegen an die speziellen Bedürfnisse der übernatürlichen Wesen angepasst. So gibt es zum Beispiel sonnengeschützte Zugänge zu den Etagen und auch die Zimmer selbst können abgeschirmt werden.
Als wir den Empfangsbereich betreten, kommt Matt uns schon entgegen. Kurz wirkt er überrascht, dann sieht er mich ernst an.
»Du solltest zu Josh gehen ... Ich kümmere mich um Heather und Paula.«
»Okay ...« Das klingt überhaupt nicht gut. »Danke! Welches Zimmer?«
Der Inkubus nennt mir die Nummer und ich setze mich in Bewegung. Doch dann fällt mir etwas ein.
»Er hat eine Schwester, Melina. Sicherlich möchte sie ihren Bruder auch sehen.«
»Geh, Alec! Alles andere kann warten.«
Nun bin ich wirklich besorgt.
Steht es so schlimm um ihn? Falls ja, was soll ich machen?
Als ich die gesuchte Tür erreiche, weht mir schon der unverkennbare Duft von Joshs Blut entgegen.
Verdammt!
Ohne anzuklopfen, betrete ich den kleinen Raum und halte für den Bruchteil einer Sekunde inne.
Inmitten von piependen Geräten und Schläuchen liegt Joshua McGee oder das, was noch von ihm übrig ist. Ich muss nicht auf die Anzeigen schauen, um zu wissen, dass es schlecht um ihn steht. Meine sensiblen Sinne spüren den Blutverlust und die große Verletzung am Rücken. Sein Körper versucht, sich zu regenerieren, und die Infusionen sollen helfen, doch das scheint nicht auszureichen. Ein leichter Hauch des Todes liegt in der Luft.
»Wage es ja nicht, hier einfach wegzusterben!«, schnauze ich ihn an. Innerhalb eines Wimpernschlags bin ich bei ihm und treffe eine folgenschwere Entscheidung. »Wahrscheinlich wirst du mich dafür hassen, aber immerhin kannst du das dann noch, wenn es klappt«, erkläre ich dem regungslosen Mann, während ich meinen Hemdsärmel hochkremple.
Ohne Zögern beiße ich in mein Handgelenk und presse die blutende Wunde gegen Joshs Mund, während ich seinen Kopf stabilisiere.
»Trink!«, befehle ich ihm und gebe seinem Körper gleichzeitig einen mentalen Schubs.
Trotzdem dauert es eine gefühlte Ewigkeit, bis er reagiert.
Komm schon!
Endlich bewegen sich seine Lippen an meiner Haut und ich höre, wie er die Flüssigkeit herunterschluckt. Als seine Zunge über die Wunde leckt, schließe ich die Augen und versuche, den Fakt zu ignorieren, dass es sich verdammt gut anfühlt. Erst zaghaft, dann immer kräftiger, saugt Joshua an meinem Handgelenk. Jeder Schluck löst ein lustvolles Echo in meinem Unterleib aus. Ich beiße mir auf die Lippe, um nicht zu stöhnen, und konzentriere mich auf das Wichtigste: Joshs Überleben.
Nach einigen Sekunden ziehe ich meinen Arm weg und verschließe die kleine Wunde. Kurz lausche ich Joshs Herzschlag, der schon etwas kräftiger wirkt, bevor ich mich der großen Verletzung zuwende und dafür einmal ums Bett herumgehe.
Das grüne OP-Hemdchen klafft hinten auf und entblößt Joshs muskulösen Rücken und den knackigen Po. Allerdings stört der große weiße Verband das Vergnügen erheblich. Vor allem, da ich bereits rote Punkte darauf entdecken kann. Vorsichtig löse ich die Bandage und starre entsetzt auf das, was von Joshs linker Flanke übriggeblieben ist.
»Wenn ich diese verdammten ‚Priests’ in die Finger bekomme!«, knurre ich.
Dann beuge ich mich über die große Fleischwunde, die so gut wie möglich geflickt wurde. Vorsichtig lecke ich darüber. Mein Speichel sorgt dafür, dass die Verletzung deutlich schneller heilt, allerdings wird der junge Sergeant definitiv eine Narbe davontragen. Als ich mich aufrichte und den Verband sorgsam wieder festklebe, ist die Blutung gestoppt und die Wunde oberflächlich geschlossen. Wenn alles läuft, wie erhofft, dann wird mein Blut die Heilung von innen zusätzlich ankurbeln. Ich decke Josh behutsam zu, ziehe mir den einzigen Stuhl zum Bett und setze mich darauf. Sanft drücke ich Joshs Hand.
»Du solltest besser um dein Leben kämpfen. So leicht kommst du nicht aus deinem Vertrag heraus, mein Lieber«, sage halb im Scherz.
Jetzt heißt es, Abwarten und Tee trinken …
•
Eilige Schritte auf dem Gang lassen mich aufhorchen. Schnell werfe ich einen Blick auf Josh, der zum Glück deutlich besser aussieht als vorhin, und lasse seine Hand los.
Die Tür wird aufgerissen und eine junge Frau mit langen blonden Locken stürmt aufgelöst in den Raum. Ihre Bewegungen sind ein wenig abgehakt, was wohl an den Augmentationen liegt, die ihre fehlenden Unterschenkel ersetzen. Als sie mich sieht, hält sie überrascht inne.
»O, ich wusste nicht, dass er Besuch hat«, murmelt sie verlegen.
»Alles in Ordnung. Ich wollte ohnehin gerade gehen«, sage ich und stehe auf.
Melina schaut von mir zu Josh und wieder zurück.
»Ähm. Sind Sie ...?« Unsicher hält sie inne.
»Das ist etwas komplizierter«, antworte ich. »Wir sind so etwas wie Geschäftspartner.«
»Ah, okay. Das müssen Sie mir später noch einmal erklären. Ich bin Melina McGee«, sagt sie und streckt mir die Hand entgegen.
Kurz zögere ich, dann schüttle ich ihre Hand.
»Alec Black.«
Melina legt ihren Kopf schief. »Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor ...«
Lässig zucke ich mit den Schultern. Mir ist sehr wohl bewusst, dass mein Name von vielen Menschen synonym für den Teufel verwendet wird. In ihren Augen bin ich ein krimineller Drogenboss und Menschenhändler, dabei sind meine Geschäfte zum Großteil legal.
»Ich lasse Sie jetzt mit Ihrem Bruder alleine. Auf Wiedersehen.«
»Mister Black, wissen Sie, warum Josh ausgerechnet hier eingeliefert wurde?«
Kurz verweilt mein Blick auf dem jungen Polizisten, dann sehe ich Melina ernst an. »Damit er überlebt. Manche Spezialbehandlungen gibt es nur hier.«
Mit diesen Worten verlasse ich das Zimmer und begebe mich auf die Suche nach Matt, Paula und Heather.