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Köln, Winter 1942/1943
Seit Monaten habe ich keine Zeile mehr geschrieben. Wieso sollte ich auch – wo doch die Sonne aus meinem Leben verschwunden ist.
Aber heute muss ich wieder zur Feder greifen, sonst quillt mir noch das Herz über.
Ach, Benedikt, ich vermisse dich so sehr!
Statt deiner ist Kaplan Kurt Ranner nach St. Joseph beordert worden, ein nervöser Mann mit Geheimratsecken, der beim Reden spuckt und angeblich ein großer Verehrer von Dr. Goebbels ist. Keiner mag ihn, weder die Kinder noch die alten Leutchen, weil sie alle ihn mit dir, seinem strahlenden Vorgänger, vergleichen.
Was für ein Gegensatz!
Du hattest im Nu alle Sympathien auf deiner Seite, mit deiner klugen Freundlichkeit und deiner offenen Art. Jeder hat dich von Herzen gemocht und das Wort Gottes gern aus deinem Mund gehört. Wenn er dagegen die Messe liest, bleiben viele der Kirchenbänke leer, und in seinen Beichtstuhl drängt es niemanden. Er predigt so sensibel wie ein altes Walross, eifert und schimpft, anstatt Worte zu finden, die die Herzen der Menschen erreichen, und nicht einmal Pfarrer Greven scheint glücklich über diesen
Neuzugang zu sein, der so gar nicht in unsere Gemeinde passt.
Weil ich den ganzen Sommer über die Madonnenstatue mit frischen Blumen versorgt habe, blickt der Pfarrer inzwischen ausgesprochen wohlwollend auf mich. Er kann ja nicht ahnen, dass jede Lilie, die ich ihr zu Füßen stelle, für mich eine ganz andere Bedeutung besitzt und an etwas erinnert, das nach den Regeln der Kirche niemals hätte passieren dürfen.
Beischlaf vor der Ehe? Sünde!
Beischlaf mit einem Priester? Kommt fast einer Todsünde nah, und doch war es das Schönste, das ich jemals erleben durfte.
Irgendwie bin ich fast froh, als die Blütezeit der Lilien vorüber ist und ich zu Herbstgewächsen übergehen muss, und schließlich zu Christrosen.
Meine Sehnsucht jedoch bleibt.
Manchmal bin ich fast so weit, Pfarrer Greven doch nach Benedikts Verbleib zu fragen. Die verrücktesten Ideen fliegen durch meinen Kopf, und einmal spiele ich sogar mit der Idee, seine Eminenz Kardinal Josef Frings aufzusuchen, der seit diesem Sommer unser neuer Erzbischof ist. Immerhin hat er darauf verzichtet, Gauleiter Grohé seine Aufwartung zu machen, was in Köln aufmerksam registriert wurde. Er als oberster Kirchenherr der Stadt müsste schließlich wissen, wohin Benedikt versetzt wurde.
Dann aber denke ich an Liesls verbissene Züge und lasse es lieber bleiben.
Wir sind uns seitdem nur noch ein paarmal vor oder nach der Messfeier in St. Joseph begegnet; sie stets schnaubend
vor Verachtung, ich dagegen äußerlich ganz gelassen, obwohl meine Hände immer feucht werden, sobald ich sie sehe. Ihre Drohung, uns auffliegen zu lassen, hat sie jedoch bislang offenbar nicht wahrgemacht. Vielleicht genügt es ihr, sich daran zu weiden, wie ich leide.
Denn das tue ich, und offenbar sieht man es mir auch an.
Schmächtiger sind wir allesamt geworden, nicht weil wir richtig hungern müssten, sondern weil das Kriegsessen nährstoffarm ist und so unendlich fad schmeckt. Auch Luuks Tochter Leni hat einiges an Gewicht verloren, was ihren missmutigen Klassenkameradinnen gar nicht zu gefallen scheint, denn nun fällt schon einmal ein Grund weg, über sie herzuziehen. Zudem hat ihr die Freundschaft mit Karin neues Selbstbewusstsein geschenkt. Immer öfter lacht sie den anderen Mädchen jetzt einfach ins Gesicht, wenn die wieder Gemeinheiten gegen sie loslassen. Hübsch sieht sie aus, richtig strahlend, weil sie endlich lernt, sich selbst zu mögen.
Ich dagegen habe jeden Glanz verloren.
Meine Haut ist fahl, die Haare liegen nicht mehr richtig, und aus meinen Augen ist das Leuchten verschwunden. Sogar meine feine Nase, auf die ich mich stets verlassen konnte, funktioniert manchmal nicht mehr ganz so präzise wie bisher.
Vielleicht, weil meine Seele zur Wüste geworden ist?
Manchmal fühle ich mich morgens so kraftlos, dass ich am liebsten nicht mehr aufstehen würde.
Wieso überhaupt weiterleben?
Ohne Liebe? Ohne Hoffnung
?
Luuk spricht mich direkt darauf an.
»Du hast mein Kind glücklich gemacht, liebe Nellie. Aber du selbst schleichst schon länger herum wie ein Häuflein Elend. Gibt es etwas, das auch dich wieder froh machen könnte? Irgendein Wunsch? Dann verrate ihn mir!«
Er sagt es so zart, so einfühlsam, dass mir sofort Tränen in die Augen schießen.
»Nur einen Einzigen«, erwidere ich schließlich. »Doch der ist leider unerfüllbar.«
»Jene komplizierte Liebe?«
Ich nicke.
»Er hat dich verlassen?«
»Das würde er niemals tun«, widerspreche ich. »Aber er musste fort. Und ich weiß nicht, ob er jemals wiederkommen wird.«
»Kein Brief? Keine Nachricht von ihm?«
Ich schüttle den Kopf.
»Das muss schwer für dich sein. Aber was ich nicht verstehe: Wie kann dein Liebster dich in solcher Ungewissheit lassen? Das macht man doch nicht mit Menschen, die einem viel bedeuten!«
Luuks Satz geht mir nicht mehr aus dem Kopf, und je länger ich darüber nachdenke, desto richtiger erscheint er mir.
Sogar die Soldaten an der Ostfront schreiben ihren Angehörigen inmitten von Schnee und Blut, auch wenn es zum Teil schreckliche Nachrichten sind, die von ihnen kommen. Die 6. Armee, in der auch Viktor dient, ist seit November vollständig von sowjetischen Truppen eingekesselt und kann nur noch aus der Luft versorgt werden. Doch wegen des
schlechten Wetters müssen viele Flüge gestrichen werden. Daher leiden die Soldaten an Kälte und Unterernährung. Tag für Tag wächst die Zahl der Todesopfer. Manche werden schneeblind, andere schrecken nicht einmal mehr vor dem Verzehr von Ratten zurück. Doch selbst die werden in Stalingrad offenbar zur Mangelware …
»Essen, essen, essen«
, schreibt er an Greta. »Das ist das Einzige, woran man hier noch denken kann. Wenn ich nicht mehr zurückkomme, holdes Weib, dann lass dir eine Gans braten, aus der das Fett trieft, und verzehr sie in meinem Namen! Gott sei mit dir! Uns hier hat er längst verlassen …«
Es war der letzte Brief von Viktor.
Doch auch kein offizielles Schreiben mit schwarzem Rand erreicht Greta, ebenso wenig wie ich Post von Benedikt erhalte.
Vielleicht hat er mich ja wirklich vergessen. Vielleicht sieht er unsere Liebesnacht inzwischen nur noch als eine Sünde, für die er nun irgendwo strenge Buße tut. Vielleicht …
Ach, ich weiß es nicht!
Gar nichts weiß ich mehr …
Nur, dass nach wie vor Bomben auf Köln fallen. Ein Angriff folgt auf den anderen, und die ganze Stadt leidet darunter. Farina hat die Produktion ins Bergische Land verlegt, und auch Peter Mülhens spielt offenbar mit ähnlichen Überlegungen, wie man bei uns in der Firma munkelt. Aber so einfach lässt sich die ganze Technik eines großen Betriebs nicht transferieren. Wir stellen kaum noch Düfte her; alles ist auf die Seifenproduktion ausgerichtet, an der jetzt auch Zwangsarbeiterinnen beteiligt sind
.
Wie jung sie mir vorkommen, diese Frauen aus der Ukraine – fast noch Mädchen sind sie in meinen Augen, die kaum Deutsch können und immer unter sich bleiben. Es heißt, in ihren Lagern bekämen sie nur mangelhafte Verpflegung. In unserer Kantine jedoch wird kein Unterschied gemacht. Wer bei 4711 arbeitet, der bekommt hier auch zu essen, und ich beobachte, wie sich ihre Wangen beim Löffeln des kräftigen Eintopfs rosig färben. Am liebsten hätte ich der einen oder anderen zusätzlich etwas zugesteckt, weil ich an Ida und Paul denken muss, die sicherlich noch mehr hungern müssen – falls sie überhaupt noch am Leben sind. Doch wenn man dabei beobachtet und angezeigt wird, drohen drakonische Strafen.
Aus diesem Grund verweigere ich jetzt auch weitere Besuche bei Lemmle. Nach der »Volksschädlingsverordnung« kann jeder, der bei Schwarzmarktgeschäften erwischt wird, innerhalb von vierundzwanzig Stunden abgeurteilt werden. Unsere Gäste müssen jetzt eben auf ihren Halven Hahn zum Kölsch verzichten und sich stattdessen an Soleier halten. Es gibt kurzes, heftiges Gemecker, dann haben sich alle damit abgefunden.
Nur Mamm scheint es leidzutun, dass ich beim Bäcker nun alle Chancen vergeigt habe. Vor allem, als er schließlich in der grauen Wehrmachtsuniform unsere Kneipe betritt, den Marschbefehl bereits in der Tasche.
»Es gibt Blitztrauungen am Ehrenfelder Standesamt, Nellie«, raunt er mir zu. »Du könntest während meiner Abwesenheit zusammen mit meiner Schwester Trude die Bäckerei führen. Ihr würdet nicht hungern müssen, selbst wenn es für uns Deutsche noch härter kommen sollte.
Morgen früh im Rathaus, wenn du magst. In fünf Minuten ist alles erledigt.« Er hat sogar den Ehering seiner toten Frau dabei, mit dem er vor mir herumfuchtelt. »Na, ist das ein verlockendes Angebot?«
Seine feuchten Lippen, die säuerliche Ausdünstung – ich muss mich rasch abwenden, um meinen Abscheu zu verbergen.
Natürlich lehne ich ab, freundlich, aber bestimmt, und nun hasst er mich garantiert bis in alle Ewigkeit, so viel ist gewiss.
»Jetzt hast du die Aussicht auf eine Witwenrente in den Wind geschlagen«, sagt Mamm resigniert. »Wie lange, meinst du, wird dein Betrieb noch durchhalten? Beim nächsten Angriff könnte unser Haus dran sein, und das Halflang
mit dazu. Und wovon sollen wir dann leben? Von Martins Hunger-Lehrlingslohn gewiss nicht!«
»Es findet sich doch immer irgendwas«, sage ich um einiges zuversichtlicher, als mir zumute ist. »Am wichtigsten ist, dass uns dreien nichts passiert. Ab Februar können wir im neuen Hochbunker an der Körnerstraße übernachten. Von unserer Wohnung aus sind das nur wenige Schritte. Dort sind wir viel sicherer aufgehoben als in unserem maroden Keller.«
»Früher stand daneben die Synagoge, bis sie 1938 in Flammen aufgegangen ist«, sagt Mamm, und wir müssen beide an unsere jüdischen Freunde denken. »Sicher sind diese Bunker ja bestimmt, aber eine Massenunterkunft für mehr als tausend Leute? Da liegen dann alle kreuz und quer durcheinander, nicht nur Nachbarn, die man wenigstens ein bisschen kennt, sondern lauter Fremde. Darunter auch
Menschen, mit denen man vielleicht lieber nichts zu tun hätte. Ich weiß nicht, ob ich das aushalte …«
»Das wirst du, Mamm«, versuche ich sie zu trösten. »Alles ist besser, als tot zu sein.«
Aber ist das auch wirklich wahr?
Meine Seele schreit vor Sehnsucht nach Benedikt immer lauter; mein Körper nicht minder. Nur Martin scheint guter Dinge zu sein. Er beklagt sich nicht einmal über die schwere Arbeit als Ruinentischler, die er jetzt immer öfter zusammen mit Wildung leisten muss, und freut sich wie ein Schneekönig über den etwas schief gestrickten Schal aus Wollresten, den Karin ihm geschenkt hat.
Die beiden so süß verliebt zu sehen vertreibt kurz meine eigene Betrübnis. Doch dann kommen neue Sorgen auf.
Die Edelweißpiraten sind keineswegs so tot und begraben, wie Gestapo und HJ-Streifendienst es gern gehabt hätten. Inschriften an den Ehrenfelder Hauswänden künden seit Wochen von ihrer Wiederauferstehung. HEIL NAVAJOS lese ich gleich dreimal hintereinander; ein paar Tage später entdecke ich an einer Wand PX NAVAJOS, das Zeichen der inzwischen verbotenen katholischen Jugendbewegung. Und ein paar Ecken weiter: AUF EWIG EDELWEISSPIRATEN!
Alles wird hastig überstrichen, aber gesehen haben es dennoch viele.
Und es geht noch weiter. In der Innenstadt liegen haufenweise Flugblätter, auf denen von einer »Leistungswoche der bündischen Jugend« die Rede ist. Luuk bringt eines davon in die Firma mit und zeigt es mir, als wir beide allein sind
.
»Leni hatte es im Schulranzen«, sagt er. »Sie hat es einfach vom Boden aufgehoben.«
Bei mir läuten sofort alle Alarmglocken. Komm zurück – Jugend erwache
, lese ich und zerfetze das Blatt vor seinen Augen in winzige Schnipsel.
»Sag ihr, das darf sie niemals wieder tun«, antworte ich, und dann vertraue ich ihm endlich an, was damals mit Martin passiert ist. Auch Jupps trauriges Schicksal, das ich bislang nur angedeutet habe, spare ich nicht aus. Ich weiß, bei Luuk ist alles gut aufgehoben. Und es wird ihn dazu bringen, noch besser auf seine Tochter aufzupassen.
Kaum bin ich nach der Arbeit zu Hause angelangt, knüpfe ich mir Martin vor.
Mein Bruder schwört Stein und Bein, von nichts zu wissen und niemanden zu kennen, der etwas damit zu tun hat. Aber wieso kräuseln sich Martins Lippen dabei so verräterisch? Und wohin verschwinden Karin und er jedes Mal so eilig nach dem Sonntagsmuckefuck?
Um mich davon zu überzeugen, dass er die Wahrheit gesagt hat, fahre ich trotz des schlechten Wetters mit dem Rad zum Leipziger Platz, von dem es heißt, er sei einer der Treffpunkte dieser verbotenen Bewegung. Und da sind sie auch: Jugendliche in Schlaghosen und Zimmermannsjacken, die Haare länger, als es die HJ erlaubt. Ein paar halten Zigaretten in der Hand, andere haben sich ihre Klampfen umgehängt. Plötzlich erinnere ich mich, dass auch mein Bruder seit einiger Zeit wieder fleißig Gitarre übt.
Erst beim Näherkommen entdecke ich auch einige Mädchen, die mich beinahe noch feindseliger anstarren als die Jungs
.
Wie alt mögen sie alle sein?
Sechzehn, siebzehn höchstens, sonst wären die Jungs ja bereits eingezogen.
»Kennt ihr einen Martin?«, frage ich den Erstbesten.
»Martin?«, wiederholt er gedehnt, als höre er dieses Wort zum ersten Mal.
»Spreche ich vielleicht chinesisch?« Mein Ton wird jetzt schärfer. »Er ist mein Bruder, und ich suche ihn.«
Ein Haufen Fahrräder liegt wüst auf dem Boden, aber auf Anhieb sehe ich keins, das Martins Rad ähnelt.
»Wir haben unsere eigenen Namen«, sagt eines der Mädchen. »Ich bin die Hexi, und die da drüben heißt Puck.«
»Ich bin der Captain«, sagt ein Junge. »Wir hätten noch einen Flynn im Angebot. Oder einen Nemo. Einen Martin führen wir leider nicht.«
Allgemeines Gelächter.
Sie kennen ihn sehr wohl, plötzlich bin ich mir fast sicher. Wahrscheinlich unter einem dieser Spitznamen, mit denen sie sich so stark fühlen. Und obwohl sie eigentlich harmlos auf mich wirken, bekomme ich am ganzen Körper Gänsehaut.
Ist diesen großen Kindern eigentlich bewusst, dass sie mit ihrem Leben spielen?
»Er war schon mal tagelang in den Verhörräumen des EL-DE-Hauses«, sage ich. »Und wenn einer von euch auch Lust darauf verspürt, dann lasst es euch am besten genau von ihm erzählen. Es war damals ziemlich knapp, dass er überhaupt davongekommen ist. Sein bester Freund hat es übrigens nicht geschafft. Jupp Schmitz, falls euch dieser Name etwas sagt.
«
Sie kennen ihn. Alle
. So gefesselt, wie sie mich jetzt anstieren.
»Vorher haben sie Jupp allerdings noch die Finger gebrochen, und zwar jeden einzeln. Und das gleich mehrfach. Dauert eine ganze Weile, denn es gibt ja fünf an jeder Hand. Seine verzweifelten Schmerzensschreie müssen bis auf die Straße zu hören gewesen sein.«
Das sollte für heute reichen.
Schon halb im Gehen drehe ich mich noch einmal um.
»Richtet Martin aus, er soll bald nach Hause kommen«, sage ich scheinbar lässig. »Abends wird es jetzt schon früh kalt.«
Kurz darauf berichtet Der
Westdeutsche Beobachter
in schreienden Lettern: EDELWEISSPIRATEN VERHAFTET!
Vierzig Jugendliche werden offenbar im EL-DE-Haus verhört, und Köln ist nicht die einzige Stadt, in der die Razzien gegriffen haben. Auch in Düsseldorf, Essen und Wuppertal war die Gestapo aktiv. Im gesamten Rheinland kam es zu rund siebenhundert Festnahmen. Harte Urteile sind zu erwarten.
Ein Martin Voss ist dieses Mal nicht darunter.
Am 30. Januar 1943 kündigt Reichsmarschall Hermann Göring im Rundfunk eine Rede an, die am Ende jedoch um eine Stunde verschoben werden muss, da die Briten Berlin mit Schnellbombern attackieren. Wir hören sie in der Kantine von 4711. Die gesamte Belegschaft ist mucksmäuschenstill und lauscht.
»Wir kennen ein gewaltiges, heroisches Lied von einem Kampf ohnegleichen, das hieß ›Der Kampf der Nibelungen‹
.Auch sie standen in einer Halle aus Feuer und Brand, löschten den Durst mit eigenem Blut, aber kämpften und kämpften bis zum Letzten
. Ein solcher Kampf tobt heute dort, denn ein Volk, das so kämpfen kann, muss siegen …«
Manche denken bei diesen Worten an ihre Männer, an ihre Söhne und Brüder, die alle vor Stalingrad liegen. Ich aber denke an Martin, der noch einmal davongekommen ist.
Görings theatralische Stimme fährt fort:
»… ihr denkt, Jahrtausende sind vergangen; und vor diesen Jahrtausenden da stand in einem kleinen Engpass in Griechenland ein unendlich tapferer und kühner Mann mit dreihundert seiner Männer, stand Leonidas mit dreihundert Spartiaten – aus einem Stamm, der wegen seiner Tapferkeit und Kühnheit bekannt war
. Und eine überwältigende Mehrheit griff und griff immer wieder aufs Neue an … Auch damals war es ein Ansturm aus dem asiatischen Osten, der sich hier, am nordischen Menschen, brach
. Gewaltige Mengen von Männern standen Xerxes zur Verfügung, aber die dreihundert Männer wichen und wankten nicht, kämpften einen aussichtslosen Kampf – aussichtslos aber nicht in seiner Bedeutung
. Und dann fiel der letzte Mann
. Und in diesem Engpass, da steht nun ein Satz: Wanderer, kommst du nach Sparta, so berichte, du hättest uns hier liegen sehen, wie das Gesetz es befahl
. Es waren dreihundert Männer, meine Kameraden, Jahrtausende sind vergangen, und heute gilt dieser Kampf dort, dieses Opfer dort, so heroisch, so als Beispiel höchsten Soldatentums
. Und es wird auch einmal heißen: Kommst du nach Deutschland, so berichte, du habest uns in Stalingrad liegen sehen, wie das Gesetz, das heißt, das Gesetz der Sicherheit unseres Volkes es befohlen …
«
»Das ist der Anfang vom Ende
.« Eine helle Frauenstimme hat es gesagt, klar und deutlich, und jeder in der Kantine weiß, dass es wahr ist, obwohl sie es eigentlich niemals hätte aussprechen dürfen.
Wir zerstreuen uns so schnell, dass keiner auf die Idee kommen kann, sie doch noch ausfindig zu machen.
Am 3. Februar, also nur wenige Tage später, lässt das Oberkommando der Wehrmacht im Großdeutschen Rundfunk folgende Sondermeldung verlesen: Die 6. Armee habe unter General Paulus bis zum letzten Atemzug gekämpft, sei aber einer Übermacht und ungünstigen Verhältnissen erlegen. Alle Soldaten seien im heldenhaften Kampf gefallen.
Drei Tage des »nationalen Gedenkens« werden angeordnet. Alle Lokale und Kneipen müssen ebenso wie die Kinos geschlossen bleiben; der Rundfunk sendet nur ernste Musik. Trauerbeflaggung ist zwar strengstens untersagt, aber ganz Köln liegt auch so wie unter einer dicken schwarzen Wolke.
Martin, der trotz meiner Mahnung heimlich BBC hört, obwohl die Todesstrafe darauf steht, klärt uns auf: Die deutschen Soldaten sind keineswegs alle tot. Mehr als neunzigtausend von ihnen befinden sich in russischer Kriegsgefangenschaft.
Als das Halflang
wieder aufmachen darf, ist das das Thema Nummer eins – was beweist, dass andere sich ebenso wenig an das Verbot mit den Feindsendern halten wie Martin. Im Flüsterton teilen unsere Gäste untereinander ihre Sorgen. Es gibt kaum eine Familie, in der kein Sohn, Mann
oder Bruder an der Ostfront stationiert ist; inzwischen sind Soldaten so knapp geworden, dass immer ältere und immer noch jüngere Jahrgänge eingezogen werden.
»Das überlebt er nicht lange«, sagt Greta, als sie uns besuchen kommt, und ihre Augen glänzen fiebrig. »Viktor in einem russischen Lager? Mit seiner Arroganz übersteht er dort nicht einmal die ersten Wochen!«
Jetzt wird sie sich wenigstens nichts antun, denke ich erleichtert. Doch dann werde ich traurig, denn sie ist gekommen, um uns Adieu zu sagen.
Ihr Vater bringt sie und ihre Mutter nach Engelskirchen, in einen hübschen kleinen Ort im Bergischen Land, auf den bisher noch keine einzige Bombe gefallen ist.
»Am liebsten würde ich dich mitnehmen, Nellie«, sagt sie. »Ohne dich sterbe ich doch vor Langeweile! Was soll ich dort denn den ganzen Tag lang tun? Socken stricken? Spitze klöppeln? Rehe fotografieren? Du weißt, dafür bin ich einfach nicht der Typ! Kannst du mich nicht wenigstens für ein paar Tage begleiten?«
»Wie stellst du dir das vor? Bei uns im Betrieb herrscht absolute Urlaubssperre, und Mamm braucht mich doch hier in der Kneipe. Sie und Martin allein lassen, ausgerechnet jetzt, wo ständig mit neuen Bomben zu rechnen ist? Ganz und gar unmöglich!«
Greta bettelt und schmollt, aber schließlich scheint sie es doch einzusehen und verabschiedet sich unter Tränen.
Gerührt sehe ich ihr nach.
Verrücktes Huhn, denke ich. Wie lieb ich dich doch habe mit all deinen kleinen Macken
!
Joseph Goebbels’ Rede wurde live aus dem Berliner Sportpalast übertragen. Seit über einer Stunde sprach er nun schon im Großdeutschen Rundfunk vor einer riesigen Zuhörermenge. Zunächst hatte er ausführlich den sowjetischen Bolschewismus gegeißelt, dessen Ziel die Weltrevolution der Juden sei.
»Eine infektiöse Erscheinung«, so nannte er das Judentum, die »ansteckend« wirke. Deutschland habe nicht die Absicht, sich dieser Bedrohung zu beugen, sondern vielmehr, ihr rechtzeitig und wenn nötig mit den radikalsten Gegenmaßnamen entgegenzutreten.
Nellie musste bei diesen Worten an das verlassene Sammellager und die verwehten Spuren von Ida und Paul denken und begann leise zu weinen.
»Sie kommen nicht mehr zurück«, sagte Martin, der neben ihr saß und mit kalkweißem Gesicht lauschte. »Keiner von ihnen. Weder Adriano und seine Leute, noch die Juden.«
Dann kam der Reichspropagandaminister darauf zu sprechen, was der nationalsozialistische Staat ab sofort von seinen Bürgern forderte: Opfer. Und zwar Opfer, die freiwillig zu erbringen seien. Dazu gehörte unter anderem die Schließung von Bars, Nachtlokalen und Luxusrestaurants sowie von Luxusgeschäften und Modesalons, die in dieser Zeit nationaler Bewährung keinerlei Berechtigung mehr hätten.
»Und unser Halflang
?«, fragte Mamm aufgeregt.
»Hast du bei uns schon mal was von Luxus gesehen?«, erwiderte Nellie forsch. »Also, ich nicht! Wenn sie unseren Ehrenfeldern auch noch ihr Kölsch verbieten,
dann bricht die Revolution aus. Das werden sie nicht riskieren!«
Innerlich allerdings war ihr ganz anders zumute.
Und 4711? Was, wenn der ganze Betrieb als »kriegsunwichtig« geschlossen wurde?
Sie sprach ihre Gedanken nicht laut aus, um Mamms Gesicht nicht noch sorgenvoller zu machen.
Goebbels war längst bei weiteren Maßnahmen angelangt.
Die Eisenbahn habe ab jetzt ausschließlich kriegsnotwendigen Transporten und ebensolchen Geschäftsreisen zu dienen. Urlaub nur noch für jene, die sonst in ihrer Arbeits- oder Kampfkraft gefährdet wären. Hunderttausende von Zurückstellungen sollten aufgehoben, die Männer rasch eingezogen und deren Positionen von Frauen besetzt werden, auch und gerade in der Rüstungsproduktion. Die deutsche Frau sei aufgerufen, dem Vaterland bedingungslos zu dienen.
Immer wieder wurde seine Rede vom frenetischen Gebrüll der Anwesenden im Sportpalast unterbrochen. Die Menge schien wie entfesselt.
»Mach aus.« Mamms Stimme klang müde. »Was verlangen sie denn noch alles von uns? Das Leben ist doch auch so schon schwer genug.«
»Gleich«, sagte Martin. »Ich will noch weiterhören.« Er drehte die Lautstärke sogar weiter auf.
»Die Engländer behaupten, das deutsche Volk habe den Glauben an den Sieg verloren.
Ich frage euch: Glaubt ihr mit dem Führer und mit uns an den endgültigen totalen Sieg des deutschen Volkes?
«
Ohrenbetäubendes Ja-Gebrüll war die Antwort.
»Ich frage euch: Seid ihr entschlossen, dem Führer in der Erkämpfung des Sieges durch dick und dünn und unter Aufnahme auch der schwersten persönlichen Belastungen zu folgen?«
»Ja, ja – Sieg-Heil!«
»Zweitens: Die Engländer behaupten, das deutsche Volk ist des Kampfes müde.
Ich frage euch: Seid ihr bereit, mit dem Führer als Phalanx der Heimat hinter der kämpfenden Wehrmacht stehend diesen Kampf mit wilder Entschlossenheit und unbeirrt durch alle Schicksalsfügungen fortzusetzen, bis der Sieg in unseren Händen ist?«
Das Ja der Menge war diesmal sogar noch lauter.
»Drittens: Die Engländer behaupten, das deutsche Volk hat keine Lust mehr, sich der überhand nehmenden Kriegsarbeit, die die Regierung von ihm fordert, zu unterziehen.«
»Nein, Lüge!«
Allgemeiner Tumult.
»Ich frage euch: Seid ihr und ist das deutsche Volk entschlossen, wenn der Führer es befiehlt, zehn, zwölf, und wenn nötig vierzehn und sechzehn Stunden täglich zu arbeiten und das Letzte herzugeben für den Sieg?«
»Ja, ja, ja …«, brüllten die Leute.
»Ich frage euch: Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt noch vorstellen können? …«
Nellie stand auf und schaltete den Volksempfänger ab.
»Das reicht. Der Westdeutsche Beobachter
druckt garantiert jede Zeile ab.
«
Sechzehn Fliegeralarme allein im Februar, darunter ein Großangriff mit Bündeln von Leuchtbomben, der vor allem die Stadtteile Sülz, Klettenberg und Lindenthal zerstört. Die Farina-Villa wird dabei getroffen und brennt bis auf die Grundmauern ab.
Mir wird ganz anders zumute, als ich davon erfahre, und ich schicke der Heiligen Jungfrau Maria ein spezielles Dankgebet, zutiefst erleichtert darüber, dass meine Freundin und deren Familie an einem sicheren Ort sind.
Inzwischen ist endlich der Hochbunker in der Körnerstraße fertiggestellt. Doch man darf ihn keineswegs einfach so aufsuchen, wie wir anfangs geglaubt hatten, sondern braucht dafür eigens ausgestellte Berechtigungskarten. Zweimal habe ich schon vergebens bei der Ortsgruppe in dieser Angelegenheit vorgesprochen.
»Ihr Wohnhaus besitzt einen Keller, der als Luftschutzraum durchaus ausreichend ist«, lautet stets die Antwort.
»Alt und morsch ist der, und durch die Detonationen in der Nachbarschaft längst nicht mehr sicher«, widerspreche ich heftig. »Von der Decke beginnt es ja schon zu rieseln, wenn man nur scharf genug hinschaut! Wir werden noch alle jämmerlich dort unten ersticken.«
Aber meine Argumente finden leider kein Gehör.
Den dritten Versuch gehe ich anders an, krame eines von Gretas besser erhaltenen Kleidern aus dem Schrank, hänge mir den Mantel nur lässig über die Schultern und beiße mir so lange auf die Lippen, bis sie schön rosig sind.
Dieses Mal steuere ich das Polizeirevier in der Venloer Straße an, das ebenfalls Berechtigungsscheine ausstellen darf, wie ich mittlerweile in Erfahrung bringen konnte
.
Der ältere Beamte, der allein in der Dienststelle sitzt, lächelt bei meinem Anblick; das stimmt mich zuversichtlich. Und nachdem ich mit weicher Stimme und reichlich Augenaufschlägen meine Bitte vorgebracht habe, gehe ich dieses Mal mit drei der heiß begehrten Scheine nach Hause.
Einfach sind die Nächte im Bunker trotzdem nicht.
Tatsächlich sind sie sogar noch schlimmer, als Mamm es im Vorfeld bereits befürchtet hat. Viel zu viele Menschen ballen sich auf zu engem Raum; es gibt Gehuste, Geschnaufe, Geschimpfe, Gejammere, Geheule und jede mögliche Art weiterer menschlicher Lautäußerungen. Bei Alarmhöchststufe verschließen sich die Lüftungsklappen, um den Schutz zu maximieren, was verheerende Auswirkungen auf das Raumklima hat.
Meine sensible Nase bringt mich jedes Mal halb um den Verstand, und ich muss mich schwer zusammenreißen, um durchzuhalten. Doch die Vorstellung, sonst möglicherweise direkt ins Feuer zu laufen, hält mich dann doch im Bunker. Ich versuche, möglichst flach zu atmen, und lasse meine Augen die meiste Zeit geschlossen, um möglichst wenig von den anderen mitzubekommen.
Eine Taktik, die ein wenig hilft.
Martin scheint sie mir abzuschauen, denn auch er bleibt erstaunlich ruhig.
Plötzlich aber springt er neben mir auf.
»Beni!«, schreit er in voller Lautstärke, ohne sich um die anderen Leute ringsherum zu scheren. »Du bist ja wieder da – endlich …«