Milena
Ganz offensichtlich war dies kein guter Tag im Leben der Jakobi-Frauen, ging es Milena durch den Kopf, während sie die zuvor gebackenen Weihnachtskekse sorgfältig mit Zuckerglasur bepinselte. Alleine, denn Felice hatte sich schon vor rund zwei Stunden wutentbrannt mit Bobo nach oben verabschiedet, als Milena sie beim Abwiegen der Zutaten zu mehr Genauigkeit ermahnt hatte. Es mache ihr keinen Spaß mehr, und überhaupt seien alle nur gemein zu ihr. Das waren Felices vorläufig letzte Worte gewesen.
Milena hatte die Kekse also selbst fertig gemacht, obgleich das Backen Felices Idee gewesen war. Kaum dass Ava mit ihren Tabletten zu Bett gegangen war, hatten sie mit dem Backen losgelegt. Es war schwierig genug gewesen, aus dem wenigen, was in Alwines Speisekammer und im Kühlschrank vorrätig war, passable Kekse zu zaubern. Mit dem Ergebnis war Milena dennoch zufrieden. Offiziell würde Felice die Kekse gemacht haben, also durften sie gar nicht zu perfekt sein.
Was mit Ava los war, konnte Milena nur erahnen. Felice und sie hatten sie unten im Wohnzimmer schluchzen hören.
Stress mit der Freundin, hatte Milena vermutet, woraufhin Felice entgegengehalten hatte, es ginge bei ihrer Mutter doch immer nur um ihren blöden Job.
Was auch immer die Ursache sein mochte – Ava tat ihr leid. Am liebsten wäre sie zu ihr gegangen und hätte sie einfach in den Arm genommen. Ihre Intuition sagte ihr, dass es genau das war, was Ava in diesem Moment brauchte. Aber natürlich war es undenkbar, sich dieser Frau auch nur zu nähern.
Milena bepinselte den letzten Keks mit Zuckerguss und weichte Schüssel und Pinsel anschließend im Spülbecken ein.
Felice sollte die Utensilien später säubern, entschied sie, schließlich konnte es nicht angehen, dass sich die Kleine einfach so aus der Affäre zog.
Für sie war es ohnehin höchste Zeit, sich wieder zu verstecken. Sie konnte nur hoffen, dass sich Felices Laune inzwischen wieder gebessert hatte.
Gerade wollte sie die Küche verlassen, als sie jemanden die Treppe heruntergehen hörte – langsam, unsicher, zögernd. Felice lief mit schnellen, kleinen Schritten. Das hörte sich anders an. Beinahe zu spät begriff sie: Es konnte nur Ava sein, die da zielstrebig auf die Küche zusteuerte! Mit einem Satz rettete sie sich in die angrenzende Speisekammer und presste sich dicht an die Wand. So wäre sie erst einmal hinter dem Türblatt verborgen, falls Ava hier hereinkam.
Ava machte jedoch gar keine Anstalten, die Speisekammer zu betreten. Sie steuerte zielstrebig auf das Fensterbrett zu, wo sie am Vorabend die halbvolle Flasche Rotwein abgestellt hatte, und schenkte sich ein Glas ein. Weder das Licht noch die Kekse schien sie zu bemerken. Sie ließ sich auf einen der Stühle fallen und starrte mit leerem Blick auf die Hintertüre zum Garten.
Obwohl Milena sie nur von der Seite sehen konnte, musste sie feststellen, dass Ava einfach furchtbar aussah. Ihre Gesichtsfarbe war unnatürlich blass, die Lippen blutleer. Das blonde Haar hing ihr strähnig ins Gesicht. Als sie jetzt nach dem Weinglas griff, zitterte sie sogar. Erst nippte sie nur vorsichtig, dann trank sie hastig drei große Schlucke – um plötzlich mit der Hand vor dem Mund aufzuspringen und in den Flur zu hechten. Kurze Zeit später hörte Milena die Spülung der unteren Toilette rauschen. Somnaris und Alkohol vertrugen sich offensichtlich nicht besonders gut.
Milena kämpfte mit sich. Sollte sie es wagen und schnell nach oben huschen?
Die Frage erübrigte sich, als sie nun Avas Stimme hörte.
»Felice! Feliiiice!«
Nichts.
Milena wunderte das nicht. Felice hatte ihrer Mutter nicht verziehen, dass diese ihr heute ins Gesicht gesagt hatte, sie ginge ihr auf die Nerven. Milena hatte versucht, Avas harte Aussage dem Stress zuzuschreiben, dem sie wohl gerade ausgesetzt war, war damit bei Felice aber gegen eine Betonwand geprallt.
»Felice.«
Sie hörte, dass Ava die Treppe hinaufging. Diesmal waren ihre Schritte schon fester als zuvor.
»Felice!«
Eine Türe klappte auf und zu. Dann eine weitere.
»Felice, das ist nicht witzig! Wo bist du?«
Der Stimme nach stand Ava im ersten Stock im Gang.
Ja, Kind, wo bist du, dachte Milena in ihrem Versteck. Du weißt genau, wenn du nicht herauskommst, wird sie nach dir suchen, und das bedeutet, dass ich in höchster Gefahr bin!
Sollte sie durch die Hintertür in den Garten fliehen?
Sie verwarf den Gedanken gleich wieder, als ihr einfiel, dass diese jetzt immer verschlossen war. Im Gegensatz zu Alwine war Ava sehr ängstlich. Natürlich hatte sie den Schlüssel beiseite geschafft, doch der lag oben, unter Felices Bett.
»Felice! Felice!«
In Avas Stimme schlich sich ein panischer Unterton.
Milena hörte sie wieder auf der Stiege; diesmal hastete Ava weiter nach oben Richtung Dachboden.
Jetzt oder nie, sagte sich Milena. Sie verließ die Speisekammer und huschte über den Hausflur in die kleine Toilette. Hier war Ava gerade gewesen; hier würde sie nicht so schnell nach Felice suchen. In der Speisekammer dagegen vielleicht schon.
Oben hörte sie Ava Kisten und Möbel herumschieben und Felices Namen rufen.
Wo um Himmels willen steckt diese kleine Kröte? In Milena machte sich ein mulmiges Gefühl breit. Dass Felice beleidigt war und sich vor ihrer Mutter versteckte, konnte sie ja noch verstehen. Aber Bobo, der ihr folgte wie ein Schatten, kapierte diese Spiele nicht. Warum machte er sich nicht bemerkbar?
Sie lugte durch den Türspalt auf den Flur.
Am Garderobenständer fehlte Felices Dufflecoat. Auch ihre Halbschuhe, die gewöhnlich neben Avas Stiefeln neben der Tür standen, waren nicht da.
Der Schreck fuhr Milena durch alle Glieder.
Dieses dumme, dumme Kind! – Irgendwann, während sie mit Keksebacken und ihre Mutter mit Schlafen beschäftigt war, musste sich Felice aus dem Haus gestohlen haben. Doch um wohin zu gehen? – Draußen war es inzwischen stockdunkel und kalt!
Ava rannte die Treppe herunter und stand plötzlich wieder im Flur. Auch sie starrte nun auf den Garderobenständer und kam anscheinend zu demselben Schluss wie Milena einige Augenblicke zuvor. Sie riss die Haustür auf und schrie Felices Namen in die Dunkelheit.
Ein kalter Luftzug war die einzige Resonanz darauf.
Ava warf die Haustür zu und lehnte sich dagegen, das Gesicht in den Händen verborgen. Dann begann sie zu schreien – völlig hysterisch, schrill und panisch.
Erst dachte Milena, dass sie sich gleich wieder beruhigen würde, doch als Ava ihren Kopf gleich mehrfach gegen die Wand schlug und an der Stirn zu bluten begann, konnte sie nicht länger zuschauen. Ohne Zögern trat sie aus ihrem Versteck.
»Hör auf damit!«, fuhr sie Ava an, doch die schien weder sie noch das Blut zu bemerken. Milena blieb keine andere Wahl. Sie packte die Schreiende an den Schultern und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige.
Ava verstummte und starrte sie sekundenlang an.
Dann öffnete sie den Mund. Kurz glaubte Milena, dass sie wieder zu schreien beginnen würde, doch sie schrie nicht und fragte auch nicht, wer da vor ihr stand, sondern flüsterte nur: »Wo ist mein Kind?«
»Ich weiß es nicht. Aber wir werden sie suchen, okay? Wir werden jetzt beide unsere Schuhe und unsere Mäntel anziehen, und wir werden da rausgehen und die Gegend absuchen. Und wenn wir sie nicht finden, werden wir die Polizei benachrichtigen, und die werden mit einer Hundestaffel nach ihr suchen.«
Der letzte Satz fiel ihr nicht leicht. Die Polizei war das Letzte, was sie brauchen konnte!
»Irgendwer wird sie finden«, fuhr sie mit fester Stimme fort. »Sie kann nicht weit gekommen sein, und Bobo ist bei ihr.«
»Bobo ist bei ihr …«, wiederholte Ava flüsternd. Wie in Trance zog sie sich den Mantel und die Stiefel an. Milena tat es ihr gleich.
»Komm. Wir finden sie. Schreien bringt überhaupt nichts!«
Ohne ein weiteres Wort folgte Ava ihr nach draußen in die Dunkelheit. Sie hatten den Hof noch nicht überquert, als Milena etwas einfiel: »Wir brauchen Licht, der Wanderweg ist stockdunkel. Hast du eine Taschenlampe?«
»Im … im Auto.«
Ava ging zurück und kam mit der Lampe wieder. Gemeinsam gingen sie vor bis zur Forststraße. Ava wollte nach links in Richtung Ort abbiegen, doch Milena hielt sie zurück.
»Warte. Lass uns erst überlegen, was sie vorhaben könnte.«
»Z…zu … ihrem Vater f…fahren.« Avas Zähne schlugen aufeinander. An der Außentemperatur konnte es nicht liegen, denn es war weniger kalt, als Milena befürchtet hatte. »Er … er … ist im Kranken…haus und sie w…wollte zu ihm.«
»Sie weiß, dass sie da nicht einfach hin kann.« Milena dachte angestrengt nach. Da war doch etwas … etwas, das Felice den ganzen Tag nicht mehr losgelassen hatte, worauf sie immer wieder zu sprechen gekommen war. »Ich glaube, sie hat sich auf den Weg zum Reitstall gemacht! Sie wollte unbedingt die Ponys sehen, von denen ich ihr erzählt habe. Wir müssen da entlang!«
Sie deutete bergaufwärts in Richtung Wanderweg. Ava zögerte zunächst, schloss sich ihr aber dann doch widerstandslos an.
»Felice!«, begann Ava irgendwann zu rufen. »Felice!«
Ihre Stimme verhallte im Wald.
Da! Vor ihnen geisterte ein Lichtschein, der immer heller wurde. Die Silhouette eines Mannes tauchte auf. Er hatte eine Stirnlampe auf dem Kopf und einen Dackel an der Leine.
»Suchen Sie Ihren Hund? Einen Bobtail?«
»Ja!«, stieß Ava atemlos hervor.
»Den habe ich weiter oben gesehen, beim Wasserfall. Aber passen Sie auf, dass Sie nicht abrutschen, das Gelände ist bei Dunkelheit ziemlich unübersichtlich und der Boden glatt!«
Beruhigende Aussichten. Milena spürte, dass Ava wieder nahe daran war, durchzudrehen. Sie packte sie am Arm und zog sie energisch weiter.
»Bobo! Bobo!«
Milena kam es sinnvoller vor, nach dem Hund zu rufen als nach seiner Besitzerin, die vielleicht noch immer zu trotzig war, um gefunden werden zu wollen. Und tatsächlich – als sie um die nächste Kurve bogen, lief ihnen Bobo schwanzwedelnd entgegen. Milena packte ihn am Halsband und streichelte über sein Fell. Er roch nach Moos und Wald. Seine Beine waren nass. Irgendwo war er im Wasser gewesen.
»Felice! Felice, wo bist du?«
Ava hatte den Hauptweg verlassen und folgte offenbar dem Lauf des Baches. Da sie diejenige war, die die Taschenlampe in der Hand hielt, schloss sich Milena ihr lieber an. Bobo folgte ihnen und lief schließlich sogar ein Stück voraus. Das Rauschen des schmalen Gebirgsbaches, der sich in einer kleinen Schlucht seinen Weg in Richtung Tal bahnte, wurde lauter. Vor ihnen lag eine Brücke. Ava war als Erste dort.
Sie sah nach unten – und stieß einen Schrei aus.
Ohne Milena weiter zu beachten, rutschte und stolperte sie in einem Tempo über den mit Felsen durchsetzten Hang nach unten zum Bachbett. Der Strahl der Taschenlampe erfasste schließlich eine kleine Gestalt in einem weinroten Dufflecoat, die reglos der Länge nach an einem Baumstamm lag.
Milena sah keine andere Lösung, als Ava zu folgen. Auf der anderen Seite der Brücke entdeckte sie einen kleinen Trampelpfad, der in Serpentinen nach unten führte.
Als sie unten ankam, saß Ava bereits auf dem Baumstamm und hielt ihre Tochter in den Armen. Felice war wach und ansprechbar, von ihrem nächtlichen Abenteuer aber sichtlich angeschlagen.
»Ich bin ausgerutscht, und mein Schuh ist runtergefallen«, sagte sie mit kläglicher Stimme. »Ich wollte ihn holen, aber dann wurde es dunkel. Ich hatte Angst, und …«
Der Rest ihrer Worte ging in Schluchzern unter. Ava hielt Felice nun fest umschlungen. Auch sie weinte, diesmal ganz offensichtlich vor Erleichterung.
*
Felice war unterkühlt, hungrig und müde. Ava und Milena kümmerten sich gemeinsam um sie. Sie stellten sie unter die warme Dusche, fütterten sie mit warmer Nudelsuppe und brachten sie ins Bett, wo das Mädchen dann sofort einschlief, den treuen Hund wie immer zu Füßen.
Während der ganzen Zeit richtete Ava kaum das Wort an Milena. Sie arbeiteten schweigend zusammen, so, als hätten sie schon immer gemeinschaftlich ein Kind versorgt und zu Bett gebracht. In Milenas Innerem verknoteten sich indessen unterschiedlichste Gefühle zu einem dichten Knäuel, das immer mehr an Gewicht gewann. Sie war erleichtert, sich endlich nicht mehr verstecken zu müssen, und auf seltsame, ja, nahezu beunruhigende Weise glücklich, endlich mit der Frau, die sie tagelang nur still hatte beobachten können, sprechen zu dürfen. Aber sie hatte auch Angst davor, wie es nun weiterginge. Noch stand Ava offensichtlich unter Schock, aber was, wenn sie zu sich kam? – Hoffentlich rief sie nicht gleich die Polizei, sondern ließ ihr die Chance, einfach abzuhauen.
Ava stand vor dem Spiegelschrank im Flur und tastete vorsichtig über ihre Stirn. Das Blut war inzwischen getrocknet.
»Lass mich das mal anschauen.«
Milena holte aus der Speisekammer das Fläschchen Arnika, das sie dort unlängst entdeckt hatte, und Watte. Alwines Hang, alles aufzubewahren, erwies sich zum ersten Mal als nützlich.
Ava hatte sich bereits auf einem der Küchenstühle niedergelassen. Bereitwillig legte sie den Kopf in den Nacken. Als Milena mit dem getränkten Wattebausch ihre Wunde berührte, zuckte sie zusammen. Gleichzeitig schien sich irgendein Hebel vom Stand-by- auf Normalmodus umzulegen. Sie richtete sich auf und schob Milena eine Armlänge von sich weg.
»Du bist kein Geist, oder?«
Meinte sie das ernst?
»Glaubst du an Geister?«, erwiderte sie vorsichtig.
»Nein. Zumindest habe ich noch nie einen getroffen.«
Trotz des Knäuels von Angst in ihrem Inneren, was die nähere Zukunft betraf, musste Milena lächeln. Konnte das sein: Die zugeknöpfte Ava machte einen Scherz?
»Also, wer bist du und seit wann wohnst du hier?«
»Ich heiße Milena. Ich habe hier schon gewohnt, als deine Mutter noch lebte. Der Rest ist eine lange Geschichte.«
»Ich habe Zeit.«
»Okay.« Das Knäuel in ihrem Bauch legte an Gewicht zu. »Aber kann ich dich trotzdem erst einmal verarzten?«
Vorsichtig tupfte sie Avas Stirn weiter ab. Es war nur eine oberflächliche Wunde; stellenweise hatte sich bereits Schorf gebildet.
»Danke.«
Ava stand auf und ging zum Herd, wo die Nudelsuppe noch immer vor sich hinköchelte.
»Willst du einen Teller?«
»Ja, gerne.«
Schweigend löffelten sie die Suppe, während sich Milena den Kopf darüber zerbrach, ob sie Ava die ganze Wahrheit über ihre Anwesenheit zumuten konnte. Immerhin hatte sie deren Mutter ausrauben wollen. Andererseits: Irgendeine Erklärung musste sie ihr liefern. Eine Lüge war keine Basis für eine Freundschaft.
Freundschaft!
Milena schüttelte über sich selbst den Kopf. Von so etwas wie Freundschaft waren sie meilenweit entfernt, auch wenn sich Avas Anwesenheit so vertraut anfühlte.
Avas leises Lachen riss sie aus ihren Gedanken. Überrascht sah sie von ihrem halbvollen Teller Suppe auf.
»Was ist?«
Ava hatte die Hände im Nacken verschränkt und betrachtete sie eingehend.
»Vor rund zwei Stunden dachte ich noch, es wäre der mit Abstand schlimmste Tag in meinem Leben. Jetzt sitze ich hier mit einer Frau, von der ich nichts weiß, und denke mir: Nein, es ist der absurdeste Tag in meinem Leben. Vielleicht ist das alles ja nur ein völlig verdrehter Traum.«
»Ich kann dir noch mal eine Ohrfeige geben, wenn dir das weiterhilft«, schlug Milena trocken vor.
Ava stand auf und schenkte ihnen beiden Rotwein ein.
»Du musst mich für komplett verrückt halten«, sagte sie, während sie eines der Gläser vor sie hinstellte.
»Nicht für komplett verrückt, aber ansatzweise schon«, gab Milena zu. »In Krisensituationen schmeißt du jedenfalls schnell die Nerven über Bord.«
Ava zog die Augenbrauen nach oben, erwiderte jedoch nichts. Stattdessen hob sie ihr Weinglas und prostete Milena stumm zu.
»Bist du sicher, dass sich dein Schlafmittel inzwischen abgebaut hat, oder willst du die Nudelsuppe auch wieder ins Klo kotzen?«
Ava blinzelte. Dann stellte sie ihr Glas ab, ohne getrunken zu haben. »Was weißt du noch von mir?«, fragte sie langsam.
»Dass du zu viel arbeitest«, antwortete Milena ehrlich. »Dass du nicht weißt, wie du mit deinem Kind umgehen sollst. Dass du ständig Angst hast, Fehler zu machen. Dass du irgendein Problem mit deiner verstorbenen Mutter hast, was mich nicht sonderlich überrascht, da ich sie ja auch kurz kennenlernen durfte. Dass du nicht glücklich bist.«
Ava trank nun doch einen Schluck Wein.
»Und das alles glaubst du weshalb so genau zu wissen?«
Milena lachte verhalten. »Weil es offensichtlich ist?«
Auch sie nahm nun einen Schluck. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass sie Alkohol trank. Es fühlte sich ungewohnt am Gaumen an, fast pelzig.
»Ich habe heute meinen Job verloren«, sagte Ava mit überraschender Offenheit. »Danach hat meine Lebensgefährtin mit mir Schluss gemacht. Und dann ist auch noch meine Tochter weggelaufen.«
»Na, zumindest die haben wir wiedergefunden.«
»Ja … dank dir.« Ava seufzte. »Aber warum reden wir überhaupt über mich? – Du bist diejenige, die mir Rede und Antwort stehen sollte. Wieso bist du hier, in meinem Haus?«
»Im Haus deiner Tochter, meinst du.« Milena war noch immer nicht ganz wohl bei dem Gedanken, vor Ava auszupacken, und versuchte sich erneut in einem Ablenkungsmanöver. »Soweit ich informiert bin, hat Alwine ihr das Haus geschenkt.«
Sie bemerkte am Zucken des rechten Augenlids, dass ihr Informationsstand Ava beunruhigte.
»Wir werden jetzt nicht über meine Mutter reden und auch nicht über das Erbe. Ich will jetzt von dir wissen, wer genau du bist, seit wann du hier wohnst und warum du hier bist.«
Milena sah ein, dass es keinen Sinn hatte, weiter auszuweichen. Sie sprang in das tiefe Wasser, das sich vor ihr auftat, und begann zu reden. Legte die Tatsachen schonungslos auf den Tisch, erzählte von Rudi, von dem Rentner, der die Polizei gerufen hatte, von ihrer Idee, in Alwines Haus unterzuschlüpfen, bis Corona nur noch ein Virus von vielen wäre und der Arbeitsmarkt wieder auf Touren käme.
Ava hörte einfach nur zu, holte zwischendurch noch eine Flasche Wein aus Alwines Sammlung, hörte weiter zu und begann irgendwann, von sich zu reden. Milena spürte, wie gut es ihnen beiden tat, dass jemand zuhörte. Ihr Bild von der steifen, nur auf ihre Karriere konzentrierten Frau löste sich auf. Ava mochte ehrgeizig und verbissen sein, aber sie war darüber hinaus noch viel mehr. Leidenschaftlich, wenn es um Einrichtung ging, unterhaltsam, wenn sie von dem Kollegen erzählte, der sie hintergangen hatte, enttäuscht und traurig, als sie von der Trennung von ihrer Freundin berichtete.
Als sie entschieden, sich endlich schlafen zu legen, wusste Milena nach wie vor mehr von Ava als diese umgekehrt von ihr, was sie selbst jedoch wenig überraschte. Sie hatte sich im Laufe ihres Lebens gewisse Taktiken antrainiert, mehr Informationen zu erhalten als preiszugeben. Damals, als Billie und sie diesen illustren, neureichen Freundeskreis gepflegt hatten, war es ein ungeschriebenes Gesetz gewesen, nicht zu viel über sich zu erzählen. Eine Kindheit im polnischen Plattenbau, die bunten Geschichten der Babunia und einsame Jahre in Wien – das waren keine unterhaltsamen Themen.
Sie sahen noch nach Felice. Das Mädchen hatte sich im Bett breitgemacht und schlief tief und fest. Der misslungene Ausflug zum Ponyhof hatte sie erschöpft.
»Und jetzt?«, fragte Ava, als sie die Tür wieder geschlossen hatte. Unschlüssig stand Milena vor ihr auf dem Gang.
»Normalerweise schlafe ich bei Felice.«
»Na dann.«
Ava war schon dabei, die Tür wieder zu öffnen, als Milena ihr die Hand auf den Arm legte. Es kostete sie Überwindung, die nächste Frage zu stellen.
»Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?«
Ava hob die Augenbrauen – überrascht oder amüsiert? Milena vermochte es nicht zu sagen.
»Wieso das?«
»Weil Alwines Zimmer unbrauchbar und die Couch im Wohnzimmer unbequem ist, und weil ich Felice nicht wecken möchte?«, versuchte sie es mit einer Begründung, die plausibel klang.
»Wie edel von dir.« Ein dünnes Lächeln umspielte Avas Lippen. »Und ich dachte schon, es ist, weil du so hingerissen von mir bist und dich nicht von mir trennen kannst?«
Milena schnappte nach Luft. Ava überraschte sie. Wieder und wieder. »Hast du zu viel getrunken?« Anders konnte sie sich nicht erklären, wie Ava auf so eine Idee kam.
»Ganz bestimmt sogar. Aber sei vorsichtig, was du sagst. Ich kann dich immer noch vor die Tür setzen.«
Milena klopfte ihr mit einem Augenzwinkern auf die Schulter und überspielte damit das Knäuel von Sorgen in ihrem Bauch, das sich noch immer nicht ganz aufgelöst hatte.
»Das lassen wir morgen besser diejenige entscheiden, die das auch entscheiden darf – die Hausbesitzerin.«
*
Ava öffnete die Augen. Die Sonne schien durch die zugezogenen Vorhänge. Ihr Kopf schmerzte leicht, ihre Kehle war trocken – die Nachwehen eines Abends, an dem sie ein, zwei Gläschen Wein zu viel getrunken hatte.
Nur langsam sickerte die Erinnerung an den vergangenen Tag und all seine Geschehnisse in ihr Bewusstsein. Sie drehte sich um. Nein, es war weder Einbildung noch ein Traum gewesen. Neben ihr schlief die Frau, mit der sie unwissentlich tagelang das Haus geteilt hatte.
Sie lag auf der Seite, das Gesicht zugewandt. Die dunkelblonden Locken fielen ihr über die Schultern. Im Schlaf sah sie jünger aus als sechsundzwanzig, das Alter, das sie genannt hatte. Mit ihrer konturierten Nase und den Augen, die eine Spur zu weit auseinanderstanden, um harmonisch zu wirken, war sie keine klassische Schönheit, jedoch nicht unattraktiv. Die Grübchen gaben ihrem Gesicht etwas Weiches, fast Kindliches.
Sie sah friedlich und harmlos aus – wie alle schlafenden Menschen. Doch während Ava am Vortag viel zu aufgewühlt von den Ereignissen des Tages gewesen war und hauptsächlich Dankbarkeit gegenüber der so unerwartet auftauchenden Hilfe empfunden hatte, holte sie heute die Nüchternheit ein: Neben ihr lag eine Herumtreiberin ohne festen Wohnsitz, die sich einer kriminellen Bande angeschlossen hatte, um alte Leute auszurauben. Wäre sie bei der Suche nach Bargeld und Schmuck fündig geworden, hätte sie sich zweifellos auf und davon gemacht. Im Umkehrschluss lag damit auf der Hand, dass auch ihre Suche nach Geld oder Werten ergebnislos verlaufen war.
Milena. So hieß sie. Angeblich. Wer wusste schon, ob das stimmte?
Ava rutschte leise aus dem Bett, nahm Jeans und Pulli von der Stuhllehne und ging ins Badezimmer. Ein Blick aufs Handy sagte ihr, dass es fast neun war – eine Unzeit für sie, die Frühaufsteherin. Während sie sich frisch machte, mischten sich weitere Gefühle in ihr Potpourri der Erinnerungen an den vergangenen Tag.
Sie hatte als Mutter also wieder einmal versagt. Felice war abgehauen, weil sie nicht auf ihre Bedürfnisse eingegangen war. Sie hatte ihr eigenes Kind weggeschubst, wenn auch nur sinnbildlich, um für einen Job da zu sein, den sie obendrein verlor.
Jeder ist austauschbar, hatte Manou nicht selten gesagt und sich über die vielen Überstunden aufgeregt. Damals hatte sie ihr zu erklären versucht, dass man mit Durchschnittlichkeit niemals die Karriereleiter hochkäme und sich Fleiß am Ende immer noch auszahlte. Manou hatte sie einfach nur ausgelacht.
Mit Recht, wie Ava nun voller Verbitterung dachte. Sie selbst hatte sich zu sehr in ihre Laufbahn verbissen und darüber hinweggesehen, dass Céciles Umgang mit dem Team nicht gerade von Fairness geprägt war. Unter Céciles Regime war die Firma nach und nach zu einem Hire & Fire-Betrieb geworden. La Maison Française hatte ihre Beziehung zu Manou vergiftet und sie zurück in die Arme ihrer Ex getrieben. Und sie selbst stand nun da mit nichts außer Problemen: ohne Liebe, ohne Gehalt, ohne Perspektive, dafür mit einem Haus, dessen Zukunft noch immer ungeklärt war, einer Tochter, die sie laut eigener Aussage hasste, und einer kriminellen Obdachlosen, die sich genauso gut als Psychopathin entpuppen konnte.
Ava bereute die Offenheit, die sie am Vorabend Milena gegenüber an den Tag gelegt hatte. Die Erleichterung, Felice wiedergefunden zu haben, und natürlich der Alkohol hatten ihre Vorsicht und Zurückhaltung ausgehebelt. Auch wenn sie die Gespräche nicht im Detail hätte wiedergeben können, so erinnerte sie sich noch gut, dass es am Ende mehr Flirt als bloße Unterhaltung war.
Obendrein hatte sie dieser Frau erlaubt, in ihrem Bett zu schlafen! Es war nichts zwischen ihnen passiert, natürlich nicht, aber allein die Tatsache, dass sie mit einer Wildfremden auf einer 130-cm-Matratze gelegen hatte, konnte nur dem Alkohol geschuldet sein. Ausgeschlossen, dass sich das wiederholte!
Während Ava ihr Haar zu einem schlichten Zopf flocht, fasste sie einen Entschluss: Gleich nach dem Frühstück würde sie Milena sagen, dass sie gehen soll. Lange genug hatte sie sich hier ein Wohnrecht erschlichen.
Ehe sie nach unten ging, schaute sie in Felices Zimmer. Bobo lief ihr entgegen, als habe er nur auf sie gewartet, und Ava begriff, dass ihn ein dringendes Bedürfnis plagte. Sie ging nach unten und ließ ihn in den Garten, dann sah sie nach ihrer Tochter. Felice schlief noch, hatte sich aber von der Bettdecke befreit. Ava zog sie höher und betrachtete das schlafende Kind.
Am Vortag, als sie ihr Verschwinden bemerkte, war etwas in ihr passiert, etwas, womit sie niemals gerechnet hätte: Ihr Herz hatte ein paar Takte lang aufgehört zu schlagen, und eisige Kälte war durch ihren Körper gekrochen. Gleichzeitig war da das Gefühl, innerlich zu verbluten. Die Angst hatte sie nicht nur seelisch getroffen, sondern auch körperlich. Ihr ganzer Organismus spielte angesichts der Sorge um Felice verrückt, während in ihrem Kopf schreckliche Bilder herumspukten und sie fast in den Wahnsinn trieben: Felice, in der Dunkelheit von einem Auto angefahren. Felice, von einem Triebtäter entführt. Felice, die nie wieder gefunden würde, wie so viele Kinder, die einfach verschwanden.
Jetzt, da Ava vor ihrem Bett stand, quoll ihr Herz über von den verschiedensten Empfindungen: Erleichterung, weil das Kind hier lag. Zuneigung. Erstaunen, dass aus diesem schreienden, schrumpeligen Baby so ein hübsches, perfektes Wesen geworden war. Und auch Dankbarkeit gegenüber Gabriel, der Felice mit Liebe und Förderung großgezogen hatte.
Ich hasse dich.
Die Worte ihrer Tochter brannten Ava noch immer auf der Seele. Dass Felice sie irgendwann genauso lieben würde wie Gabriel, war wohl illusorisch. Aber vielleicht konnte sie sie zumindest ein bisschen gern haben, wenn sie sich fortan bemühte, eine bessere Mutter zu sein.
Sie strich der Schlafenden eine Haarsträhne aus dem Gesicht und berührte dabei deren Stirn. Erschrocken zog sie die Hand zurück. Felice glühte! Oh nein, bitte nicht.
Das Fieberthermometer lag zur angeordneten regelmäßigen Temperaturmessung griffbereit auf dem Nachtkästchen. Als sie es unter die Achsel schob, gab das Mädchen ein leises Stöhnen von sich, hustete – und öffnete die Augen.
»Mir ist so heiß«, flüsterte Felice. Ihre Stimme klang heiser. »Und mein Hals und mein Kopf tun weh.«
»Ich mache dir gleich einen Tee.« Ava sah auf das Fieberthermometer. Es zeigte 38,5 Grad.
»Wo ist … Bobo?« Felice setzte sich mühsam auf. »Und wo ist Milena?«
»Bobo ist im Garten. Milena schläft noch.«
Felices Gesicht verzog sich zu einer weinerlichen Grimasse.
»Aber warum hat sie nicht hier geschlafen? Sie schläft sonst immer bei mir …«
»Wir wollten dich gestern nicht mehr stören«, erwiderte Ava wahrheitsgemäß, während ihr dämmerte, dass es Felice wohl kaum freute, wenn sie Milena aus dem Haus warf. Sie würde sich eine verdammt gute Erklärung dafür zurechtlegen müssen, das war sicher.
Milena erschien in der Küche, als sie gerade dabei war, den Hund und die Katzen zu füttern. Sie steckte in einem viel zu großen, bodenlangen Samtkleid, das Ava als eines ihrer eigenen alten Kleider identifizierte, und einer grauen Strickjacke, die Max als Jugendlicher getragen hatte. Ihr Anblick hatte etwas von einer Vogelscheuche. Es fehlte nur noch ein zerbeulter Hut.
»Meine Jeans ist gestern total schmutzig geworden«, sagte Milena, als hätte sie Avas Gedanken erraten. »Ich habe sie in die Waschmaschine gesteckt.«
Die Selbstverständlichkeit, mit der sie es sagte, stieß Ava sauer auf. Besser, sie brachte es gleich hinter sich.
»Milena, du kannst hier nicht länger bleiben. Es ist nicht dein Haus, du hast hier kein Wohnrecht, und die Umstände, unter denen du hierhergekommen bist, sind mehr als dubios. Sobald deine Jeans trocken ist, wirst du gehen, klar?«
Das leichte Lächeln, das Milenas Lippen zuvor noch umspielt hatte, erlosch. Ava konnte das Entsetzen, das von ihrem Gegenüber Besitz ergriff, regelrecht spüren. Einen kurzen Moment lang fühlte sie sich schuldig. Konnte sie das wirklich tun: eine junge Frau, die kein Dach über dem Kopf hatte, einfach auf die Straße setzen?
Ja, bestätigte sie sich nach kurzem Zaudern. Nach allem, was sie am Vorabend von ihr selbst erfahren hatte, war diese junge Frau schließlich kein unbeschriebenes Blatt. Sie hatte sogar zugegeben, dass sie ihr Geld gestohlen hatte. Wozu war sie noch in der Lage?
*
Erneut hatte sie sich in einer Frau getäuscht und dadurch zu sicher gefühlt.
Milena saß mit einem angebissenen Butterbrot am Küchentisch und nippte an ihrem heißen Kaffee in dem Bewusstsein, dass es ihr vorläufig letzter sein konnte. Sie fand keine Erklärung dafür, was über Nacht mit Ava passiert war. Am Vortag hatten sie doch zu einer guten Basis gefunden, oder nicht? Offenbar hatte sie die lockere Stimmung fehlinterpretiert. Ava sah in ihr nicht länger die gute Fee ihrer Tochter, sondern einen Eindringling.
Obgleich ihr der Appetit vergangen war, zwang sie sich, das Brot aufzuessen. Nebenan hörte sie Ava Lebensmittel bei Feinkost Gruber bestellen.
Ob es in Salzburg eine Obdachlosenunterkunft für Frauen gab? Wenn ja, würde man dort ihren Ausweis sehen wollen? Wenn sie nur daran dachte, was nun auf sie zukam, wurde Milena fast schlecht vor Angst. Sie wollte nicht in ein Asyl, noch weniger ins Gefängnis, wollte nicht mal als vorbestraft gelten. Sie wollte ihr Leben zurück, jenes Leben, dass sie vor Billie geführt hatte! – Diesmal war ihre Verzweiflung so groß, dass sie keinen Ausweg mehr sah.
Ava hatte das Gespräch beendet und begann ein neues. Anfangs klang sie kühl und sachlich, wurde dann jedoch lauter. Etwas schien sie aufzubringen. Als sie das Telefonat beendet hatte, kehrte sie in die Küche zurück.
»Jemand von der Gesundheitsbehörde kommt gleich vorbei und führt einen neuen Covid-Test mit uns durch.« Sie ließ sich auf den zweiten Küchenstuhl sinken. »Ich habe das so satt! Als gebe es nichts anderes mehr als Corona! Felice hat bestimmt nur einen grippalen Infekt – kein Wunder, wenn man an ihren gestrigen Ausflug denkt!«
Milena sagte nichts. Das alles war wohl kaum mehr ihr Problem.
»Streng genommen müsstest du auch getestet werden«, fuhr Ava fort. »Du hattest ja besonders engen Kontakt zu Felice.«
Getestet? – Oh nein, bloß das nicht!
Getestet hieß: Eine Behörde würde offiziell ihre Daten aufnehmen. Milenas Angst vor der nahen Zukunft wurde von einem Gefühl blanker Panik überlagert.
»Ich gehe besser gleich«, sagte sie mit belegter Stimme. Dann behielt sie dieses Kleid eben an und nahm die Hose nass mit.
Ava runzelte die Stirn.
»Das ist doch lächerlich. Wir hatten vorhin vereinbart, dass du bis morgen bleiben kannst.«
Vereinbart hatten sie im Grunde gar nichts.
»Ich kann mich nicht testen lassen«, stellte Milena klar. »Ich bin nicht sozialversichert; es gibt mich in Österreich quasi nicht mehr.«
»Das ist kaum möglich«, widersprach Ava, während sich gleichzeitig ein Ausdruck scheinbarer Erkenntnis auf ihrem Gesicht ausbreitete.
Super, dachte Milena, jetzt hat sie endgültig gecheckt, dass ich etwas ausgefressen habe. Sie stand auf. Die Waschmaschine musste inzwischen durchgelaufen sein.
*
Ava verbrachte beinahe den ganzen Tag an Felices Bett. Sie flößte ihr Tee ein, damit sie nicht dehydrierte, machte Wadenwickel, um das Fieber zu senken, und bot ihr immer wieder Suppe oder Zwieback an. Vergebens. Felice hatte keinen Hunger.
Irgendwann erschien ein Mitarbeiter der Gesundheitsbehörde – wie schon beim ersten Mal komplett im Schutzanzug – und nahm von ihnen beiden einen Rachenabstrich. Ava verzichtete darauf, den Mann auf Milena hinzuweisen, zumal sie zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung hatte, wo sie gerade steckte. Die blinde Passagierin ging ihr seit dem Frühstück aus dem Weg. Ava war darüber nahezu erleichtert. Sie war im Moment zu sehr mit Felice und den Trümmern beschäftigt, unter denen ihr bisheriges Leben begraben lag, als dass sie sich noch weiter mit ihr auseinandersetzen konnte und wollte.
Irgendwann am späteren Abend schlief Felice wieder ein. Das Fieber war nicht weiter gestiegen, was Ava soweit beruhigte, dass sie sich in ihr eigenes Zimmer zurückzog. Ihre Gedanken wanderten zu Manou und gemeinsamen schönen Augenblicken. Angesichts dessen, dass Manou einfach so zu ihrer Ex gezogen war, hätte sie eher wütend sein sollen. Doch stattdessen war sie überwältigt von Kummer und Sehnsucht nach einer Liebe, von der sie gehofft hatte, dass sie für länger hielte als nur knapp drei Jahre.
Wieder einmal bin ich gescheitert, dachte sie bitter. Wieder einmal hat sich gezeigt, dass ich in privaten Beziehungen kläglich versage.
Und in beruflichen auch, flüsterte ihr eine böse Stimme ins Ohr.
Ava griff nach der Packung Somnaris. Nur noch zwei Tabletten, dann war sie leer. Dennoch – gerade jetzt konnte sie unmöglich darauf verzichten.