8
Köln, Frühling 1941
Oma Hildegard ist schwerkrank. Das geht uns allen entsetzlich nah. Krebs, sagen die Ärzte, und leider unheilbar. Sie ist kleiner und zerknitterter geworden, und von Woche zu Woche scheint sie immer noch mehr zu schrumpfen. Doch selbst jetzt, wo ihr das Essen zunehmend zur Qual wird, behält sie ihr Lächeln. Seit wir uns erinnern können, hat sie in ihrem Häuschen in Bickendorf gelebt und uns dort stets fröhlich je nach Jahreszeit mit Rührkuchen, Reisfladen oder Mutzemandeln verwöhnt. Besonders Martin hängt sehr an ihr, vor allem seitdem unser Bap gestorben ist und auch Opa nicht mehr lebt. Als kleiner Junge hat er oft in ihrem Gärtchen gespielt, und bei unserem letzten Besuch hat sie ihm Opas Werkzeugtasche geschenkt. Erst wollte er sie gar nicht annehmen, weil ihm sehr wohl bewusst ist, was diese Geste bedeutet – dass ihr und ihm nicht mehr viel Zeit bleiben wird. Dann aber kam trotz aller Traurigkeit doch so etwas wie Freude bei ihm auf.
»Wildung wird Augen machen. Und der Schmitz Jupp erst recht«, hat er gerufen. »Ich bin nämlich kein doofer Lehrbub, der von nichts eine Ahnung hat. Schließlich habe ich Opa beim Schreinern oft genug zugesehen, und manchmal hat er mich sogar an seine Werkbank gelassen! «
Martin kann es kaum erwarten, bis es endlich mit der Lehre losgeht, und in wenigen Wochen ist es ja auch so weit. Die Schulbank ödet ihn nur noch an, weil er den Stoff längst intus hat. Noch schlimmer aber sind für ihn die Pflichtabende bei der HJ, die er nur zähneknirschend besucht, weil er genau weiß, was alles davon abhängt. Der militärische Drill dort stößt ihn ab; er will nicht in Reih und Glied marschieren und dabei Lieder grölen, die andere verhöhnen. Mein Bruder mag keinen dort, und keiner mag ihn, so beschreibt er es mir, aber er muss leider trotzdem weiter durchhalten, etwas anderes kann ich ihm auch nicht sagen.
Weil Oma unsere Hilfe jetzt immer mehr braucht, bin ich über Wochen nicht mehr zum Tagebuchschreiben gekommen. Die Arbeit bei 4711, meine Privatschulung bei van Geeren, der Dienst im Halflang  – da bleibt für Privates fast keine Zeit mehr. Hinzu kommt, dass unsere Nachtruhe jetzt immer öfter von Fliegeralarm unterbrochen wird. Das zu unserem Leidwesen mittlerweile schon vertraute Heulen der Sirenen bedeutet: aufstehen, schnell etwas anziehen und in den Luftschutzkeller laufen, bis endlich wieder die Entwarnung ertönt.
Aber ergibt das auch wirklich Sinn?
Unser Haus, in dem auch das Halflang liegt, ist bei Weitem nicht so stabil gemauert, dass ich dem Fundament wirklich trauen würde. Eng ist es in dem niedrigen Keller, wenn sich alle Mieter hier unten versammelt haben; es mieft und ist kalt, und ich leide seit Wochen an einem hartnäckigen Husten, der gar nicht mehr verschwinden will. Nach solch gestörten Nächten fühle ich mich am nächsten Morgen wie gerädert, und manchmal bin ich so müde, dass ich beim Stenografieren fast einnicke.
Und erst diese ständige Angst, dass die britischen Bomben nicht nur unser bisschen Hab und Gut zerstören, sondern uns alle auslöschen! Bislang ist Ehrenfeld weitgehend von ihnen verschont geblieben, und die wenigen Einschläge wirken eher unsystematisch verstreut. Aber letzte Woche haben über hundert Kampfflieger Köln angegriffen, und sie waren so schnell über der Stadt, dass die Flak das Nachsehen hatte. Es gab Tote und viele Verletzte, in Kalk brannten ganze Straßenzüge lichterloh, Telefonkabel wurden zerfetzt.
Wann werden wir Ehrenfelder an der Reihe sein?
Der Krieg, den wir vor Kurzem noch auf entfernten Schlachtfeldern wähnten, ist längst bei uns angekommen. Kein Zivilist, der sich abends ins Bett legt, kann mehr sicher sein, ob er am Morgen noch ein Dach über dem Kopf hat oder nicht vielleicht unter den Trümmern seines Hauses begraben liegt.
Diese ständige Ungewissheit macht uns alle gereizt und dünnhäutig. Zudem kommen viele in der Stadt mit dem komplizierten System staatlicher Zuteilungen nur schlecht zurecht: Brot-, Fleisch-, Fett-, Eier- und Marmelade-/Zuckerkarten – wer soll da noch den Durchblick behalten? Wer allein auf Lebensmittelmarken angewiesen ist und nicht wie wir eine Möglichkeit zum illegalen Tauschhandel hat, bei dem man sich allerdings nicht erwischen lassen darf, ist wirklich arm dran.
Ja, der Alltag in Köln ist hart geworden.
Gäbe es da nicht diese gelegentlichen Sonntage, an denen Benedikt zu uns zum Mittagessen kommt, ich hätte noch viel mehr zu klagen. Doch auch sie sind für mich Segen und Fluch zugleich, denn natürlich besucht er uns in seiner Funktion als Martins Pate. Ich fühle mich jedes Mal innerlich wie zerrissen: Einerseits kann ich es kaum erwarten, bis endlich sein Klingeln ertönt, andererseits bin ich voller Angst, mich durch Blicke oder Gesten zu verraten. Benedikt benimmt sich tadellos, das muss ich zu meinem Leidwesen eingestehen; nicht einmal der Heilige Vater in Rom hätte etwas gegen diesen mustergültigen Kaplan einzuwenden.
Mit Mamm unterhält er sich über seine kleinen Schützlinge im Kommunionsunterricht und mit Martin über Fußball. Mir antwortet er freundlich, aber vollkommen unbefangen, wenn ich ihn etwas frage.
Hat er unseren aufregenden Tanz bei Gretas Verlobungsfeier ganz vergessen?
Fast befürchte ich das, da droht mir beim Aufräumen in der Küche eine Schüssel aus der Hand zu gleiten. Benedikt steht neben mir; er lässt es sich nicht nehmen, beim Abtragen mitzuhelfen, um auch seinen Part zu leisten, wie er sagt, und greift blitzschnell danach.
Unsere Hände berühren sich.
Für mich fühlt es sich an wie ein elektrischer Schlag.
Die Schüssel ist gerettet, aber er wirkt plötzlich ganz verlegen und kann mich nicht mehr ansehen. Und obwohl nach außen hin kaum etwas geschehen ist, beginne ich innerlich zu jubeln. Ich bin ihm also doch nicht vollkommen gleichgültig, sonst würde er nicht so reagieren! Benedikt empfindet etwas für mich – und darf es doch nicht!
Seitdem schwanke ich zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Euphorie und tiefster Verzweiflung .
Liebt er mich etwa auch?
Oder hasst er mich dafür, dass ich solch verbotene Gefühle in ihm auslöse?
Wird er sich womöglich erneut hinter schützende Klostermauern flüchten, weil ihm alles zu viel wird?
Ach, wenn ich doch nur mit jemandem darüber reden könnte!
In meiner inneren Not spiele ich sogar mit dem Gedanken, mich van Geeren anzuvertrauen. Der versteht als Protestant den Sinn des Zölibats nicht, wie er vor einiger Zeit kopfschüttelnd in einem Nebensatz geäußert hat. Doch dann verwerfe ich diese verrückte Idee wieder.
Was würde er von mir denken? Eine erwachsene Frau, die sich wie ein verschmähter Backfisch aufführt! Womöglich wäre dann seine ganze Achtung, an der mir doch so viel liegt, verschwunden.
Außer der Muttergottes, die all unsere Sorgen versteht, gibt es also niemanden, dem ich mein Gefühlschaos offenbaren kann.
Nicht einmal Greta.
Nach der Verlobungsfeier hat sie mich wochenlang gemieden, als ob allein mein Anblick die scheußlichen Erinnerungen an jenen Abend erneut heraufbeschwören könnte.
Oder hat Viktor ihr inzwischen jeglichen Kontakt zu mir untersagt? Die Fakten könnten dafür sprechen: keine Einladung zum Adventspunsch bei den Farinas, wie sonst jedes Jahr, kein einziges Weihnachtspäckchen, nicht einmal ein Kartengruß. Auch sonntags bleibt der Platz auf der Kirchenbank neben mir jetzt immer leer.
Als ich Greta Anfang Februar zu Hause in Lindenthal besuche, weil ich endlich wissen will, was mit ihr los ist, muss ich mich bemühen, mein Erschrecken zu verbergen. Sie sieht aus wie ein Gespenst. Ihre Haut schimmert in einem ungesunden Grünton, und die einst so properen Wangen sind eingefallen.
»Bist du krank?«, rutscht es mir heraus.
»Nicht mehr.«
Greta lächelt gequält. Dann beginnt sie zu singen:
Petersilie, Suppenkraut
Wächst in unserem Garten
Unsre Greta ist die Braut
Soll nicht länger warten.
Roter Wein, weißer Wein,
morgen soll die Hochzeit sein …
Perplex starre ich sie an.
»Was soll das?«, frage ich ungehalten.
Hat sie jetzt den Verstand verloren? Oder will sie sich über mich lustig machen?
»Erinnerst du dich nicht?«, sagt sie wehmütig. »Ein Spiel, das kleine Mädchen lieben. Ich hab es früher so gern gesungen …«
Noch während sie redet, nimmt in meinem Kopf ein schrecklicher Gedanke Gestalt an: Niemals Petersiliensamen oder Petersilienöl in der Schwangerschaft, so lautet ein ungeschriebenes Gesetz, das seit Generationen von Mutter zu Tochter weitergereicht wird.
»Du hast doch nicht etwa …« Ich kann den Satz nicht beenden .
In Gretas Augen erscheint ein fiebriger Glanz.
»Ein hässlicher blutiger Klumpen im Abort«, sagt sie. »Und vorbei war es mit Viktors Samensieg. Selbst wenn ich nie mehr schwanger werden kann – das war es mir wert!«
»Und wie geht es dir jetzt?«, frage ich beklommen.
Wie kann sie nur so kalt darüber reden? Ist mit dem ungeborenen Kind auch Gretas Herz gestorben?
»Ich hab’s überlebt. Zumindest das.«
»Dann musst du ihn jetzt gar nicht mehr heiraten?«, bohre ich nach.
Greta schließt kurz die Lider, als koste die Antwort sie unendlich viel Kraft.
»Standesamtliche Trauung am 20. Juni«, leiert sie schließlich herunter wie ein auswendig gelerntes Programm. »Dr. Peter Winkelnkemper, unser brandneu gekürter Bürgermeister, macht für Viktor den Trauzeugen. Magst du meine Trauzeugin sein? Dann musst du am besten gleich deinen Urlaub einreichen.«
Sehenden Auges soll ich die Freundin ins Unglück geleiten?
Alles in mir sträubt sich dagegen.
»Willst du dir das wirklich antun?«, frage ich. »Du könntest dich doch deinen Eltern anvertrauen …«
»Nein!«, schreit sie. »Niemals!«
»Aber du bist ihr einziges Kind, und wenn sie erfahren, was Viktor dir …«
»Bitte!« Ganz zart berührt sie meinen Arm. »Quäl mich nicht weiter, Nellie. Du kommst doch ganz bestimmt auch zu meiner Trauung im Dom?«
Schließlich willige ich ein. Aber ich fühle mich richtig schlecht dabei. Und ich bin sehr traurig .
Was ist nur mit uns passiert?
Noch vor Kurzem waren wir uns so nah. Jetzt sind wir wie zwei Schiffe, die ein Strom trennt, breiter als der Rhein. Wir reden miteinander, aber wir erreichen uns nicht mehr.
Es tut furchtbar weh.
Beim Gehen lasse ich zum ersten Mal das liebevoll eingepackte Gastgeschenk auf der Flurkommode liegen. Den Duft der roten Nelke mitzunehmen, der mich stets erfrischt und beglückt hat, käme mir heute wie Verrat vor. Als beste Freundin hätte ich Greta klarmachen müssen, dass sie mit dieser Entscheidung für eine Ehe mit Viktor ihr Leben wegwirft. Mit Engelszungen hätte ich sie beschwören, ihr so lange ins Gewissen reden müssen, bis sie endlich wieder zur Vernunft gekommen wäre.
Doch das habe ich leider nicht getan.
Anstatt sie vor einer Dummheit zu bewahren, habe ich kläglich versagt. Ich möchte weinen, weil ich mich dafür schäme, doch es kommen keine Tränen.
Innerlich aufgewühlt, nehme ich die Straßenbahn zurück nach Ehrenfeld.
Inzwischen ist es Mai, und Oma Hildegard geht es immer schlechter. Sie kann das Bett kaum noch verlassen, liegt winzig und abgemagert unter ihrer Decke. Ins Krankenhaus will sie nicht. Sie möchte in ihrem Häuschen sterben, sagt sie immer wieder. Mamm und ich sehen jeden Tag nach ihr; zum Glück hat sie noch ihre Nachbarin Berta, die viele Stunden bei ihr wacht und manchmal sogar ihren schwarzen Kater mitbringt, der sich an Omas Fußende einkringelt. Auch Martin fährt jedes Mal gleich nach der Arbeit zu ihr und erzählt voller Begeisterung, wie er lernt, Schubladen zu zinken und Kanten richtig zu schleifen. Mit Jupp, dem Gesellen, scheint er bereits Freundschaft geschlossen zu haben. Ein paarmal hat der ihn sogar schon mit zu Oma begleitet.
Mir ist der Rotfuchs mit der großen Klappe zwar sympathisch, in seiner ungestümen Direktheit aber auch ein wenig suspekt. Ich kann nur hoffen, dass er meinen Bruder zu keinen Eskapaden verführt, die Martin anschließend bitter bereuen müsste. Als ich ihn frage, warum er nicht bei der Wehrmacht ist, grinst er und murmelt etwas von »zum Glück verwachsen«, und jetzt sehe ich es auch: Jupps Rücken ist verkrümmt – wäre man gemein, könnte man ihn bucklig nennen. Er tarnt es ganz geschickt mit weiten Hemden und Jacken, aber ich könnte wetten, dass diese körperliche Versehrtheit ihm bereits jede Menge Spott eingetragen hat. Die HJ wollte einen wie Jupp nicht haben; Krüppel wie er sind dort, wie er es sarkastisch formuliert, »nicht allzu begehrt«. Dabei kann er singen wie kaum ein anderer, und seine Klampfe hat er fast immer dabei. Seitdem greift auch Martin wieder öfter zu Baps alter Gitarre.
Oma freut sich, wenn die beiden ihr zusammen vorspielen, dann liegt sie ganz ruhig, und ihr Lächeln wirkt fast selig.
Aber wie lange wird sie uns noch bleiben?
Wenn sie stirbt, gibt es nur noch Martin, Mamm und mich. Wir sind zu einem kläglichen Rest zusammengeschrumpft, der nur noch sich selbst hat.
Und wenn einem von uns etwas passiert – was dann ?
Dieser Gedanke beschäftigt mich ständig. Bei der Arbeit kann ich ihn noch halbwegs wegschieben, und das ist auch gut so, denn Fräulein Weber duldet keinerlei Nachlässigkeiten. Briefe werden nicht ausgebessert – so lautet im Haus Mülhens die Regel. Passiert ein Fehler, muss alles noch einmal neu abgetippt werden, egal, wie spät es auch sein mag.
Doch kaum bin ich in van Geerens Gifthöhle, ist es mit meiner Beherrschung auch schon vorbei. Er merkt natürlich ganz schnell, dass ich mit den Gedanken anderswo bin, und nötigt mich zum Reden. Das mit Benedikt schlucke ich schnell noch hinunter, doch die Sorge um die Oma tropft nur so von meinen Lippen.
»Es tut immer weh, wenn jemand geht, Nellie«, sagt er ganz sanft. Seit einiger Zeit nennt er mich nun so, wenn wir zu zweit sind, und ich mag es so viel lieber als das steife »Fräulein Voss«, zu dem er geschickt wechselt, wenn andere aus der Firma dabei sind, damit es kein Gerede gibt. »Dabei kann der Tod für die Sterbenden auch eine Erlösung sein. Ihre Oma hat ihr Leben gelebt; jetzt plagen sie nur noch Schmerzen. Es wird ihr besser gehen, wenn sie die Brücke zur anderen Welt überschritten hat, daran sollten Sie denken. Hedi, meine Frau, hat mir das gesagt, kurz bevor sie starb: ›Lass mich gehen, Luuk. Es ist Zeit …‹«
Seine Schultern beben.
Ich mag es, dass er seine Gefühle nicht versteckt, sondern so offen zu mir ist.
»Ich kann gar nicht richtig riechen, wenn ich so traurig bin«, gestehe ich.
»Da liegen Sie vollkommen falsch, Nellie! Emotionen machen uns durchlässig. Öffnen Sie sich ihnen – und erweitern Sie Ihren Radius! Kommen Sie, ich habe heute eine wunderbare frische Kräuterlieferung erhalten. Auf diese wollen wir einmal Ihre Nase ansetzen …«
Ich lasse alles mit mir geschehen, ohne zu protestieren, sogar als Luuk van Geeren mir die Augen mit einem Tuch verbindet – obwohl ich noch immer felsenfest davon überzeugt bin, garantiert schmählich zu versagen.
Dann hält er mir das erste Büschel unter die Nase.
»Dill«, sagte ich prompt, weil der in Omas Gärtchen wächst, und ich liege natürlich richtig.
Die nächste Probe.
Es riecht kraftvoll und warm, ganz leicht nach Kampfer.
»Fenchel«, lautet mein Tipp.
»Beinahe.« Van Geeren lacht. »Es ist Anis. Sie enthalten beide Anethol, und wenn man zu viel von ihnen konsumiert, kann es zu Halluzinationen oder Epilepsie führen.«
Beim nächsten Kraut verziehe ich angewidert das Gesicht, weil ich sofort an Greta denken muss.
»Petersilie«, stoße ich hervor.
»Ganz genau. Riechen Sie die warme, pfefferartige Note?«, höre ich ihn fragen. »In der Antike haben sie sich Kränze aus Petersilie aufgesetzt, um nicht so schnell betrunken zu werden. Und schwangere Frauen wurden stets gewarnt, keinesfalls Petersilienöl …«
»Weiter«, sage ich rau.
Kurz darauf steigt ein neuer Duft in meine Nase, der mich in seiner Penetranz zurückweichen lässt. Ich krame in meiner Erinnerung, aber da ist nichts, was sich damit verbinden ließe. Schließlich zucke ich ratlos die Schultern.
»Koriander«, erlöst mich van Geeren. »Seine reifen Früchte riechen blumig-würzig; unreif stinken sie wie zerquetschte Bettwanzen. Das Kraut dagegen teilt die Geister: Die einen mögen seinen Geruch, die anderen – wie Sie gerade – finden ihn unerträglich.«
Er lacht wieder. »Zur Belohnung Ihres Riechkolbens gebe ich Ihnen jetzt etwas Schönes …«
»Lavendel«, antworte ich sofort.
»Ganz genau. Zur Herstellung des ätherischen Öls von echtem Lavendel werden die frisch geernteten Blumenstände einer Wasserdampfdestillation unterzogen. Darin verbindet sich der angenehme Blumen- mit dem erfrischenden Krautduft in harmonischer Weise, abgerundet durch balsamische Noten.«
Er lässt mich an einem Fläschchen schnuppern, und ja, jedes Wort, das er gesagt hat, ist wahr.
»Wir bleiben im Süden, Nellie. Damit Sie es leichter haben, habe ich die Blätter ein wenig zerrieben.«
Ich bin mir nicht sicher, sage aber schließlich doch: »Estragon.«
»Ja, könnte man denken, aber es ist Basilikum. Der Süden schätzt es sehr in seiner Küche. Ein gutes pesto genovese wird man nicht so schnell wieder vergessen …«
Wie dumm ich bin, wie ungebildet!
Neben diesem weit gereisten Mann komme ich mir vor wie ein Schulkind. Luuk van Geeren scheint zu spüren, dass ich mich innerlich verkrampfe.
»Die Italiener zerstoßen frisches Basilikum mit Öl, Salz, Pfeffer und Pinienkernen. Das kommt dann auf die gekochten Nudeln und schmeckt himmlisch«, fügt er hinzu. »In Genua bekommt man das in jeder Trattoria. «
Das nächste Kraut erkenne ich sofort, und heilfroh, nicht vollkommen zu versagen, erkläre ich prompt: »Rosmarin.«
»Richtig. Kennen Sie die wunderschöne Legende, die sich darum rankt?«
»Leider nein«, muss ich eingestehen.
»Als sich die Heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten befand, breitete die Jungfrau Maria ihren Mantel über einen Rosmarinstrauch. Darauf nahmen die ursprünglich weißen Blüten zu Ehren Marias das himmlische Blau an …«
Ein lautes Klopfen an der Tür unterbricht uns.
»Ja?«, sagt van Geeren ungehalten, dann höre ich, wie jemand in den Raum gepoltert kommt, und ziehe mir unwillkürlich das Tuch von den Augen.
»Martin?«, sage ich erschrocken, als ich sein verweintes Gesicht sehe. »Ist etwas passiert?«
»Die Oma«, sagt er schluchzend. »Benedikt ist schon bei ihr. Er hat gesagt, ich soll dich holen.«
Wir bleiben bei ihr, bis die Pausen zwischen ihren Atemzügen immer länger werden. Auf ihrer Stirn schimmert noch ein Rest von Benedikts Salböl. Er hat seine große, leicht gebräunte Männerhand auf ihre kleine verwelkte gelegt.
Irgendwann schlägt sie noch einmal die Augen auf. Ganz milchig sind sie geworden, haben ihre einstige helle Klarheit verloren.
Kann sie uns überhaupt noch sehen?
»Jakob«, murmelt sie. »Jakob …«
Der Name ihres geliebten Mannes. Und der ihres Sohnes, der unser Vater war .
Hält Oma Benedikt etwa für einen von ihnen?
Ich lasse meinen Blick auf seinem Gesicht ruhen, und auch er sieht mich lange an. In diesem Moment sind wir Verbündete, die einer alten Frau bei ihrer letzten Reise helfen, und es fühlt sich tröstlich vertraut an.
Kein Rasseln, kein Aufbäumen.
»Sie atmet nicht mehr«, sagt Martin plötzlich. »Ist sie jetzt …«
Ja, das ist sie. So still und friedlich, wie sie gelebt hat, ist unsere Oma auch gestorben.
Benedikt zeichnet das Kreuz auf ihre Stirn. Als er zu beten beginnt, erfüllt sein warmer Bariton das Sterbezimmer.
»Der Herr sei dein Hirte; dann wird dir nichts mangeln! Er führe dich auf grüner Au und lasse dich an frischen Wasserquellen ruhen. Er erquicke deine Seele und leite dich auf rechten Pfaden um seines Namens willen. Auch wenn du gehen musst durch eine finstre Schlucht, brauchst du kein Unheil zu fürchten, denn der Herr ist bei dir …«
»Danke«, sagt Mamm, nachdem er geendet hat. »Sie sind ein echter Freund, lieber Kaplan Weiss.«
Für einen Moment sieht es aus, als wolle sie ihm um den Hals fallen, aber natürlich tut sie das nicht. Ich balle die Fäuste, um nicht selbst in Versuchung zu kommen, doch mein Herz fliegt ihm stürmisch zu.
Danke!, rufe ich stumm. Danke, dass du in diesen schweren Stunden bei uns bist, Herzallerliebster!
Ich weine nicht während der Aussegnungsfeier. Nicht während der Bibellesung, die Pfarrer Greven hält, und nicht während der Fürbitten für Verstorbene und Lebende. Auch das Vaterunser bete ich tränenlos, wenngleich mit zittriger Stimme.
Als dann aber Martin und Jupp ihre Gitarren anschlagen und zweistimmig »Maria, breit den Mantel aus« zu singen beginnen, ist es mit meiner Fassung beinahe vorbei. Ich darf keinesfalls nach links schauen, wo Benedikt neben dem Sarg steht, und auch nicht nach rechts, wo Mamm neben mir ein Taschentuch nach dem anderen nass weint. Sie hat ihre Schwiegermutter sehr geliebt. Dass diese nun auch ihrem Mann und ihrem Sohn nachfolgen muss, trifft sie schwer.
Nachdem das anrührende Marienlied verklungen ist, öffnen sich die Pforten der Aussegnungshalle, und wir gehen hinter dem Sarg zum Grab. Es ist kein langer Trauerzug, doch für eine einfache Rentnerin aus Bickendorf haben sich erstaunlich viele Leute eingefunden. Mich erinnert der ehrwürdige Melaten-Friedhof an einen Park: Vögel zwitschern, Eichhörnchen flitzen die Bäume rauf und runter, ab und zu hoppeln Kaninchen über die gepflegten Wege, und selbst heute, wo die Sonne unbarmherzig auf uns hinunterbrennt, spenden die alten Bäume wohltuenden Schatten.
Trotzdem schwitze ich in Mamms altem schwarzen Kunstseidenkleid, das mir auch nach der eiligen Änderung noch immer nicht richtig passt. Seitdem die Oma tot ist, ist es mir ganz gleichgültig, wie ich aussehe. Die Haare sind zum Knoten zusammengewurschtelt, meine Schuhe hätten eigentlich geputzt gehört, und sogar auf einen Spritzer 4711 habe ich verzichtet.
Als Pfarrer Greven von dem Staub spricht, aus dem wir alle gemacht sind und als der wir wieder zurückkehren, wird mir ganz bang ums Herz. Sind wir wirklich nicht mehr als diese paar Handvoll Erde, die schließlich von uns übrig bleiben?
Ich möchte so gern ans Ewige Leben glauben, aber ich kann es nicht, dazu sind meine Zweifel zu tief. Es ist nicht meine erste Beerdigung, auch der Abschied von Bap war für uns alle herzzerreißend, doch diese Zeremonie setzt mir heute ganz besonders zu.
Der Sarg wird ins Grab gesenkt. Martin steht beim Abschiednehmen so gefährlich weit vorn, dass ich für einen Augenblick befürchte, er könnte gleich hinterherspringen.
Mamm zieht ihn energisch zurück.
Alle zusammen beten wir schließlich das Ave Maria. Jetzt wage ich endlich, Benedikt anzusehen, doch der hält den Blick gesenkt. Ganz andächtig sieht er dabei aus, und ich fühle mich noch schlechter.
Was will ich eigentlich?
Einen Mann Gottes von seinem Weg abbringen, für den er sich freiwillig entschieden hat?
Sünde, Sünde, Sünde!
Wenn ich ihn mir doch nur endlich aus dem Herzen reißen könnte …
Mamm hat in einer Gaststätte in Friedhofsnähe den Leichenschmaus ausrichten lassen, und auch die weniger nahestehenden Trauergäste lassen sich diese Gelegenheit nicht entgehen. Willy Lemmle, der zu meinem Missfallen ebenfalls darunter ist, hat ihr den Kontakt zu einem Jäger vermittelt, und dessen Wildschweinbraten mit Kartoffelstampf, für den wir zwei Fässchen Kölsch opfern mussten, bekommen wir nun serviert. Die Sau muss ordentlich betagt gewesen sein, so zäh, wie sie ist, und ich habe schon nach ein paar Bissen genug. Doch den anderen scheint es prächtig zu schmecken, und die Ankündigung von Armen Rittern zum Nachtisch lassen viele Augen leuchten.
Mamm geht in die Küche, um noch nach Kompott als Dreingabe zu fragen, und Lemmle nutzt die Gelegenheit, um sich neben mich zu setzen. Er riecht säuerlich abgestanden, eigentlich seltsam für einen Bäcker, und ich rücke unwillkürlich ein Stück von ihm ab.
Trinkt er heimlich? Seine verquollenen Gesichtszüge lassen darauf schließen.
»Ich suche eine tüchtige Mutter für meine Kinder, und da dachte ich …«, beginnt er ohne Umschweife.
»Da wünsche ich viel Glück!« Ich springe so ungestüm auf, dass der Stuhl krachend umfällt, und laufe hinaus.
Im Eilschritt geht es für mich zurück zum Friedhof, auf dem ich jetzt ganz allein bin.
Das Grab ist geschlossen. Ein paar einfache Kränze liegen auf der frischen dunklen Erde. Das Schönste ist eine weiße Rose, die jemand daraufgelegt hat. Ihr Anblick kratzt an dem Wall, den ich um mein Herz errichtet habe, und jetzt fließen sie, die Tränen, die ich die ganze Zeit nicht weinen konnte.
Um Oma weine ich, um Bap, um Opa – aber auch um Greta und ihr Kind. Und um meine Liebe zu Benedikt, die nicht leben darf. Meine Traurigkeit ist so überwältigend, dass ich von Schluchzern regelrecht geschüttelt werde, bis ich schließlich eine Hand auf meiner Schulter spüre.
Ich drehe mich um.
Benedikt !
Bevor ich etwas sagen kann, zieht er mich an seine Brust und hält mich fest wie ein verlorenes Kind. Jetzt muss ich sogar noch mehr weinen, weil ich seine Körperwärme spüre, die durch mein dünnes Kleid dringt.
»Weine nur, Nellie«, höre ich ihn murmeln. »Wenn alles raus ist, wird es dir besser gehen. Manchmal müssen wir ganz leer werden, um uns wieder zu spüren. Vielleicht fühlst du dich jetzt klein und verlassen, aber so wird es nicht bleiben, das weiß ich. Du hast so viel Kraft, mehr als wir alle.«
Im ersten Moment glaube ich mich verhört zu haben. Doch dann wird mir klar: Er hat es tatsächlich gesagt.
Und plötzlich ist mir alles egal.
»Ich weine nicht nur wegen Oma«, stoße ich hervor. »Ich weine auch wegen uns. Weil ich dich nämlich liebe …«
Er beugt sich zu mir herunter und verschließt meine Lippen mit einem Kuss, so heiß und süß, dass ich fast ohnmächtig werde. Ich spüre seine Zunge, die meinen Mund erkundet …
Mein ganzer Körper sehnt sich nach ihm.
»Ich liebe dich auch«, sagt Benedikt, als unsere Lippen sich wieder voneinander gelöst haben. Er wirkt erhitzt, und ich bin überglücklich, dass ich die Ursache bin. »Wie könnte man dich auch nicht lieben – mit deinen Feuerlocken, deinen Sommersprossen, mit all deiner bezaubernden Lebendigkeit? Mit dir zu tanzen hat sich himmlisch angefühlt. Allein die Vorstellung, deine Haut auf meiner zu spüren, raubt mir den Atem …«
Er geht einen Schritt zurück, als müsse er sich in Sicherheit bringen .
»Wäre ich frei, so würde ich dich bitten, die Frau an meiner Seite zu werden«, fährt er fort. »Aber ich bin nicht frei, Nellie, und das hast du immer gewusst. Ich habe Gott ein heiliges Versprechen geleistet, ein Versprechen, das mich auf ewig bindet.«
Er sieht sich um, als fürchte er, ertappt zu werden, und plötzlich wird mir klar, was wir da gerade riskiert haben.
Wenn uns jemand gesehen hat …
»Ich muss verrückt gewesen sein, dir zu folgen – und ja, genau so ist es auch«, fährt Benedikt fort, und jetzt redet er wie im Fieber. »Du machst mich vollkommen verrückt, Nellie Voss, bringst mich halb um den Verstand, bis ich fast vergesse, wer ich eigentlich bin. Doch zum Glück ist es mir soeben wieder eingefallen: Ich bin Benedikt Maria Weiss, Kaplan in St. Joseph – und genau der kehrt nun dahin zurück, wo er hingehört: in seine Kirche.«
Und mit diesen Worten geht er davon.
Natürlich dreht er sich nicht noch einmal nach mir um.
Allein bleibe ich am Grab zurück, aufgewühlt und verwirrt.