Milena

Keine Stimmen mehr. Keine Schritte auf der Treppe. Kein Wasser, das im Badezimmer rauschte. Und vor allem: kein einziges Geräusch mehr hinter der Schranktüre, die sie von Ava trennte.

Milena hatte in ihrem Versteck mitverfolgt, wie Ava ins Zimmer gekommen, sich umgezogen hatte und schließlich zu Bett gegangen war. Nachdem jetzt seit einer halben Stunde kein Mucks mehr kam, war sie sich ziemlich sicher, dass Ava mittlerweile schlief.

Vorsichtig öffnete sie den Schrank und linste in das Zimmer. Das Mondlicht schien hell genug durch die Vorhänge, um sie Umrisse unter der Bettdecke erkennen zu lassen. Ava lag auf der Seite, das Gesicht zur Tür gedreht und ins Kissen gedrückt. Ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig.

So leise wie nur möglich stieg Milena aus dem Schrank. Ihr tat jeder Knochen weh, aber immerhin war sie unbemerkt geblieben. Hinter ihr lag ein entsetzlicher Tag. Frühmorgens wäre sie schon beinahe von dem Kind entdeckt worden. Nur der Vorhang hatte sie gerettet. Aufgrund dieses Schockerlebnisses hatte sie beschlossen, lieber ein paar Stunden außerhalb des Hauses zu verbringen. Es hatte nicht geregnet, daher war der Spaziergang durch den Wald und ein Stück den Berg hinauf eine nette Abwechslung gewesen. Durchgefroren war sie zurückgekehrt und hatte eine günstige Gelegenheit abpassen müssen, um unbemerkt durch den Hintereingang ins Innere zu schlüpfen. Mittlerweile war die Tür verschlossen, aber sie hatte wohlweislich den Schlüssel mitgenommen.

Zeit, um hinter sich abzusperren, war nicht geblieben, denn schon platzte wieder dieses Kind herein! Diesmal war sie unter den Tisch geschlüpft. Viel hatte nicht gefehlt, und ihre Anwesenheit wäre aufgeflogen. Immerhin bellte der Hund sie seit ihrer Bestechung mit der Salami nicht mehr an, sondern wedelte freudig mit dem Schwanz. Während Milena unter dem Tisch kauerte, hatte er sogar ihre Hand abgeschleckt.

Eine ganze Weile hatte sie sich in der Waschküche versteckt. Ava stellte kein Problem dar; sie saß fast die ganze Zeit festge­nagelt am Schreibtisch. Aber das Kind und der Hund waren komplett unberechenbar und quasi überall im Haus unterwegs. Dabei war es noch von Vorteil, wenn sie herumtobten, zu­mindest konnte man sie so orten.

Als die Kleine von Ava ausgeschimpft wurde und in ihr Zimmer abgezischt war, hatte Milena die Gunst der Stunde genutzt und sich ins Dachgeschoss geflüchtet. Doch sie fand die Speichertüre verschlossen. Der Schlüssel fehlte. Was für ein Drama! Ab sofort war ihr der Zugang zu diesem Zufluchtsort versperrt, wo sie auch ihre Jeans, Wäsche und die gehorteten Lebensmittel lagerte. Wo sollte sie nun noch Unterschlupf finden? Alwines Zimmer war wegen der Katzenpisse eine Gefährdung für die Gesundheit und in der vollgestopften Abstellkammer kein Durchkommen, Max’ ehemaliges Zimmer durch Felice belegt, die Bibliothek mittlerweile auch abgesperrt – vermutlich, damit der Hund die Bücher nicht ansabberte. Milena entschied sich für den Sprung in die Höhle der Löwin und schlich einen Stock tiefer. Ava hatte auch in ihrem Schlafzimmer den Kamin geschürt. Der Koffer lag weiterhin unausgeräumt auf einem Stuhl. Dann war Milenas Blick auf den Wandschrank gefallen: links Bretter mit Bettwäsche, Handtüchern und allerlei Krimskrams, rechts eine voll behängte Kleiderstange. Gewiss würde Ava sich nicht die Mühe machen, das ganze Zeug auszuräumen, um ihre eigenen Sachen dort zu verstauen. Es war das perfekte Versteck – abgesehen davon, dass sie hier nur wenig Platz hatte und ihr die Glieder wehtun würden …

Die nächsten Stunden ließen diese Befürchtung wahr werden. Als Milena endlich wieder aus dem Schrank kroch, schmerzte ihr Rücken fürchterlich. Auf Zehenspitzen tapste sie am Bett vorbei Richtung Tür, als sie die Tablettenschachtel auf dem Nachtkästchen entdeckte. Somnaris. Bei dem Namen konnte es sich nur um ein Schlafmittel handeln. Ihre Furcht, entdeckt zu werden, legte sich schlagartig. Wenn Ava das jede Nacht nahm, konnte sie sich zumindest ein paar Stunden relativ frei im Haus bewegen.

Erstmals gestattete sie sich einen genaueren Blick auf die Frau, mit der sie das Haus teilte. Ohne Make-up, das Avas Gesicht tagsüber eine maskenhafte Starre verlieh, wirkte sie viel menschlicher, ja, sogar auf eine gewisse Weise verletzlich. Das hellblonde, über die Schultern reichende Haar umrahmte ihr schmales Gesicht.

Hübsch, dachte Milena und war dabei überrascht über sich selbst. Zum ersten Mal seit der abrupten Trennung von Billie fand sie eine Frau attraktiv.

Leise zog sie die Tür hinter sich zu. Im Treppenhaus war es dunkel, aber nicht mehr so kalt wie in den Nächten zuvor. Die Kamine leisteten gute Arbeit. Auf dem Weg ins Erdgeschoss stolperte sie beinahe über eine Katze, die sogleich erschreckt das Weite suchte.

In der Küche wagte Milena nicht, das Licht einzuschalten. Das Mondlicht erhellte den Raum ohnehin ausreichend. Ihr Magen knurrte, aber noch stärker war der Durst, der sie schon seit Stunden quälte. Gierig trank sie zwei Gläser Leitungswasser. Anschließend öffnete sie den Kühlschrank. Seit der Lieferung von Feinkost Gruber, die sie von der Gaube aus mitverfolgt hatte, war er gut befüllt, wenngleich auch mit anderen Dingen als bei Alwine. Ava legte Wert auf Obst und Gemüse, fettreduzierte Joghurts, Leichtschinken und Tofu. Auf dem Küchentresen stand eine angebrochene Packung Bio-Müsli.

Als Milena noch überlegte, was sie sich unkompliziert zubereiten konnte, fiel ihr Blick auf die Tupperware. Pasta mit Tomatensoße. Es roch nicht schlecht. Konnte sie riskieren, die Nudeln warm zu machen?

Ja, entschied sie, gab alles in einen Topf und drehte beherzt das Gas auf.

Vielleicht ging es so, dachte sie, während sie umrührte. Tagsüber im Schrank, nachts in der Küche oder wo auch immer. Wo sollte sie auch sonst hin, in dieser winterlichen Kälte, ohne ausreichend Geld und mit der Angst im Gepäck, von der Polizei aufgegriffen zu werden? Außerdem würden die beiden in ein paar Tagen wieder abreisen, sobald die Quarantäne um war.

Gefangen von der Vorstellung, das Haus bald wieder für sich zu haben, nahm sie das Tapsen der Hundepfoten auf dem Holzboden erst war, als Bobo seinen Kopf bereits durch den Türspalt schob. Schwanzwedelnd lief er auf seine neue Salami-Freundin zu.

Verdammt, warum schlief dieser Hund denn nicht?

Nach dem ersten Schreck bückte sich Milena und kraulte ihm das Fell. Bobo schleckte voller Begeisterung über ihre Hand. Sie ließ ihn gewähren. Hauptsache, er bellte nicht!

Dann hörte sie die Spülung der Toilette rauschen, und noch ehe sie begriff, dass sie und Bobo nicht als Einzige nachts durchs Haus streiften, war es auch schon zu spät: Das Mädchen stand in der Küche, seltsamerweise nicht im Schlafanzug, sondern in Jeans und Pulli, und starrte sie sekundenlang einfach nur an.

Für eine Flucht war es zu spät. Gleich würde das Kind schreien, der Hund würde rebellisch und Ava aus dem Schlafkoma bellen.

Spontan breitete Milena ihre Arme aus, richtete sich zu voller Größe auf und krächzte: »Ich bin der Geist deiner toten Großmutter Alwine …!«

Wenn das Kind jetzt kreischend nach oben lief, hatte sie Zeit, sich irgendwo zu verstecken.

Felice rannte jedoch nicht weg. Sie kreischte auch nicht. Sie blieb stehen und starrte sie nach wie vor an.