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Köln, Juli 1940
Greta hat mich natürlich gründlich gelöchert. Alles wollte sie über Martins Firmung wissen, aber ich bin so zurückhaltend geblieben, dass sie fast wütend wurde.
»Wie war es, ihm nah zu sein? Mit ihm den ganzen Nachmittag zu verbringen?« Lauter solch neugierige Fragen sind auf mich eingeprasselt, bis hin zu: »Du hast ihm doch nicht etwa schöne Augen gemacht?«
Hätte ich nur zu gern, wäre meine ehrliche Antwort gewesen, aber um meine beste Freundin etwas abzubremsen, habe ich mich ganz förmlich gegeben.
»Ein Essen im Pfarrhaus. Fußballspielen mit Martin im Garten. Ein gemeinsames Lied. Mehr gibt es nicht zu erzählen.«
Sie hat mir nicht geglaubt, das habe ich an der steilen Falte zwischen ihren schwarzen Brauen und dem unruhigen Flackern ihrer Augen erkannt. Was denkt sie denn? Dass ich Benedikt hinter den Schuppen gezerrt und angesprungen habe? Ihn, der nicht einen Funken Interesse für mich zeigt?
Habe ich deshalb mein Tagebuch über lange Wochen so vernachlässigt, weil es ja doch nichts bringt, meine sehnsüchtigen Litaneien aufzuschreiben ?
Gleich heute Abend aber werde ich wieder schreiben, denn er und ich haben uns lange unterhalten, und ich hoffe, dass ich aus dem Gedächtnis noch alles richtig hinbekomme.
Nach der Messe steht Benedikt wieder am Portal und lächelt jeden beim Hinausgehen an. Mein Gesicht wird ganz starr vor freudigem Erschrecken, während Greta neben mir breit zu strahlen beginnt.
»Hat Martin es schon erzählt?«, fragt er mich freundlich.
Ich hebe fragend die Schultern.
»Na, das mit der Marienfreizeit. Vier Tage Zeltlager im Siebengebirge mit den Jungs aus der Pfarrgemeinde. An Mariä Himmelfahrt brechen wir auf und kommen am Sonntag wieder zurück. Singen, Sport und Gebet. Ein würdiger Ferienabschluss, bevor anschließend die Schule wieder beginnt.«
»Ich weiß von nichts«, erwidere ich vorsichtig.
»Dann will ich Ihnen auch verraten, weshalb, Nellie: Wir wollen nämlich die Räder nehmen, um ganz in der Natur zu sein – und Martin hat keines.«
»Er kann meins ausleihen«, biete ich an.
»Ein Damenfahrrad? Das geht doch nicht für einen echten Kerl. Martin braucht ein Herrenfahrrad mit einer Querstange, über die er sich elegant schwingen kann, und stellen Sie sich vor, ich habe tatsächlich eins für ihn auftreiben können!« Sein Gesicht wird plötzlich ernst. »Helmut, der Sohn von Frau Baumann, ist gefallen. Sie ist einverstanden, es Martin zu überlassen.«
»Und was soll das kosten?«
»Eine Spende der Gemeinde. Halbwaisen wie Martin verdienen besondere Unterstützung. Richten Sie ihm also bitte aus, dass die Sache klargeht – vorausgesetzt natürlich, Ihre Mutter ist damit einverstanden.« Er zwinkert mir zu. »Keine Angst, ich pass auf die Jungs schon gut auf! Sagen Sie ihr das doch bitte mit einem herzlichen Gruß von mir.«
»Die haben’s gut«, murmelt Greta, als wir in die Tram nach Lindenthal steigen. »Mit dem Kaplan nachts am Lagerfeuer – welch romantische Vorstellung!«
»Mit fünfzehn weiteren Pickelmonstern? Ich weiß nicht so recht«, erwidere ich betont forsch.
»Nein, natürlich nur er und ich …«
»Hast du für solche Träume nicht eigentlich deinen Verlobten?«, frage ich sie.
»Ja, Viktor …« Greta klingt matt.
»Habt ihr euch verkracht?«, will ich wissen.
»Nein. Jedenfalls nicht richtig. Aber ich glaube immer mehr, er liebt an mir vor allem meinen Namen …«
Meine wöchentlichen Mittagessen im Hause Farina datieren bis in die erste Klasse Handelsschule zurück. Greta war damals sehr unbeliebt und als eingebildet und hochnäsig verschrien – ein Mädchen, das niemand leiden konnte. Ich dagegen wurde von vielen gemocht und sogar zur Klassensprecherin gekürt. Eines Mittags stand ein untersetzter, elegant gekleideter Herr vor der Schule und fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, seine Tochter in der Klasse zu unterstützen: Riccardo Maria Farina, Gretas Vater. So fing alles mit uns beiden an …
Ich mag ihn noch immer, lieber als Gretas spröde Mutter, die eher ängstlich ist und schnell mäkelig werden kann. Doch seitdem ich bei 4711 angestellt bin, gehe ich nicht mehr so gerne hin, obwohl mir das hochherrschaftliche Ambiente der Farinas von Anfang an schwer imponiert hat. Der Konkurrenzkampf zwischen den beiden Herstellern von Eau de Cologne ist ebenso legendär wie heftig; jedes der beiden Kölner Häuser nimmt für sich in Anspruch, das »Kölsche Wasser« erfunden zu haben. Ich für meinen Teil bin auf der Seite von Farina, weil sie mit dem Jahr 1709 als erste Kölner Firmengründung eindeutig das ältere Datum vorzuweisen haben, obwohl ich natürlich den Teufel tun würde, das an meinem Arbeitsplatz auch nur anzudeuten.
Wirtschaftlich erfolgreicher behauptet hat sich eindeutig die Unternehmerfamilie Mülhens, bei der ich nun seit vier Jahren in Lohn und Brot stehe. Vor 1939 gab es in allen großen europäischen Städten viele 4711-Filialen, einstmals sogar in Amerika, doch seitdem die deutschen Soldaten marschieren, ist dieser internationale Markt eingebrochen. Adé, ihr prachtvollen Niederlassungen in London, Paris oder Amsterdam! Jetzt können wir nur noch für das Deutsche Reich produzieren.
Als Folge gab es bereits Entlassungen in den Fabrikationshallen sowie im Versand und in der Buchhaltung, und es wird gemunkelt, dass weitere Kündigungen unmittelbar bevorstünden. Als Angestellte sind wir angewiesen, darüber außerhalb des Betriebs zu schweigen, und so wird, das schwöre ich, auch heute beim Mittagessen kein Wort über meine Lippen kommen, so charmant mich Gretas Papa auch dazu nötigen wird …
Die Farinas begrüßen mich bei unserem Eintreffen herzlich und fast wie eine zweite Tochter. Ich weiß, dass sie sich noch mehr Kinder gewünscht haben, was ihnen jedoch leider versagt geblieben ist; in gewisser Weise kann ich diese Lücke ein wenig füllen. Wie immer steht schon ein schön verpackter Flakon für mich bereit, der als Markenzeichen die rote Nelke trägt. Die Farinas wissen, wie sehr mir ihr Familienduft gefällt, den ich gern bei besonderen Anlässen auflege, aber natürlich nie, wenn ich zur Arbeit gehe.
Ich liebe dieses luftige Haus am Stadtwald, in dem alles an seinem richtigen Platz zu sein scheint: große Fenster, die das Grün hereinlassen, bequeme Möbel aus Chrom und Leder, nichts Wuchtiges, Abgewohntes wie in unserer engen Wohnung über der Kneipe, wo die dunklen Farben einen schier zu erdrücken drohen. Allerdings hängen hier heutzutage andere Bilder an den Wänden; die wilden, modernen Ölmalereien, die mich als junges Mädchen zutiefst beeindruckt haben, sind zarten Landschaftsimpressionen gewichen. Für mich fühlt es sich an, als hätten die Räume damit ihre Seele verloren, aber natürlich werde ich auch darüber nichts sagen.
Als Vorspeise gibt es jene herrlichen Spinatravioli mit Tomatensauce, für die ich glatt sterben könnte, und ich bin hemmungslos genug, um auch einen zweiten Teller dankend anzunehmen.
»Ich mag junge Frauen mit Appetit«, nickt Herr Farina anerkennend. »Wer gut isst, der kann auch gut arbeiten.«
Das ist sie, jene Überleitung, vor der ich mich schon gefürchtet habe. Spätestens beim Kaninchenbraten mit Erbsen und Möhrchen prasseln dann seine Fragen auf mich ein, die ich nur mit Schweigen oder Schulterzucken beantworten kann. Ich darf ihm doch nicht erzählen, ob wir neue Düfte planen, und wenn ja, welche; inwieweit die Produktion gedrosselt wurde und wie groß das Rohstofflager noch ist! Das meiste davon weiß ich ja nicht einmal – und selbst wenn: Meinen Brotherren würde ich niemals verraten.
Ich starre also auf meinen Teller und hoffe, dass dieses grässliche Fragenbombardement endlich aufhört. Als ich zwischendurch aufblicke, lese ich Verzweiflung in seinem rundlichen, leicht gebräunten Gesicht. Das Unternehmen Farina hat mindestens ebenso zu kämpfen wie 4711, das wird mir schlagartig klar; der Krieg setzt auch ihm zu. Gretas Papa ist nicht der Firmeneigner, wie ich anfangs dachte, sondern bei seinem Cousin, dessen Nachname ebenfalls Farina lautet, als bislang hoch dotierter Geschäftsführer angestellt. Er bangt offenbar um seinen Posten; er bangt vor allem um den Wohlstand, auf den seine Familie seit vielen Jahren baut.
»Lassen wir das«, sagt er endlich, als die Dessertschalen mit Pfirsichkompott vor uns stehen. »I panni sporchi si lavano in famiglia  – schmutzige Wäsche wäscht man innerhalb der Familie, und nicht anders verhält es sich schließlich auch mit dem Betrieb, bei dem man angestellt ist. Ich mag deine Anständigkeit, Nellie. Gäbe es mehr von deiner Art, sähe Deutschland heute anders aus.«
Erleichtert verziehe ich mich nach dem Essen mit Greta zu einem Spaziergang in den angrenzenden Stadtwald, doch sogar unter den schattigen Bäumen ist es heute zu drückend, um lange zu laufen. Und ich spüre doch schon die ganze Zeit, dass ihr etwas auf dem Herzen liegt. Als wir uns auf einem gefällten Baumstamm niederlassen, muss ich die Freundin nur ansehen, schon kullern bei ihr die ersten Tränen .
Und dann lässt Greta ihren ganzen Kummer heraus.
Inzwischen bereut sie die Verbindung mit Viktor, für den sie doch so gut wie nichts mehr empfindet. War sie anfangs von seinem selbstbewussten Auftreten geblendet, so ist er ihr nun zu laut, zu grob, zu selbstverliebt, und seitdem er Parteimitglied geworden ist, auch zu herrschsüchtig. Sein Hotel Am schönen Rhein beherbergt vorzugsweise Nazigrößen, ein Umgang, der ihn stark geprägt hat. In seinem Weltbild hat eine Frau sich ihrem Mann bedingungslos zu unterwerfen; jede Widerrede wird im Keim erstickt. Greta hasst es, nach seiner Pfeife tanzen zu müssen. Aber sie hat auch Angst vor ihm, denn er duldet keine Abfuhr. Und ausgerechnet jetzt, wo ihre Gefühle für ihn so gut wie erloschen sind, drängt Viktor auf eine offizielle Verlobungsfeier im ganz großen Stil!
Meine Gedanken rasen.
Wie kann ich ihr nur helfen, damit sie nicht mehr so unglücklich ist?
Plötzlich muss ich an das Gespräch am Mittagstisch denken, das mir gerade noch so unangenehm war, und ich schlage Greta vor, es in diesem speziellen Fall als List anzuwenden. Wenn Viktor in ihr vor allem die reiche Erbin sieht, wie würde er wohl reagieren, wenn er erfahren müsste, dass das alles plötzlich auf tönernen Füßen steht?
Wenn er von sich aus den Rückzug antritt, muss sie keine Angst vor seiner Rache haben. Dann ist sie ihn los – und wieder frei.
Ihr herzförmiges Gesicht, das gerade noch so niedergeschlagen gewirkt hat, hellt sich schlagartig auf.
»Fantastico!« Sie umarmt mich stürmisch. »Wenn Viktor mitbekommt, dass es bald aus sein könnte mit unserem Reichtum, wird er mich sicherlich nicht mehr wollen. Das könnte die Rettung für mich sein.«
Ich schärfe ihr ein, geschickt vorzugehen, was Greta verspricht. Allerdings bleibt ihr dazu nicht mehr viel Zeit. Viktor drängt auf eine Verlobung im Herbst, und der lässt nicht mehr lange auf sich warten.
»Nicht gleich alles auf einmal, sonst wird er vielleicht misstrauisch. Du musst es ihm tröpfchenweise beibringen. Und bei jeder Zusammenkunft die Dosis ein wenig erhöhen.« Ich gebe mir Mühe, besonders unschuldig dreinzuschauen, während ich ihre helle Stimme imitiere. »Ein neues Kleid? Dazu ist gerade kein Geld da, lieber Viktor! Noble Einladungskarten? Im Moment ganz und gar unmöglich, amore mio! Ein großes Fest mit den Honoratioren der Stadt? Finanziell zurzeit leider nicht zu stemmen … So in der Art stelle ich mir das vor.«
Greta lacht wieder, ihr fröhliches, glucksendes Lachen, das ich so sehr mag.
»Hat Papa nicht gerade gesagt, dass du so anständig bist?«, prustet sie. »Der hat vielleicht eine Ahnung, Nellie! Da nützt all das In-die-Kirche-Laufen auch nichts: In Wirklichkeit ist deine Seele rabenschwarz!«
Dann bleiben wir beide eben alte Jungfern, beschließen wir übermütig. Ich, der kein Mann gut genug ist, wie meine Mamm befürchtet, und Greta, die sich aus einer Verbindung lösen möchte, um die viele sie beneiden.
Ach, Benedikt, wenn ich dich doch nur so lieben dürfte, wie ich wollte
Keine zwei Wochen später bewahrheiten sich meine Befürchtungen: Die gesamte Belegschaft versammelt sich in der Kantine. Da wir sonst immer in Schichten dort essen, ist der Raum jetzt überfüllt. Angespannte Nervosität wabert umher; viele der Mädchen und Frauen haben schon jetzt feuchte Augen. Peter Paul Mülhens, Firmenchef des Hauses 4711, ist von seinem prachtvollen Gestüt Schloss Röttgen, auf dem er sich im Sommer am liebsten aufhält, in die glutheiße Stadt geeilt, um zu seinen Angestellten zu sprechen.
Das hat sicherlich gewichtige Gründe.
Mülhens räuspert sich mehrmals, bevor er zu reden beginnt. Und er schwitzt. Sein eleganter, heller Leinenanzug hat bereits die Fasson verloren; wie ein nasser Sack hängt er an ihm und verrät ganz nebenbei, wie sehr der einstmals so straffe Reiter in den letzten Jahren aus der Form gegangen ist.
Neben ihm steht schlank wie eine Tanne Luuk van Geeren, Chefparfümeur des Hauses, als wolle er durch seine aufrechte Haltung dem Firmeneigner mehr Kraft verleihen. Ich bewundere den Holländer mit der feinen Nase, der immer wieder aufregende neue Duftkreationen komponiert, wenngleich mit Carat die letzte nun bereits zwei Jahre zurückliegt.
Die ersten salbungsvollen Sätze des Chefs wirken wie abgelesen, obwohl ich keinerlei Manuskript in seinen Händen entdecken kann. Er spricht vom Dienst für das Gemeinwohl und kommt dann zu den Opfern, die der Krieg von uns allen fordert.
Meine Blicke fliegen zu den Arbeiterinnen aus der Seifenfabrikation. Ihre Schürzen verunzieren dicke weißliche Laugenstreifen, und die Haare, die sich zum Teil unter ihren vorgeschriebenen Kopftüchern hervorschummeln, sind strähnig. Sie alle leiden ausnahmslos unter schrundigen roten Händen, die oft noch Stunden nach der Arbeit gefühllos sind. Das hat mir ein junges Mädchen erst neulich weinend anvertraut. Dafür erhalten sie einen Lohn, der gerade zum Wohnen und Essen reicht, wobei Letzteres durch die Lebensmittelmarken zusätzlich eingeschränkt wird.
Welche weiteren Opfer kann man noch von ihnen verlangen?
Peter Paul Mülhens spricht jetzt über Grasse, die alte Parfümstadt am Fuß der französischen Seealpen, und nun wird seine Stimme schneidend. Das kleine Städtchen gehört zum Territorium des Vichy-Regimes – und genau das ist der springende Punkt, denn viele der Rosen- und Blumenbauern denken gar nicht daran, nach der Besetzung großer Teile ihres Landes weiterhin mit deutschen Firmen zusammenzuarbeiten. Widerstand erhebt sich; ganze Rosenlieferungen verschwinden spurlos, andere wiederum sind durch falsche Lagerung oder willkürliche Verschmutzung verdorben. Selbstredend werde nach den dafür Verantwortlichen gefahndet, die sich auf harte Strafen gefasst machen müssten, erklärt Mülhens. Doch, wie er sich ausdrückt: »Das füllt unsere leeren Duftöllager leider nicht wieder auf.«
Jetzt ist es raus.
Kurzarbeit bei der Parfümproduktion.
Drosselung des Ausstoßes beim Eau de Cologne um satte dreißig Prozent .
Einzig die Seifenherstellung bleibt unangetastet, allerdings nicht im hochpreisigen Bereich, sondern lediglich bei der günstigen Alltagsware.
Die Menschen in der Kantine ziehen die Köpfe ein, noch bevor er die hässliche Zahl verkündet hat.
»Vierzig Entlassungen. Die entsprechenden Kündigungsschreiben werden unverzüglich zugestellt. Ich wünschte, ich hätte bessere Nachrichten für Sie, liebe Mitarbeiter!«
Plötzlich kapiere ich, warum meine Kollegin Gisela Schütte in den letzten Tagen so blass und schweigsam war. Sie hat dieses Teufelszeug abtippen müssen, die Ärmste!
Und wenn auch ich darunterfalle?
Was wird dann aus Mamm – und aus Martin?
Der Gedanke verbrennt mich schier, und mein Magen krampft sich zusammen.
Während alle bedrückt zurück an ihre Arbeit gehen, hält es mich nicht länger im Büro. Luft brauche ich, muss wenigstens einmal richtig durchatmen, bevor ich mich wieder an meine Korrespondenz setzen kann.
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch laufe ich die Treppen hinunter, als sich die Tür im ersten Stock öffnet, hinter der van Geerens geheimes Laboratorium liegt, seine »Gifthöhle«, wie er es selbst nennt. Er scheint tief in Gedanken zu sein und nimmt mich erst wahr, als wir um ein Haar zusammenstoßen …
»Pardon«, murmelte van Geeren, plötzlich gar nicht mehr so standhaft und beherrscht wie noch gerade eben. »Wenn ich könnte, würde ich jetzt am liebsten eine rauchen gehen. Aber das verträgt sich nicht mit meinem Beruf. «
»Ich auch«, sagte Nellie. »Obwohl ich bislang immer husten musste, wenn ich es versucht habe.«
Er zeigte ein verrutschtes Lächeln, das rasch wieder erlosch.
»Sie sind übrigens nicht unter den Gekündigten, Fräulein Voss«, sagte er. »Und ich auch nicht. Noch nicht.«
Seine Worte beruhigten sie, erreichten aber nur ihren Kopf. Das mulmige Bauchgefühl hielt sich hartnäckig.
»Ich muss trotzdem kurz raus«, sagte sie und stieg weiter die Treppe nach unten.
Er folgte ihr.
»Kommen Sie«, sagte er, als sie im Freien angelangt waren. »Wir setzen uns für einen Moment zusammen auf die Rampe. Sie sind ja noch immer ganz grün um die Nase!«
Draußen, auf dem Hof des Werksgeländes, atmete Nellie tief ein und aus, und das Druckgefühl in ihrem Magen ebbte allmählich ab.
»Den Entlassenen wird wohl die Arbeit in einer der Rüstungsfabriken bevorstehen«, sagte er. »Patronenhülsen am Fließband anstatt Seife und Duftwasser. Keine schöne Vorstellung.«
»Sie tun mir alle so leid«, sagte sie. »Jeder hier hat gegeben, was er konnte.«
»Mülhens hat keine andere Wahl, wenn er nicht bald ganz zusperren will. Dieser Krieg zerstört alles«, fuhr van Geeren fort. »Und er vergiftet die Herzen der Menschen. Meine kleine Tochter bekommt das gerade sehr deutlich zu spüren.«
Nellie sah ihn fragend an .
»Sie wird von ihren Mitschülerinnen gehänselt, weil sie einen holländischen Vater hat. Und leider gibt es keine deutsche Mama mehr, die sie verteidigen könnte. Meine Frau, die aus Köln stammt, ist vor fünf Jahren an einem Aneurysma gestorben. Und dann noch dieser Name, über den sich alle lustig machen!«
»Wie heißt Ihre Tochter denn?«, fragte Nellie.
»Wie unsere Königin, die nach London geflohen ist: Wilhelmina Helene. Meine Frau und ich haben sie von klein auf Leni gerufen, aber diese fiesen Gören reiten jetzt ständig auf ihrem ersten Vornamen rum. ›Du bist so feig wie eure fette Königin Wilhelmina‹, beschimpfen sie sie. ›Und mindestens ebenso hässlich!‹ Am liebsten würde Leni jeden Tag die Schule schwänzen, aber das kann ich natürlich nicht zulassen. ›Zeig es ihnen‹, hab ich ihr gesagt. ›Sei stolz darauf, dass du eine halbe Holländerin bist‹, aber das ist natürlich leichter in einem schützenden Zuhause gesagt, als mutterseelenallein vor einer Horde feixender Mädchen getan …« Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als wollte er etwas wegwischen.
Van Geeren saß so nah neben ihr, dass Nellie den Geruch wahrnahm, den er verströmte: grüne Gräser, Nelkenaroma vielleicht, da war sie sich nicht ganz sicher, eine Spur Holz, und darunter etwas Dunkles, Animalisches, mit dem sie auf Anhieb nichts verbinden konnte.
Plötzlich begriff sie, woher diese Düfte stammen mussten, und ihr entfuhr unwillkürlich ein kleiner Laut.
»Ihnen ist nicht gut – und ich beschalle Sie mit meinen privaten Sorgen, verzeihen Sie bitte«, sagte van Geeren.
»Ist doch nur zu verständlich«, erwiderte Nellie. »Über meinen kleinen Bruder mache ich mir auch andauernd Gedanken – und leider meistens nicht ganz grundlos. Man versucht alles, um sie zu beschützen, und kann es im entscheidenden Augenblick dann doch nicht.«
»Genau so ist es«, bekräftigte er. »Ich hatte sogar schon daran gedacht, mit Leni in meine alte Heimat zurückzukehren, aber das ist momentan wohl keine gute Idee.«
Wieder dieses verrutschte Lächeln, das ihm so gut stand.
Wie alt mochte Luuk van Geeren sein? Um die vierzig? Oder etwas darüber? Nicht ganz leicht, ihn zu schätzen. In seinem dunkelblonden Schopf blitzten schon ein paar erste Silberhaare.
Aber wenn er lächelte, wirkte er trotz der kleinen Fältchen um die hellen Augen deutlich jünger.
»Außerdem laufe ich nicht gern davon«, fuhr er fort. »Erst recht nicht, wenn ich mitten in einer beruflichen Herausforderung stecke – oder sagen wir lieber: feststecke.«
»Sie arbeiten an einem neuen Duft?«, fragte Nellie.
»Woher wollen Sie das wissen?«, sagte er. »Firmenklatsch?«
»Nein. Ich habe es gerade gerochen«, erwiderte sie.
»Nicht möglich!« Verblüfft starrte er sie an.
»Aber genau so ist es.« Sie lächelte, und auf einmal war ihr kein bisschen mehr übel. »Meine Nase nimmt Dinge wahr, die andere nicht registrieren. Nicht immer das reinste Vergnügen, aber man ist machtlos dagegen.«
»Davon kann ich ein Lied singen.« Sein Blick bekam etwas Zwingendes. »Und Sie sagen gerade tatsächlich die Wahrheit?«
»Weshalb sollte ich lügen? «
»Wenn das so ist, erwarte ich Sie morgen früh Punkt neun in meiner Gifthöhle. Gehen Sie erst gar nicht rauf ins Büro, sondern kommen Sie gleich zu mir. Einverstanden?«
»Aber Fräulein Weber …«
»Die lassen Sie einstweilen meine Sorge sein. Und behalten Sie unsere kleine Verabredung bitte für sich.« Ein wenig steif erhob er sich. »Dann also bis morgen. Vaarwel , Fräulein Voss.«
Am nächsten Morgen, pünktlich um neun Uhr, betrat Nellie Luuk van Geerens Gifthöhle und blickte sich erstaunt um.
Was hatte sie eigentlich erwartet?
Eine Hexenküche? Glasphiolen, aus denen es zischte, brodelte oder dampfte?
Natürlich traf nichts davon zu.
Der weiß gekalkte Raum, in den van Geeren sie nach dem Anklopfen gebeten hatte, war hell und nüchtern. Im Hintergrund stand eine Art Regalwand mit unzähligen braunen Glasflaschen, davor ein Schreibtisch mit Drehstuhl.
Der Chefparfümeur führte Nellie zu einem Tisch am Fenster, auf dem ein weißes Kästchen stand. Zwanzig durchnummerierte Glasröhrchen steckten darin, jedes mit einem Korken verschlossen. Daneben lagen schmale, weiße Papierstreifen, ein weißes Blatt, ein Bleistift.
»Geht es Ihnen gut, Fräulein Voss?«, erkundigte er sich freundlich. »Ausgeschlafen? Weder Schnupfen noch Halsweh? «
»Alles bestens«, erwiderte sie, obwohl ihre Kehle auf einmal vor Nervosität ganz eng war. Dass sie sich vor lauter Aufregung stundenlang schlaflos im Bett gewälzt hatte, ging ihn schließlich nichts an. »Was muss ich tun?«
Sein halbes Lachen.
»Sie dürfen riechen«, erwiderte er. »Und das gleich zwanzigmal. Tauchen Sie je einen dieser Streifen in ein Röhrchen, und schnuppern Sie daran. Anschließend notieren Sie die Zahl, die auf dem Röhrchen steht, auf dem Papier und schreiben daneben, um welchen Geruch es sich Ihrer Meinung nach handelt. Natürlich können Sie Ihre Meinung ändern, so oft Sie wollen. Mich interessiert jeder Ihrer Dufteindrücke, also bitte nur durchstreichen, wenn Sie sich umentschieden haben, aber das Durchgestrichene lesbar lassen. Und noch etwas: Hetzen Sie sich nicht. Sie haben alle Zeit der Welt.«
»Und wenn ich den Geruch nicht erkenne?«
»Dann machen Sie einfach auf dem Blatt einen Strich. Sie dürfen zwischendrin auch gern aufstehen und ein paar Schritte gehen. Konzentriertes Riechen ist nämlich ganz schön anstrengend, das werden Sie spüren.«
Nellie begann.
Die ersten Fläschchen fielen ihr leicht: Rose, Veilchen, Zitrone, Orange, Pfefferminze, Kaffee, das war kein Problem. Langsam jedoch wurde es schwieriger. Ja, es roch nach reifem Obst – aber nach welchem? Nellie notierte Birne . Kiefer war wieder einfach, aber was zum Teufel war dieses bittere Aroma, das ihr bekannt vorkam, und trotzdem nicht in ihren Kopf wollte?
Wunderbaum stand irgendwann auf ihrem Blatt .
Je weiter sie sich vorarbeitete, desto öfter zögerte Nellie, entschied sich für ein Wort, schüttelte den Kopf, strich es wieder aus, roch erneut, schrieb ein anderes auf.
Als sie schließlich fertig war, fühlte sie sich erschöpft, und ihre Schläfen pochten.
»Ich wäre dann so weit«, sagte sie.
Van Geeren war sofort neben ihr und überprüfte das Geschriebene.
»Verblüffend«, murmelte er. »In der Tat wirklich verblüffend!«
»So schlecht?«, wollte Nellie wissen.
»So gut! Siebzehn Richtige von zwanzig, das ist geradezu sensationell. So ein Talent dürfen wir nicht brachliegen lassen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich werde mit Herrn Mülhens reden«, entgegnete er. »Falls er einverstanden ist, wäre ich gern bereit, Sie zu schulen. Vorausgesetzt natürlich, Sie sind ebenfalls einverstanden.«
»Wollen Sie damit etwa andeuten, ich könnte bei Ihnen Riechen lernen?«, fragte Nellie atemlos.
Dieses Mal lachte er laut.
»Riechen können Sie bereits, und zwar erstaunlich gut. Aber Ihre feine Nase weiterentwickeln zu dürfen wäre mir ein ganz besonderes Vergnügen.«
Stolz wie ein Trapper war Martin mit den anderen Jungs in die Marienfreizeit gezogen. Doch er kam verändert zurück, schweigsam, in sich gekehrt und, was besonders auffällig war, einen ganzen Tag zu früh .
Jedes Wort musste man ihm aus der Nase ziehen, so sehr schien er mit sich selbst beschäftigt zu sein, und während ihre Mutter schnell aufgab, weil auch am Sonntag die Arbeit in der Kneipe auf sie wartete, erwachte in Nellie ein Verdacht. Seit ihr Bruder dem Kleinkindalter entwachsen war, respektierte sie seine Privatsphäre, trat niemals in sein Zimmer, wenn er sich gerade umzog, und mied das Bad, wenn er sich wusch oder in der Wanne lag.
Doch heute machte sie eine Ausnahme.
Martin war kaum im Badezimmer verschwunden, da riss sie schon ohne Vorankündigung die Tür auf. Zu schnell, als dass er wieder in sein Hemd hätte schlüpfen können.
»Geh sofort raus!«, brüllte er, mit nacktem Oberkörper am Waschbecken stehend.
»Ich denke gar nicht daran.«
Sie trat näher.
»Wer hat dich so zugerichtet?«, fragte sie finster, während sie die gelben, grünlichen und lila schimmernden Blutergüsse auf seinen Rippen und dem Rücken inspizierte. »Tut es sehr weh?«
»So gut wie gar nicht«, stöhnte Martin, und sie wussten beide, dass er log.
»Willst du dich bei Dr. Klein ansehen lassen?«, fragte Nellie.
»Niemals! Das heilt schon wieder …«
»Hast du ihn gekannt?«, bohrte sie weiter. »Oder waren es gleich mehrere?«
Unverständliches Brummen war die Antwort.
»Du hast sie also gekannt«, folgerte Nellie. »Wer waren sie? «
Erschrocken starrte Martin sie an.
»Wenn du nicht auf der Stelle mit der ganzen Geschichte rausrückst, hole ich die Mamm!«
Stockend und mit vielen Pausen begann er zu erzählen, und was er hervorbrachte, schockierte Nellie. Nach einem Bad im einsamen Dornheckensee seien sie auf einmal von Angreifern umzingelt gewesen. Ein Wort habe das andere gegeben, Beleidigungen wie »Betschwestern« auf der einen Seite und »HJ-Rotte« auf der anderen seien hin- und hergeflogen, und schließlich auch die ersten Fäuste.
»Sie waren älter und deutlich in der Überzahl«, sagte Martin. »Aber wir haben uns ordentlich gewehrt.«
»Die von der HJ haben euch einfach so angegriffen?«, fragte Nellie skeptisch. »Grundlos?«
»Weil sie an den Fahrrädern unsere kleinen Marienfahnen entdeckt hatten. ›Es gibt nur noch eine einzige Jugendorganisation im Deutschen Reich‹, haben sie gegrölt, ›und zwar die Hitlerjugend!‹ Das würden sie uns schon einbläuen. Außerdem würden sie uns den HJ-Streifendienst auf den Hals hetzen, falls sie uns noch einmal bei so einem kirchlichen Ferienlager erwischen sollten. Damit haben sie gedroht.«
»Was hat der Kaplan gemacht?«
»Benedikt war mit ein paar anderen aus unserer Gruppe beim Holzsammeln und kam erst zurück, als alles schon vorbei war. Aber er hat sich furchtbar aufgeregt. ›Das wird ein Nachspiel geben‹, hat er gesagt. ›Kein Katholik muss sich wegen seines Glaubens verprügeln lassen!‹«
»Seit wann nennst du den Kaplan beim Vornamen?«, fragte Nellie irritiert .
Martin strahlte, und für den Moment schienen all seine Schmerzen vergessen. Er ähnelte dabei so sehr ihrem verstorbenen Vater, dass sie richtig schlucken musste – dieselben störrischen braunen Haare, die sich niemals ordentlich glatt striegeln ließen, dieselben blitzblauen Augen und die robuste Haut, die schnell in der Sonne bräunte, während sie selbst Mamms empfindlichen Teint und deren rotblonde Locken geerbt hatte.
»Am Lagerfeuer hat er uns das Du angeboten«, erklärte Martin voller Stolz. »Weil wir jetzt doch fast so etwas wie Blutsbrüder sind. Beim Ministrieren siezen wir ihn natürlich weiterhin. Versteht sich ja von selbst.«
Sein Gesicht wurde wieder ernst.
»Leider mussten wir gleich am Morgen darauf die Zelte zusammenpacken und zurück nach Hause fahren. Länger dort zu bleiben, sei zu gefährlich, hat Benedikt gemeint.«
»Und damit hatte er vollkommen recht«, sagte Nellie. »Was hätte euch dort noch alles passieren können! Ich darf gar nicht daran denken …«
»Du musst mir versprechen, der Mamm nichts davon zu erzählen. Bitte, Nellie!« Auf einmal klang er wieder wie ein kleiner Junge. »Sonst lässt sie mich doch niemals wieder irgendwo hin.«
Nellie zögerte. Es kostete sie einige Überwindung, ihrer Mutter nichts davon zu sagen, doch schließlich nickte sie. Was hätte es auch schon gebracht? Martins blaue Flecken gingen davon auch nicht schneller weg. Und die Sorgen ihrer Mutter wären nur noch größer geworden.
»Aber sieh dich künftig vor!«, ermahnte sie ihren Bruder. »Keine unnötigen Provokationen, Freundchen! Sie sitzen eindeutig am längeren Hebel. Das haben sie euch gerade schmerzhaft beigebracht.«
»Ich mag gar nicht mehr zu den Pimpfen gehen«, murmelte er mit gesenktem Kopf. »Und zur HJ erst recht nicht, wenn ich im Frühling vierzehn bin.«
»Aber das musst du«, sagte Nellie. »In zwei Tagen fängt dein letztes Schuljahr an; danach brauchst du eine Lehrstelle. Und keiner nimmt heutzutage einen Lehrling, der aus der Reihe schert. Wird ohnehin schon schwer genug werden, mitten im Krieg was halbwegs Anständiges zu finden. Allzu wählerisch darfst du nicht sein. Sonst bleibt dir nur die Fabrik …«
»Vergiss es!«, fiel er ihr ins Wort. »Tag für Tag in einer Halle am Fließband stehen? Das halte ich nicht aus. Schreiner will ich werden, so wie Opa. Dann kann ich alle Möbel selber bauen. Auch für dich, wenn du magst.« Selbstbewusst sah er sie an. »Ist doch schon so etwas wie unsere Familientradition, oder etwa nicht?«
Martin verblüffte sie immer wieder: In einem Augenblick konnte er ängstlich oder übertrieben forsch sein, und schon im nächsten fast ein junger Mann, der genau wusste, was er wollte.
Nellie wurde ganz warm ums Herz.
Wie lieb sie ihren kleinen Bruder hatte! Alles, was in ihrer Macht stand, würde sie tun, damit er glücklich wurde.
»Dann wasch dich mal ordentlich, du zukünftiger Schreiner«, sagte sie. »Und pass auf, dass Mamm deine Blessuren nicht zu Gesicht bekommt. Ihr direkt ins Gesicht lügen werde ich nämlich nicht. Das wäre dann doch etwas zu viel verlangt. «
Drei Tage später passte Greta Nellie nach der Arbeit vor dem Werkstor ab. Noch ganz erfüllt von der Freude am Geruchstraining bei van Geeren lächelte Nellie die Freundin an, wurde aber schnell wieder ernst, als sie Gretas verweintes Gesicht registrierte.
»Was ist passiert?«, fragte sie besorgt.
»Der Termin für die Verlobungsfeier steht jetzt fest«, schluchzte Greta. »Das ist passiert!«
»Aber wie kann das denn sein …« Nellie schob sie behutsam in den nächsten Hinterhof. Musste ja nicht gleich die ganze Belegschaft mitbekommen, wie schlecht es Greta Farina ging.
»Ich hab alles genau so gemacht, wie wir es besprochen hatten«, stieß ihre Freundin zwischen lauten Schluchzern hervor. »Aber schon als ich mit dem teuren Kleid anfing, wollte Viktor nichts davon hören. ›Du bist doch in allem schön, Herzallerliebste‹, hat er gesagt. ›Außerdem kann ich mir kaum vorstellen, dass dein Vater sein einziges Kind nicht standesgemäß ausstatten würde.‹ Anschließend muss er gleich zu Papa gerannt sein.«
»Und dann? Was ist dann passiert?«
»Der ist stockwütend geworden, hat mich zu sich zitiert und mich in Grund und Boden geschimpft. Was mir denn einfiele? Ob ich unsere Firma absichtlich zugrunde richten wolle, indem ich haltlose Gerüchte verbreite? Natürlich könnten wir Farinas uns eine große Verlobungsfeier mit allem Drum und Dran leisten! Und weißt du auch, wann sie stattfinden soll? Am 14. November – meinem 23. Geburtstag!« Inzwischen weinte sie bitterlich. »Ich möchte tot sein, Nellie, einfach nur noch tot! «
»Das sind ja noch drei Monate.« Nellie begann fieberhaft zu überlegen. »Bis dahin kann eine Menge geschehen …«
»Nein, bitte keine Pläne mehr, die alles nur noch schlimmer machen«, flehte Greta. »Sonst verheiraten sie uns vielleicht noch auf der Stelle! Und mir vorzustellen, dass er mich am ganzen Körper anfasst und ich nichts dagegen tun kann, weil er ja mein Ehemann ist …« Sie schüttelte sich.
»Aber du kannst die Ehe doch keinem Mann versprechen, vor dem es dir so graut«, sagte Nellie. »Wir leben schließlich nicht mehr im Mittelalter! Warum nimmst du nicht all deinen Mut zusammen und sagst Viktor, dass du ihn leider nicht mehr liebst?«
»Weil er mich dann umbringen würde«, erwiderte Greta mit zittriger Stimme.
»Ach, das denkst du jetzt nur …«
»Nein«, widersprach Greta. »Genau das hat er gesagt.«
Nellie blieb für einen Moment der Atem weg. Sie wusste, dass Greta zu Übertreibungen neigte, aber das hatte so ernst und angstvoll geklungen, dass es die Wahrheit sein musste.
»Greta, das darf doch nicht sein«, stammelte sie hilflos. »Du musst unbedingt mit deinen Eltern sprechen …«
»Ich fürchte, das wäre vollkommen zwecklos.« Greta zog ein Taschentuch aus ihrer Jacke und putzte sich die Nase. »Ich muss jetzt wieder nach Hause. Verzeih, dass ich dich so überfallen habe …«
»Dazu sind Freundinnen schließlich da«, sagte Nellie. »Willst du nicht noch auf einen Sprung mit zu uns kommen? Das würde dich vielleicht ablenken. «
»Danke, vielleicht ein anderes Mal.« Sie schien sich wieder gefasst zu haben. »Ich gehe lieber ein Stück zu Fuß. Dann bis Sonntag, Nellie. Wir sehen uns beim Gottesdienst.«
Greta schlüpfte aus der Auffahrt hinaus auf die Venloer Straße und ließ Nellie wie betäubt und voller Schuldgefühle zurück.
Statt ihrer Freundin zu helfen, hatte ihr Rat Greta in noch größere Kalamitäten gebracht. Wie sehr wünschte Nellie sich, jetzt ihr Gewissen erleichtern zu können! Aber sie konnte ja schlecht beichten gehen und ihre größte Sünde dabei verschweigen …
Doch still die Gottesmutter um Hilfe anflehen, das konnte sie, und so legte sie auf dem Heimweg einen Zwischenhalt ein.
Wie immer stand die Tür von St. Joseph allen Gläubigen offen.
Nellie schlug ein Kreuz, benetzte sich mit Weihwasser und kniete sich dann vor die Marienstatue mit dem Jesuskind, die diesmal mit leuchtend gelb blühenden Lilien geschmückt war.
Lilienduft, dachte sie unwillkürlich. Süß, doch in der Tiefe schlummert Bitternis … Sie erschrak über sich selbst. Registrierte sie jetzt schon beim Gebet die Gerüche um sich herum?
Reumütig senkte sie den Kopf und faltete die Hände.
Und für ein paar Augenblicke gelang ihr tatsächlich ein stiller Dialog mit der Gottesmutter.
Als sie sich wieder erhob, kam gerade Kaplan Weiss aus der Sakristei .
»Guten Abend, Nellie«, sagte er. »Schön, dass ich Sie hier antreffe. Ich wollte ohnehin mit Ihnen reden.«
»Ja?« Ihre Stimme klang auf einmal dünn.
»Martin hat Ihnen erzählt, was am See passiert ist?«
»Das hat er.«
»Ich mache mir solche Vorwürfe, dass ich ausgerechnet in dieser Stunde nicht da war. Ich hätte die Jungs schützen müssen, das habe ich ihren Eltern schließlich versprochen.« Sein Blick wurde eindringlich. »Wie nimmt er es denn?«
»Martin ist keiner, der jammert«, sagte Nellie. »Aber sie haben ihn ordentlich zugerichtet. Er sagte, Sie wollten der Sache nachgehen?«
»Genau das habe ich versucht, aber Pfarrer Greven, der erstaunlicherweise über alles bestens im Bilde war, hat mich abgeschmettert. Eine Rauferei unter Jungs, nicht weiter der Rede wert, hat er gesagt, und dass die Rauferei schließlich vermeidbar gewesen wäre, hätte ich nicht auf der Marienfreizeit bestanden. Er hat mir verboten, jemals wieder ein Ferienlager auszurichten. Meine Hand musste ich ihm darauf geben, dass ich diese Anordnung nicht heimlich unterlaufe. ›Sie schaden mit solchen Aktionen nicht nur der Gemeinde, Weiss‹, hat er gepoltert. ›Durch Ihre Eigenmächtigkeit schaden Sie der gesamten katholischen Kirche in einer ohnehin schwierigen Zeit.‹«
Er berührte ihren Arm.
»Ich schäme mich«, sagte er. »Und komme mir gleichzeitig so hilflos vor. Was können sie noch verlangen, ohne dass wir uns dagegen wehren?«
Für einen Moment schien die Welt stillzustehen .
Die Wärme seiner Hand drang durch den dünnen Stoff ihrer Bluse, und Nellie wünschte sich, es würde für ewig so bleiben.
Doch der Kaplan zog seine Hand wieder zurück.
»Verzeihen Sie bitte, Nellie«, sagte er. »Jetzt bin ich zu weit gegangen – Sie mit meinen schwarzen Gedanken zu behelligen. Es wird nicht wieder vorkommen. Die Exerzitien, denen ich mich ab morgen im Kloster Lorch unterziehe, werden mein Blut hoffentlich etwas kühlen. Aber Martin, mein Patenkind, liegt mir so sehr am Herzen …«
»Mir doch auch«, flüsterte sie. »Wann werden Sie wieder zurück sein?«
»Sicherlich nicht vor Allerheiligen«, erwiderte er düster. »Pfarrer Greven hat von langen, harten Bußübungen gesprochen.«