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Köln, Mai 2019
»Im Urmeer, wo einst alles Leben seinen Anfang nahm, gab es nichts als Dunkelheit und Stille. Kein Lichtstrahl in den schwarzen Tiefen, kein Geräusch. Die entstehenden Lebewesen hatten weder Augen noch Ohren, um sich zu orientieren, Nahrung zu suchen, Feinde zu erkennen oder sich einen Partner zur Fortpflanzung zu wählen. Deshalb fingen sie an, chemische Botschaften auszusenden, die das Wasser zu den Chemosensoren ihresgleichen forttrug. So kam es, dass Lebewesen Geruchssignale aufnahmen, lange bevor sie hören oder sehen konnten …«
Jede Kundin im Laden hörte ihr bei dieser spontanen Einführung zu, und das, obwohl das Göttliche Düftchen an diesem nun offiziellen Eröffnungstag erfreulich gut besucht war. Liv gratulierte sich im Nachhinein zu der Sprecherschulung, die sie vor Jahren für einen Studenten-Rundfunksender durchlaufen hatte. Seitdem konnte sie mit ihrer Stimme spielen und wusste vor allem, wie man gekonnt Pausen setzte.
»Riechen ist also unser ältester Sinn und hat sich weiterentwickelt, als das Leben aus dem Wasser stieg. Dann war es die Luft, die die Moleküle eines Duftstoffes weitertrug. «
In ihrer Hand hielt sie einen bläulichen Flakon, in dem ihre neueste Eigenkreation abgefüllt war. Sie gab davon ein paar Spritzer in die Luft.
»Brise , so habe ich diesen Duft genannt, und wenn Sie nun die Augen schließen, welche Bilder sehen Sie?«
»Strand«, rief eine junge blonde Frau.
»Meeresrauschen«, kam von einer älteren.
»Urlaub.« Dorle aus dem Seminar vom Vortag war gleich noch einmal gekommen, um ihren Gutschein einzulösen, und hatte sogar noch zwei ihrer Töchter mitgebracht. »Und süßes Nichtstun – wochenlang!«
Allgemeines Gelächter. Viele klatschten.
»Wunderbar«, sagte Liv. »Jetzt können Sie die Augen wieder öffnen und sich in Ruhe weiter umsehen. Die allseits bekannten Markendüfte kaufen Sie bitte weiterhin in der Parfümerie. Hier bei mir finden Sie ausgefallene Duftkreationen aus hochwertigen Inhaltsstoffen, und wenn Sie mögen, auch gern individuell auf Sie zugeschnitten. Außerdem führe ich edle Seifen, ausgewählte Naturkosmetik und Make-up-Produkte, die Sie noch schöner machen, als Sie es ohnehin schon sind«, erklärte sie mit einem Lächeln.
Die Frauen strebten wieder zu den Regalen.
»Kleiner Tipp noch«, sagte Liv. »Die Düfte sind von links nach rechts sortiert: von grün und Chypre über blumig und holzig bis hin zu orientalisch. Das sind dann die schweren Parfüms, die uns sofort in die Welt von 1001 Nacht versetzen.«
»Und was darf ich mir bitte unter ›Chypre‹ vorstellen?«, wollte eine junge Kundin mit großen Goldkreolen wissen. »Hab ich nie noch gehört. «
»Der Name leitet sich von der Insel Zypern ab. Unter ›Chypre‹ versteht man Parfüms mit einer Kopfnote von Zitrusölen, einer blumigen Herznote und einer warmen holzig-moosigen Basisnote«, erklärte Liv. »Für mich persönlich meine Lieblings-Duftfamilie. Danke für Ihre Frage. Dazu gleich als Aufforderung an Sie alle: Fragen Sie mir ruhig Löcher in den Bauch. Dazu bin ich schließlich da!«
Genau das taten ihre Kundinnen dann auch in den nächsten Stunden. Liv hatte so viel zu erklären, dass sie ganz vergaß, zwischendrin etwas zu trinken, was sich irgendwann rächte. Ihre Stimme begann bereits heiser zu werden, aber der Laden war noch immer voll.
Es waren weit mehr Leute gekommen, als Liv erwartet hatte. Solch einem Andrang an Interessenten war eine einzige Person eindeutig nicht gewachsen, aber was sollte sie tun? Dennoch hätten ihre Augen besser überall sein sollen, denn als zwei junge Mädchen in einer unbedachten Bewegung mit ihren Rucksäcken die kleine Glasflakon-Pyramide von der Säule fegten, die Liv nahe des Eingangs aufgestellt hatte, war der Holzboden von Splittern übersät.
»Achtung, meine Damen!«, rief Liv so laut sie konnte. »Bitte nicht in die Scherben treten …«
Mittels Feger und Handbesen versuchte sie das Malheur zu beseitigen, doch nun zeigte sich die Tücke des dunklen Bodens, der die hellen Glassplitter regelrecht zu verschlucken schien. Sie kehrte und kehrte, aber es fanden sich immer wieder neue winzige Glasteilchen.
In leiser Panik sah Liv sich um.
Einige der Kundinnen trugen offene Schuhe. Wenn sie etwas übersah und jemand sich verletzte
»Moment!« Die junge Frau mit den Kreolen schob sich resolut nach vorn, einen schnurlosen Staubsauger in der Hand. »Ich bin Nouria, vom Orientzauber, zwei Türen weiter. Soll ich vielleicht mal kurz?«
»Bitte – ja!« Erleichtert erhob sich Liv, während Nouria schnell und geschickt die Splitter aufsaugte.
»Fertig«, erklärte sie schließlich. »Sind nicht gerade billig, diese Dinger, aber enorm praktisch.«
»Danke«, sagte Liv. »Wie aufmerksam von Ihnen! Wenn Sie sich vielleicht ein kleines Dankeschön aussuchen mögen …«
Die goldenen Kreolen begannen zu klimpern.
»Echt jetzt? Wäre aber nicht nötig gewesen. War doch bloß Nachbarschaftshilfe.«
»Echt jetzt«, bekräftigte Liv lächelnd. »Vielleicht etwas aus der Gattung Chypre? Ich finde, diese Mischung würde wunderbar zu Ihnen passen. Darf ich?«
Nouria nickte. Livs Pumpstoß umhüllte sie mit einer zarten Duftwolke.
»Riecht ja göttlich!«, rief Nouria so begeistert, dass viele Köpfe zu ihnen herumfuhren. »Jetzt weiß ich, weshalb Ihr Laden so heißt. In meiner Heimat ist alles immer so schwer, dass man gleich in die Knie geht und den Duft stundenlang, ach, was sag ich, tagelang am Körper hat.«
»Woher kommen Sie denn?«, fragte Liv weiter.
»Aus Marokko«, erklärte Nouria. »Aber ich lebe schon in Ehrenfeld, seit ich zwölf bin. Ab und zu besuche ich meine Großmutter in Marrakesch. Die weiß auch alles über Öle und kostbare Ingredienzien. «
»Die arabischen Nationen handhaben Düfte intensiver und hemmungsloser, als wir es in Europa tun«, sagte Liv. »Was Vor-, aber auch Nachteile haben kann. Unsere Mischungen verfliegen wesentlich schneller. Auf der anderen Seite wirken wir mit einem Stoß Rosa-Grapefruit-Parfüm hinter dem Ohr bis zu zehn Jahre jünger und mindestens um fünf Kilo leichter, was manchmal auch ganz erfreulich sein kann.«
»Das muss ich haben!« Im Nu war sie von mehreren Frauen umringt.
»Langsam, langsam!« Lachend hob Liv die Hände hoch. »Eine nach der anderen. Sie kommen alle dran, versprochen!«
Irgendwann ebbte der Ansturm ab, und bald war sie bis auf eine farbenfroh gekleidete Interessentin, die sich ruhig umsah, allein im Laden. Die größte Neugierde der Anwohner war offenbar gestillt. Nun würden die kommenden Wochen zeigen, wen Liv wirklich als erste Kundinnen hatte gewinnen können. Sie war gerade dabei, die kleinen Probefläschchen neben der Kasse neu zu sortieren, als Betty hereinstürzte, einen laut heulenden Thijs im Buggy vor sich her schiebend.
»Ich weiß einfach nicht mehr weiter«, sagte sie, mindestens ebenso aufgelöst wie der Kleine, der nur noch durchdringender zu brüllen begann, als er seine Mutter erblickte. »Den ganzen Vormittag lief alles prima, aber als ich ihm sein Essen servieren wollte …«
»Kokko«, griente Thijs. »Kokko!!!«
»Ich hab leider nicht verstanden, was er damit sagen will … «
»Das soll Brokkoli heißen, den Thijs inständig hasst.« Erleichtert holte Liv ihren Sohn aus dem Buggy und nahm ihn tröstend auf den Arm. »Meine Schuld! So was hätte ich dir natürlich sagen müssen.«
»Brokkoli also«, murmelte Betty fassungslos. »Und ich dachte, er ist so verzweifelt, weil er seine Mama vermisst!«
Thijs kuschelte sich eng an Liv. Heiß fühlte er sich an, so sehr hatte er sich aufgeregt, feucht vom vielen Weinen und ausgesprochen schutzbedürftig. Die Abstände zwischen den Schluchzern wurden länger. Allerdings konnte es, wenn er sich erst einmal so richtig eingeweint hatte, beim kleinsten Anlass wieder von vorn losgehen. Keine Chance jedenfalls, ihn in dieser Verfassung Betty wieder mitzugeben.
»Du bleibst erst einmal bei mir, kleiner Mann«, sagte Liv um einiges resoluter, als ihr innerlich zumute war. Was, wenn er auch in der Kita bis zum Gaumenzäpfchen brüllte, weil ihm etwas missfiel? Drohte ihr sorgfältig ausgeklügeltes Zeitkonzept schon am allerersten Tag in die Brüche zu gehen?
»Bist du dir sicher?«, fragte Betty zerknirscht. »Du hast hier doch alle Hände voll zu tun!«
»Das bekommen wir schon hin. Und ab Montag ist Thijs dann ja versorgt …« Liv bedankte sich noch einmal ganz herzlich bei Betty, die schließlich beruhigt den Laden verließ, nicht jedoch, ohne ihr noch einmal jede Hilfe mit Thijs anzubieten, falls sie sie benötigte.
Liv setzte Thijs zurück in den Buggy und drückte ihm Pinki in den Arm. Doch er pfefferte das Schweinchen sofort wieder auf den Boden und verzog erneut weinerlich das Gesicht, als sie keinerlei Anstalten machte, ihn wieder hochzunehmen. Liv spürte, wie sie vor Anspannung am ganzen Körper zu schwitzen begann.
»He, hast du eigentlich schon mein tolles Auto gesehen?« Die farbenfroh gekleidete Kundin kniete sich neben ihn und ließ ein Polizeiauto mit Blaulicht, das sie aus ihrer Umhängetasche gezaubert hatte, vor dem Buggy hin- und herfahren.
Mit offenem Mund starrte der Kleine das wundervolle Objekt an.
»Auto«, sagte er. »Auto für Thijs!«
»Ja, das gefällt dir, dachte ich mir schon«, sagte die Frau lächelnd.
Liv betrachtete sie genauer. Eindeutig eine Persönlichkeit, die aus der Menge herausstach, allein schon wegen ihrer Adlernase. Sie war vielleicht Mitte sechzig, ein wenig rundlich, flott frisiert, trug farbenfrohe Kleidung und große, gelbe Retroklunker mit funkelnden Strasseinlagen an den Ohren. Liv kam sie irgendwie bekannt vor. »Wie wäre es mit einer Leihgabe? Natürlich nur, wenn deine Mama damit einverstanden ist.«
»Lieb gemeint, aber das geht leider nicht«, sagte Liv.
»Und weshalb nicht?«
»Weil Thijs so ein Auto niemals freiwillig wieder rausrücken würde. Stecken Sie es also bitte wieder ein.«
»Mein Enkel kommt erst im Herbst wieder zu Besuch nach Köln, und in Florida, wo er wohnt, hat er Dutzende solcher Autos zum Spielen. Nennen wir es also Dauer-Leihgabe, wenn Sie wollen. Auf jeden Fall dient es fürs Erste einem guten Zweck. «
Sie drückte ihm das Auto in die Hand.
»Für dich, Thijs«, sagte sie freundlich. »Was für einen hübschen Namen du hast!«
Hingerissen strahlte er sie an. Aller Kokko-Kummer war vergessen. Sein kleines Gesicht leuchtete vor Glück.
Liv schielte zur Tür, aber im Moment wollten offenbar keine neuen Kundinnen zu ihr. Plötzlich wusste sie, woher sie die Frau kannte.
»Wir sind uns gestern schon begegnet«, sagte sie. »Sie haben die weißhaarige Dame begleitet, die mich Nellie genannt hat.«
»Richtig.« Mit einem hörbaren Knacken ihrer Knie kam die großzügige Spenderin wieder zum Stehen. »Das war meine Freundin Lilo. Den ganzen Abend hat sie von nichts anderem mehr geredet.«
»Aber ich kenne keine Nellie«, sagte Liv. »Das habe ich ihr gestern ja auch schon gesagt.«
»Lilo kann ausgesprochen stur sein, wenn sie sich einmal was in den Kopf gesetzt hat«, sagte die Frau. »Und manchmal würfelt sie leider Vergangenheit und Gegenwart ziemlich durcheinander. Aber sie war so lange der gute Geist von St. Joseph; ihr letztes Hemd hätte sie für die Pfarrgemeinde gegeben. Da hat sie es verdient, dass wir uns jetzt abwechselnd um sie sorgen, auch wenn das manchmal ein wenig schwierig sein kann.«
»Hat sie denn keine Angehörigen?«, erkundigte sich Liv.
»Ihren Bruder hat sie schon im Krieg verloren, und eine Ehe ist sie später wohl eher aus Vernunftgründen eingegangen. Alt ist ihr Heinz nicht geworden. Ich kenne Lilo nur als Witwe. «
Sie begann erneut zu lächeln.
»Schöner Laden übrigens«, sagte sie. »Gefällt mir sehr gut hier bei Ihnen.«
»Danke sehr. Mögen Sie ihr vielleicht ein Pröbchen mitbringen?«, fragte Liv. »Mit einem Gruß von Liv, die leider nicht Nellie ist?«
»Bloß nicht!« Die Frau mit den gelben Funkel-Ohrringen hob abwehrend die Hände. »Lilo hasst Parfüm wie der Teufel das Weihwasser. Keine Ahnung, ob das noch ein Nazirelikt ist, nach dem Motto: ›Die deutsche Frau schminkt und parfümiert sich nicht‹, oder wer sonst ihr das eingetrichtert hat, aber es sitzt jedenfalls sehr tief.«
»Und Sie?«, bohrte Liv weiter. »Was ist mit Ihnen?«
»Ich? Ich liebe alles, was glitzert und duftet.« Die Frau streckte ihr eine kräftige, ringbestückte Hand entgegen. »Maja von Plettenberg. Ich kümmere mich seit einigen Jahren um die Mitglieder unserer Gemeinde, die es am dringendsten brauchen.«
»Finde ich toll«, sagte Liv. »Gibt es heute nicht mehr so oft. Leider.«
»Ach, wir machen hier noch ganz andere spannende Dinge«, erklärte Maja von Plettenberg. »Da gibt es zum Beispiel unsere Aktion ›Dat schmeckt noch jood‹. Entsprechende Plakate hängen überall in Ehrenfeld. Sind Ihnen vielleicht schon aufgefallen.«
»Leider nicht«, sagte Liv. »Aber ich war in letzter Zeit auch vor allem mit meinem Laden beschäftigt.«
»Kann ja noch werden. Wenn Sie mögen, erläutere ich Ihnen mal eben unser Konzept … «
Entgegen aller Befürchtungen lief der Auftakt in der Kita prima. Thijs rannte los, sobald er die anderen Kleinen erblickte, Pinki fest an sich gepresst. Erst als er schon fast an der hölzernen Sprossenwand angekommen war, schien er sich daran zu erinnern, dass er so etwas wie eine Mama hatte. Er drehte sich um und winkte ihr kurz zu, bevor er sich wieder seinen neuen Spielgefährten zuwandte.
»Scheint, als hätten Sie Glück«, sagte Hanne Niedeck lächelnd. »Da haben wir hier schon ganz andere Abschiedsszenen erleben müssen.«
»Thijs liebt Kinder und Tiere«, sagte Liv. »Mit Kontakten tut er sich in der Regel leicht. Aber für alle Fälle haben Sie ja meine Mobilnummer. Im Notfall schließe ich den Laden zu und kann in ein paar Minuten hier sein.«
»Das ist gut«, sagte die Erzieherin. »Man weiß nie, wie lange die Kleinen durchhalten, besonders anfangs. Da können sechs Stunden ohne Mama schon verdammt lang sein.«
»Solange Sie ihm keinen Brokkoli vorsetzen, bin ich eigentlich optimistisch«, erwiderte Liv. »Dann allerdings kann ich für nichts garantieren.«
Beide lachten.
»Gibt es sonst noch etwas, auf das er allergisch reagiert?«, fragte Hanne Niedeck.
Auf Geschichten mit Vätern, hätte Liv beinahe gesagt, aber sie schüttelte nur stumm den Kopf.
»Dann drücken Sie uns mal die Daumen. Heute Nachmittag wissen wir mehr.«
Es fühlte sich seltsam an, den Weg zum Laden ohne Thijs zurückzulegen. Seit seiner Geburt waren Liv und er unzertrennlich gewesen, von den wenigen Stunden einmal abgesehen, die ihr kleiner Sohn bei seinem Opa oder einer Babysitterin verbracht hatte. Aber das war ab jetzt anders. Sie hatte ihr Geschäft, er seinen festen Kita-Platz. Die freie, ungebundene Zeit, die nur ihnen beiden gehört hatte, war vorüber.
Ein erster Abschied, mit leiser Wehmut verbunden …
Zu Livs Überraschung wurde sie vor dem Laden bereits von drei Kundinnen erwartet.
»Bisschen spät machen Sie auf«, sagte die hübsche Rothaarige missbilligend, als Liv aufschloss, um sie hereinzulassen.
»Ich habe einen kleinen Sohn«, erwiderte sie. »Und erst wenn Thijs gut versorgt ist, kann ich ans Geschäft denken. Es ist also durchaus möglich, dass meine Öffnungszeiten variieren werden.«
»Sorry, sorry, kann man ja schließlich nicht wissen«, ruderte die Kundin zurück. »Ich bin hier, weil ich mir ein individuelles Parfüm wünsche. Etwas, das nur ich trage – und sonst niemand.«
»Gerne«, sagte Liv, ging zum Verkaufstresen und begann, in ihrem Kalender zu blättern. »Sagen wir, übermorgen zehn Uhr?«
»Das geht nicht jetzt? Ich meine, sofort?«
»Leider nicht. Zum einen sind Sie bereits beduftet.« Liv schnupperte. »Shalimar , oder?«
»Das stimmt«, sagte die Kundin überrascht. »Aber ich habe nur die Bodylotion aus der Serie verwendet.«
»Das reicht bereits. Ich würde Sie bitten, bis übermorgen gar nichts zu verwenden, das irgendwie duftet: keine parfümierte Seife, kein Duschgel oder Shampoo, weder Deo noch Lotion – und natürlich erst recht nichts auf Parfümbasis. Außerdem bitte ich Sie, bis dahin auf den Genuss von Zwiebeln und Knoblauch zu verzichten. Ich brauche Ihren Hautgeruch – so pur wie irgend möglich.«
Die Kundin sah sie misstrauisch an.
»Und wozu?«
»Wir alle haben einen Eigengeruch, der ebenso unverwechselbar ist wie unser Fingerabdruck. Wir selbst nehmen ihn an uns gar nicht wahr, sind gewissermaßen ›geruchsblind‹. Natürlich können wir ihn mit den verschiedensten Ingredienzien überdecken, aber er wird sich immer durchsetzen. Deshalb riecht jeder Duft ja auch an jedem Menschen anders. Um unseren Eigengeruch jedoch am wirkungsvollsten zu unterstützen, müssen wir ihn erst einmal zutage fördern.«
»Dann darf ich mich jetzt achtundvierzig Stunden lang nicht mehr waschen? Das kann nicht Ihr Ernst sein!« Sie klang fast hysterisch.
»Davon war niemals die Rede.« Liv lächelte. »Gegen Wasser und Kernseife ist von meiner Seite her nichts einzuwenden.«
Die Kundin ließ sich eintragen und stolzierte leicht indigniert davon.
Ob sie wirklich wiederkommen würde?
Liv konnte nur hoffen, dass sie sie nicht vergrault hatte.
Mit den anderen war es weniger kompliziert; beide wollten je einen Flakon Brise erstehen, weil Livs Vorführung am Samstag sie beeindruckt hatte .
»Wie machen Sie das eigentlich?«, fragte die Jüngere, während Liv die Kasse bediente. »Ich meine das mit dem Riechen?«
»Was genau interessiert Sie daran?«, fragte Liv zurück.
»Woher wussten Sie das beispielsweise mit dem Shalimar
»Das war nicht weiter schwierig. Shalimar ist ein sehr bekannter, ziemlich intensiver Duft. Wenn man ihn einmal in der Nase hatte, vergisst man ihn so schnell nicht wieder.«
»Ich bin direkt neben ihr gestanden und habe gar nichts gerochen«, beharrte die Kundin. »Wieso Sie – und ich nicht?«
»Unser Geruchssinn kann, wie man heute weiß, über eine Billion Gerüche wahrnehmen, und damit mehr Eindrücke als Augen und Ohren zusammen. Allerdings will er gut trainiert sein, damit er sie auch wiedererkennt.«
»Riechen kann man also lernen?«
»Mit gewissen Einschränkungen sehr wohl«, versicherte Liv lachend. »Der Geruchssinn ist nämlich schon bei der Geburt weitgehend ausgebildet. Ich bin mit einem feinen Näschen zur Welt gekommen und habe mich deshalb auch von klein auf für Gerüche interessiert. Wer viel und gern riecht, ist nach und nach in der Lage, Gerüche differenzierter wahrzunehmen.«
»Klingt wirklich spannend«, sagte die Kundin. »Ich fürchte, ich selbst gehöre leider nicht zu diesen Glücklichen. Aber egal.« Sie grinste. »Auf tolle Düfte stehe ich trotzdem!«
Für einen Montagvormittag war das Kundenaufkommen ganz beachtlich. Allerdings kamen noch immer zahlreiche Neugierige, um sich umzusehen und weniger um zu kaufen, doch damit hatte Liv bereits gerechnet. Ehrenfeld war kein einfaches Pflaster. Auch wenn die Szeneliteratur es noch so emsig als hip hochschreiben wollte, so lebten hier doch viele, die auf jeden Cent achten mussten. Andererseits gab es auch genügend Leute, die Markenklamotten trugen und sich mit ihren SUVs durch die vollen Straßen zwängten.
Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass sie mit ihrem Konzept genau richtig lag. Alles, was sie brauchte, war ein wenig Zeit.
Als sie gerade für eine kurze Mittagspause schließen wollte, kam Nouria in den Laden gestürzt, eine bestickte Stofftasche in der Hand. Sie trug ein knöchellanges rotes Kleid, das perfekt mit ihrer olivfarbenen Haut harmonierte.
»Hätten Sie ein paar Minuten Zeit für mich?«, fragte sie. »Ich habe marokkanischen Tee dabei. Und Mandel-Ghriba. Kleine Warnung: Davon kann man süchtig werden!«
»Meinetwegen«, sagte Liv. »Lassen Sie uns nach nebenan gehen.«
Nouria schenkte den Tee in zwei mitgebrachte Gläser und dekorierte das helle Gebäck auf einem Teller. Liv probierte ein Stück und lächelte.
»Wie eine Wolke aus Mandeln«, sagte sie. »Die schmecken wirklich himmlisch. Und nun heraus damit: Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Lassen Sie mich für Sie arbeiten«, sprudelte Nouria hervor. »Was Sie hier machen – davon habe ich mein ganzes Leben geträumt! Ich möchte lernen, so gut riechen zu können wie Sie.«
»Ich fühle mich geschmeichelt, aber Sie stellen sich das ein bisschen zu einfach vor …«
»Aber es ist einfach! Sie brauchen jemanden, der Ihnen zur Hand geht, und ich brauche dringend eine neue Arbeit, die auch meinen Kopf beschäftigt, sonst gehe ich noch vor die Hunde!« Die Goldkreolen klimperten heftig. »Bei meinem Onkel im Orientzauber ist es so öde, dass ich es kaum noch aushalte. Ich krieg Schreikrämpfe, wenn ich weiterhin Bauchtanzschmuck oder kunstseidene Schals mit Goldrand verkaufen muss! Außerdem stehen wir uns gegenseitig nur noch auf den Füßen, denn nun hat er auch noch seine Tochter eingestellt. Haben Sie mal gesehen, wie klein der Laden ist? Halima und ich auf engstem Raum? Das hat noch nie funktioniert, obwohl wir Cousinen sind!«
»Hören Sie, liebe Nouria, ich habe gerade erst eröffnet und kann mir leider noch kein Gehalt für eine Verkäuferin leisten …«
»Wissen Sie, was Onkel Muraz mir bezahlt?« Sie beugte sich vor und flüsterte es Liv ins Ohr.
»So wenig? Wie kommen Sie denn damit über die Runden?«, fragte Liv erschrocken.
»Ich brauche nicht viel! Meine Wohnung ist winzig, Klamotten nähe ich mir selbst, und beim Essen bin ich nicht anspruchsvoll. Außerdem jobbe ich abends zusätzlich in einem ziemlich angesagten Lokal. Das lässt sich weiter ausbauen, falls nötig, und bringt saftiges Trinkgeld.« Die großen, braunen Augen fixierten Liv flehentlich, und Nourias weiche Stimme wurde noch eindringlicher. »Geben Sie mir eine Chance! Mir liegt ungeheuer viel daran.«
»Ich weiß nicht …«
»Dann wenigstens halbtags, das entlastet Sie doch auch schon. Bitte! Sie werden es nicht bereuen«, bettelte sie.
»Sie haben Erfahrung im Verkauf?«, sagte Liv, die sich langsam mit der Idee anzufreunden begann. Die temperamentvolle Marokkanerin war ihr vom ersten Moment an sympathisch gewesen. Dazu kam Nourias beherztes Eingreifen beim Scherbenunfall. Außerdem war sie eine Augenweide, was immer gut fürs Geschäft war, eine freundliche Augenweide noch dazu. Und mit Thijs wäre sie auch flexibler …
»Und ob!«, versicherte Nouria. »Ich bin gelernte Rechtsanwaltsgehilfin, aber der ganze Aktenstaub war auf Dauer nichts für mich. Bei Onkel Muraz arbeite ich jetzt schon gute drei Jahre, und zuvor habe ich in einer Boutique Jeans verkauft. Die haben mir dort nachgeweint, als ich gegangen bin – umsatzmäßig, Sie verstehen. Aber ich war es so unglaublich leid, mich vom Geschäftsführer antatschen zu lassen. Eigentlich waren es immer nur Düfte, Düfte und noch einmal Düfte, die mich fasziniert haben …«
»Wie alt sind Sie, Nouria?«, fragte Liv. »Wenn Sie bei mir arbeiten wollen, werden Sie sehr viel lernen müssen, das sollte Ihnen klar sein.«
»Gerade mal fünfundzwanzig. Alt genug, um zu wissen, was ich will, und jung genug, um alles von Ihnen zu lernen!«
Beide lachten .
»Na gut, weil Sie so hartnäckig sind: eine Woche auf Probe – dafür bezahle ich Ihnen ein kleines Fixum. Wenn es für uns beide danach stimmt, besprechen wir anschließend Ihr Gehalt. Einverstanden?«
»Wunderbar!« Nourias erleichtertes Lachen zeigte all ihre weißen Zähne.
»Und Onkel Muraz?«, fragte Liv weiter. »Was wird er dazu sagen? Nicht, dass ich mich ab jetzt fürchten muss, sobald ich mein Geschäft verlasse!«
»Ach was! Der ist eigentlich ein ganz Lieber und wird sich schon wieder einkriegen«, versicherte Nouria.
»Er weiß also bereits Bescheid?«, fragte Liv verblüfft.
»Ehrlich gesagt, habe ich bei ihm bereits gekündigt. Ich hatte so sehr gehofft, dass ich Sie erweichen kann!« Ihr seliges Grinsen vertiefte sich. »Kann ich sofort anfangen?«
Thijs nach dem langen Tag wieder in die Arme zu schließen fühlte sich wunderbar an.
»Ihr Kleiner hat sich schon prima eingelebt«, versicherte Frau Niedeck, als Liv ihn heute früher von der Kita abholte. »Er verhält sich den anderen Kindern gegenüber sozial und ist motorisch schon ganz schön weit – ein echter Flitzebogen. Gegessen hat er nicht gerade viel, das lag wahrscheinlich an der Aufregung. Legen Sie ihm doch morgen seinen Lieblingssnack mit in die Brotbüchse, das kommt anfangs immer ganz gut.«
Liv nickte erleichtert.
»Ich habe seit heute eine zweite Kraft für meinen Laden«, sagte sie. »Zwar habe ich noch keine Ahnung, ob ich das auch auf Dauer finanzieren kann, aber so bin ich mit Thijs ein wenig flexibler. Man weiß ja nie …«
Thijs raste mit dem Laufrad um sie herum, bis die Erzieherin ihn stoppte.
»Nur mit Helm«, sagte sie in liebevoller Strenge. »Das hast du doch heute von den Großen in der Gruppe gelernt.«
Thijs sah sie mit seinen himmelblauen Augen ehrfürchtig an und nickte.
»Ich hatte auch schon daran gedacht, so ein Teil für draußen anzuschaffen«, sagte Liv. »Allerdings erschien mir Ehrenfeld mit seinem starken Verkehrsaufkommen dann doch etwas zu gefährlich dafür.«
»Sie brauchen nicht einmal ein Auto, um Abhilfe zu schaffen. Mit der Straßenbahn sind Sie in ein paar Stationen am idyllischen alten Melaten-Friedhof«, sagte Hanne Niedeck. »Dort gibt es jede Menge sicherer Wege, wo er sich nach Herzenslust austoben kann. Und noch ein paar Stationen weiter erreichen Sie den Stadtwald. Da sind Sie dann richtig in der Natur. Selbst am Wochenende kann man dort noch ungestört sein, wenn man möchte.«
»Danke für die guten Tipps«, sagte Liv. »Wir zwei sind ja noch Neulinge hier und müssen alles erst erkunden. Und jetzt komm zu Mama!« Sie hob Thijs hoch und verfrachtete ihn nebst Pinki in den Buggy. »Müde kleine Helden werden heute noch einmal geschoben.«
Auf der Venloer Straße umfing sie erneut die berückende Geruchswolke, die Liv an diesem Tag sogar noch intensiver vorkam als sonst.
»Mal sehen, wie das im Sommer wird«, murmelte sie im Gehen. »Wahrscheinlich fühlt man sich dann direkt wie auf dem Döner-Grill.«
Aus dem Buggy drang leises Schnarchen.
Thijs schlummerte friedlich, und Liv entschloss sich, die Gelegenheit zu nutzen. Die Strecke bis zum Bahnhof kannte sie bislang nur aus dem Auto, wobei ihr auch da schon die bunte Fassadenkunst aufgefallen war. Ehrenfeld galt als das Viertel der Street Art, wie sie im Internet nachgelesen hatte. Sicherlich war es lohnend, sie bei einem Spaziergang nach und nach kennenzulernen.
Aber auch für andere geistige und körperliche Bedürfnisse bot die Venloer Straße ausreichend Anregungen. Liv entdeckte eine interessante Buchhandlung, in der sie zwei neue Wimmel-Bilderbücher für Thijs kaufte, eine Kaffeerösterei, bei der sie sich ein Pfund kolumbianischen Espresso mahlen ließ, zwei Apotheken und unzählige Läden mit Krimskrams, wie man sie inzwischen überall finden konnte. Je näher sie dem Bahnhof kam, desto mehr Street Art kreuzte ihren Weg: groß, bunt, plakativ, stilistisch nicht alles unbedingt nach ihrem Geschmack, aber durchaus sehenswert. Von Pop über surrealistisch angehauchte Arbeiten bis hin zur Agitationskunst war alles vertreten. Das ließ sich keinesfalls bei einem einzigen Spaziergang aufnehmen, geschweige denn verdauen! Sie würde öfter wiederkommen, um sich intensiver damit auseinanderzusetzen.
Als sie schon wieder auf dem Nachhauseweg war, erregte ein spezielles Wandbild am Bahndamm Livs Aufmerksamkeit: zwei erhängte Figuren, die an einem Strick baumelten, darunter ein Spruch in verschiedenen Sprachen :
Edelweißpiraten haben sie sich genannt, wo diese Blume blühte, da war Widerstand .
Daneben waren auf blutrotem Hintergrund verschieden große Edelweißblüten auf die Wand gemalt. Beim Nähertreten entdeckte Liv, dass jedes gelbe Blüteninnere einen Namen trug. Und wieder daneben prangte ein buntes Segelschiff, auf dem Jugendliche über den Köpfen marschierender Faschisten in See stachen.
Eine steinerne Gedenktafel ein paar Schritte weiter verstärkte Livs Neugierde noch:
Hier wurden am 25.10.1944 elf vom NS-Regime zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppte Bürger Polens und der UdSSR und am 10.11.1944 dreizehn Deutsche – unter ihnen jugendliche Edelweißpiraten aus Ehrenfeld, sowie andere Kämpfer gegen Krieg und Terror – ohne Gerichtsurteil öffentlich durch Gestapo und SS gehenkt.
»Tauchst du gerade in die unrühmliche Historie unserer schönen Stadt ein?«, fragte eine Männerstimme hinter ihr.
»Jan«, sagte Liv, nachdem sie sich umgedreht hatte. »Was machst du denn hier?« Sie betrachtete den Leiterwagen voller Brot, Obst und Gemüse, den er hinter sich herzog.
»Ich trage mein Scherflein zu ›Dat schmeckt noch jood‹ bei. Je mehr Freiwillige mithelfen, desto mehr Bedürftige können wir versorgen.«
»Maja von Plettenberg hat mir schon davon erzählt … «
»Die war auch schon bei dir?« Er grinste. »Hätte ich mir denken können. Alles, was glitzert und duftet, zieht unsere Gräfin magisch an. Aber nichts gegen Maja: Wenn eine zupacken kann, dann sie. Und so ein bisschen Adel schmückt doch jedes soziale Projekt, nicht wahr?«
Er schaute auf seine Armbanduhr.
»Muss mich sputen, denn es geht gleich los, wenn der große Discounter hier schließt. Da fallen jeden Tag viele weitere Lebensmittel für unsere Kundschaft an. Kannst dich ja mal bei uns umsehen, wenn du magst. Wir können immer helfende Hände gebrauchen.«
»Abends kann ich immer schlecht weg«, erwiderte Liv mit einem Blick auf Thijs, der sich gerade im Buggy räkelte.
»Klar«, sagte Jan. »Dein Junior und Pinki haben natürlich Vorrang.«
Er hatte sich den Namen des Schmusetiers gemerkt.
Wurde Liv deshalb gerade so heiß? Und wieso schlug ihr Herz auf einmal viel zu schnell?
»Weißt du eigentlich mehr über diese Edelweißpiraten?«, fragte sie, um ihre Verlegenheit zu überspielen.
»Spannendes Thema, das mich schon lange beschäftigt.« Jan nickte. »Bei Gelegenheit kann ich dir gern mehr darüber erzählen. Inzwischen gibt es auch jede Menge Literatur dazu – und sogar einen Film mit Bela B. von den Ärzten. Zum Glück sind sie endlich als Widerstandskämpfer anerkannt. Obwohl du in Köln mit diesem Thema bei manchen Leuten noch immer vorsichtig sein musst: Der schlechte Ruf der Edelweißpiraten als Schläger und jugendliche Kriminellenbande klebt bis heute an ihnen. «
Thijs schlug die Augen auf und verzog das Gesicht, als wüsste er noch nicht genau, in welcher Stimmung er nach dem Schlafen war.
Doch als er Jan erkannte, begann er zu strahlen.
Der ging neben dem Buggy in die Knie. »Hallo, kleiner Freund«, sagte er. »All jood?«
»Jood«, echote Thijs begeistert. »Jood. Jood!«
Jan kam wieder nach oben.
»Siehst du, das mit dem Kölnerwerden läuft schon bei ihm«, sagte er. »Also tschö, ihr zwei – man sieht sich!«
Liv sah ihm hinterher, bis er mit seinem Leiterwagen um die Ecke verschwunden war. Doch ihr seltsames Herzklopfen hielt sich noch sehr viel länger.