Milena

Milena hatte eine kurze Nacht hinter sich. Auf dem alten Sofa hatte sie kaum Schlaf gefunden. Nicht nur, dass die Polster unangenehm rochensie waren auch noch genauso hart und unbequem, wie sie aussahen. Die alte Wolldecke, die sie in einem der Schränke gefunden hatte, war zudem voller Katzenhaare. Auch ohne Allergie kitzelten sie in der Nase und im Hals.

Gegen vier Uhr dreißig in der Früh gab sie auf. Die Jeans war inzwischen trocken, aber sie hatte nicht vor, jetzt schon zu verschwinden. Draußen war es noch stockdunkel und kalt. Der erste Bus gen Zentrum fuhr in einer Stunde, wie sie von ihren früheren Ausflügen in die Stadt wusste. Wohin sie dort gehen sollte, wusste sie noch immer nicht.

Sie fühlte sich jedoch nicht mehr ganz so verzweifelt wie am Vortag. In der Nacht, als sie kurz etwas tiefer geschlafen hatte, war ihr die Babunia im Traum erschienen. Kopf hoch, hatte sie gesagt. Wo eine Tür zufällt, geht eine andere auf!

Ihre Großmutter hatte immer so viel Zuversicht ausgestrahlt, sogar dann noch, als der Krebs sie fast schon aufgefressen hatte.

Wie so oft, wenn sie an die Babunia dachte, fühlte sich Milena schuldig. Sie wusste sehr genau, dass die Großmutter von ihr enttäuscht gewesen wärezum einen, weil sie sich auf einen Betrug eingelassen hatte, zum anderen, weil sie nun nicht dafür geradestand. Die Babunia wäre vermutlich auch der Ansicht gewesen, dass sie die unfreiwillige Gastfreundschaft der Familie Jakobi schon über alle Maßen ausgenutzt hatte. Dass ihre Enkelin auch noch Geld stahl, hätte sie beschämt.

Und so fühlte sich Milena an diesem Morgen voller Scham und Schuld, als sie in der Küche fortsetzte, was sie tags zuvor bereits im Wohnzimmer begonnen hatte: Sie räumte gründlich auf und putzte. Gegen sieben Uhr früh strahlten Alwines Küchenschränke im neuen Glanz. Das Putzwasser war schwarz. Kaputte Teller, ausgewaschene Joghurtbecher, angeschlagene Kaffeetassen und eine Flut von leeren Marmeladengläsern landeten in Müllsäcken und alten Kartons. Dann formte sie aus dem Hefeteig, den sie aufgesetzt hatte, kleine Semmeln. Zumindest irgendetwas wollte sie Ava zurückgeben

»Was machst du da

Felice tapste auf Socken in die Küche, gefolgt von Bobo. Sie steckte bereits in Jeans und Pulli und wirkte so frisch, als hätte es den vergangenen Tag nicht gegeben.

»Wie geht es dir

»Super. Ich hab kein Fieber mehr. Nur mein Hals tut noch wehFelice sah sich um. »Das sieht hier jetzt richtig gut aus

Sie öffnete die Gartentüre und ließ Bobo nach draußen. Dann stellte sie sich neben Milena.

»Kann ich dir helfen

»Eigentlich nicht. Ich bin fast fertig

»Ich will aber

Milena seufzte und schob ihr die Schüssel zu.

»Hier. Bitte. Mach die restlichen Semmeln alleine

»Und du

»Ich decke inzwischen im Salon den Frühstückstisch

Ava kam nach unten, als sie das Blech mit den frisch gebackenen Semmeln gerade aus dem Ofen nahm. Es waren fünf perfekt geformte und drei, die etwas weniger perfekt aussahen. Dafür klebten an Felices dunklem Pulli Teig und Mehl.

»FeliceAva stürzte auf ihre Tochter zu und legte ihr die Hand auf die Stirn. »Du gehörst ins Bett, du kannst sicher noch nicht gesund sein

»Mir geht es gutFelice verdrehte unwillig die Augen. »Ich hab schon Fieber gemessen, ist alles okay. Ich war nur gestern krank. – Sieh mal, was ich mit Milena gemacht habe

»Toll

Milena fühlte Avas Blick auf sich ruhen, sah sie aber nicht an. Sie wollte keine weitere Konfrontation mit dieser Frau, die so attraktiv wie unberechenbar war. Ava hatte ihre Position klargestellt, und sie hatte sie nun auch akzeptiert. Es gab nichts mehr zu sagen außer Auf Wiedersehen.

Sie legte die heißen Semmeln in einen Korb, während Felice bereits ihre Mutter an der Hand nahm und loslief.

»Komm! Schau mal! Wir haben eine Überraschung für dich vorbereitet

Milena brauchte Avas Gesicht nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie dieser Überraschung eher skeptisch gegenüberstand. Dennoch ließ sich Ava nun von ihrer Tochter ins Wohn- und Ess­zimmer ziehen, um sie an den gedeckten Tisch zu bringen, den Milena mit Tischdecke, Tannenzweigen und Kerzen weihnachtlich dekoriert hatte, doch Ava blieb an der Tür wie angewurzelt stehen und musterte die sauber eingeräumten Regale, den von Staub befreiten Boden und die geputzten Fenster, durch die die Morgensonne fiel.

»Oh«, sagte sie nur.

»Schau mal, wir haben schon Frühstück für dich gemachtFelice war ganz aus dem Häuschen, was Milena unwillkürlich zum Schmunzeln brachte. »Damit du es richtig schön hast

»Welche Absicht steckt da wohl dahinter

Ava sah zu ihr, doch wieder wich Milena ihrem Blick aus. Es kränkte sie, für so plump und berechenbar gehalten zu werden.

»Die Absicht, mich zu entschuldigenFelice bezog die Frage ihrer Mutter prompt auf sich. Sie klang etwas kleinlaut, aber Milena wurde den Verdacht nicht los, dass ihre Reue nicht ganz aufrichtig war. »Mama, es tut mir voll leid, dass ich vorgestern einfach weggegangen bin und du dir Sorgen gemacht hast und mich in der Nacht suchen musstest. Aber ich bin froh, dass du mich gefunden hast, und alles, was ich vorher zu dir gesagt habe, tut mir auch leid …« Sie machte eine kleine Pause und ergänzte dann mit deutlich weniger Pathos: »Aber heute können wir dann Peggy anrufen und fragen, wie es Papa geht, oder? Vielleicht weiß sie ja jetzt mehr

Kleines Luder, dachte Milena, stellte aber zugleich fest, dass Felices flammende Rede bei Ava auf leicht entzündbaren Boden getroffen war. Ihre Wangen waren plötzlich ganz rot. Verstohlen wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

»Das machen wir ganz bestimmt«, versicherte sie. »Gleich nach dem Frühstück rufen wir Peggy an

Da war sie wieder, die warmherzige, freundliche Ava, die sie einen Abend lang hatte kennenlernen dürfen. Die, bei der sie das Gefühl gehabt hatte, einer Frau gegenüberzusitzen, die sich nach so vielem sehnte, aber nichts davon genauer benennen konnte. Milena schluckte trocken und stellte hastig den Korb mit den Semmeln auf den Tisch.

»Hej! Du hast einen Teller zu wenig aufgedeckt! Wir sind doch zu dritt

Felice hatte das fehlende Gedeck bemerkt.

Milena atmete tief durch. Sie wusste, was sie jetzt zu sagen hatte, würde Felices gute Laune nachhaltig trüben.

»Ich werde nicht mehr mit euch frühstücken, Felice. Ich werde heute nach Hause fahren

»Aberaberdu hast gesagt, du hast kein Zuhause! Du hast gesagt, dass du draußen erfrieren musst, wenn du nicht hierbleiben kannst

Ava zuckte merklich zusammen, blieb aber still.

»Ich werde sicher nicht erfrieren. Mach dir keine SorgenMilena zwang sich zu einem Lächeln.

»Ich will aber nicht, dass du gehstFelice umschlang sie mit beiden Armen. »Bitte, Milena! Bitte geh nicht! Mir ist doch den ganzen Tag langweilig ohne dich! Ich will, dass du da bleibst! Bitte, bitte, bitte

»Deine Mama wird sich ab sofort super um dich kümmern

Milena konnte die Süffisanz nicht ganz aus ihrer Stimme verdrängen. Ava sah sie über Felices Kopf hinweg etwas hilflos an, und Milena fragte sich, was sie noch von ihr erwartete. Die Absolution dafür, dass sie sie aus dem Haus verbannte?!

Felice schien die Blicke zu spüren. Sie fuhr herum und wandte sich ohne zu zögern an Ava.

»Schickst du Milena etwa weg, Mama

»Nnein, ich …« Ava geriet ins Straucheln. »Ich denkealso, Milena war jetzt sehr lange hier, und sie möchte sicher auch wieder mal was anderes sehen, nicht wwahr

Erneut sandte sie einen hilflosen Blick in Milenas Richtung. Diesmal stieg Milena darauf ein. Es hatte keinen Sinn, Felice in dieses Verbalpingpong miteinzubeziehen.

»Das stimmt«, sagte sie. »Ich war schon sehr lange hier zu Gast, und daher ist es Zeit zu gehen

Ava schien aufzuatmen.

»Aber zum Frühstück kannst du gerne noch bleiben«, sagte sie dann.

Sicher nicht, hätte Milena gern patzig erwidert und dabei die nächtliche Standpauke der im Traum erschienenen Babunia verdrängt. Doch da sagte Felice auch schon »Bitte, bitteund Milena ging auf, dass es pure Dummheit war, ohne Essen im Bauch aus diesem Haus zu verschwinden. Wer konnte ihr schon garantieren, wann sie wieder etwas zwischen die Zähne bekam?

Es war lange her, dass sie mit jemandem gemeinsam gefrüh­stückt hatte. Hätte ihre Abreise nicht wie ein Schleier des Unbehagens über ihr gehangen, wäre es eine angenehme Abwechslung gewesen. So jedoch plauderte nur Felice, während Ava und sie sich die meiste Zeit anschwiegen.

»Die Semmeln sind gut«, sagte Ava immerhin, nachdem sie eine halbe davon gegessen hatte, ehe sie sich auf den Obstsalat stürzte.

»Milena kann das!«, bekräftigte Felice. »Weilsie ist nämlich KonKon…« Sie wandte sich fragend an Milena. »Wie heißt das Wort

»Konditorin

Ava sah fragend auf. Die Tatsache, dass eine Obdachlose einen Beruf erlernt hatte, irritierte sie offensichtlich.

»Ich verstehe nicht, warum …«, setzte sie an, doch Milena unterbrach sie.

»Das musst du auch nicht verstehen. Ich bin gleich eh weg

Ava seufzte, sagte aber nichts. Ihr Handy, das neben ihrem Teller lag, piepste. Sofort sah sie nach, wer ihr eine Nachricht zukommen ließ. Die Ex, schlussfolgerte Milena, als sie sah, wie sich Avas Gesicht verfinsterte.

»Das ist der SMS-Service der Gesundheitsbehörde«, sagte sie. »Felices Abstrich ist positiv

»Was? Muss ich ins Krankenhaus, so wie der PapaBlanker Horror stand dem Mädchen ins Gesicht geschrieben. »Muss ich sterben

Die Katastrophenberichte der diversen Medien waren offenbar auch an ihr nicht spurlos vorübergegangen. Milena erinnerte sich, dass sie mit Avas Tablet nicht nur ihren Homeschooling-Tag bestritten, sondern auch im Internet gesurft hatte, was ihr Vater sonst nicht erlaubte.

»Unsinn«, erwiderte Ava. »Natürlich nichtSie wandte sich an Milena. »Das kann doch nicht stimmen, oder? Sieh sie dir an sie hustet nicht einmal mehr

Milena zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Ich bin keine Ärztin

Ava lachte bitter und sagte dann: »Ich glaube nicht, dass in dieser ganzen Corona-Sache wirklich noch Ärzte die Entscheidungsträger sind. Das ist mittlerweile ein Politikum

»Ich will nicht ins Krankenhaus«, wiederholte Felice bekümmert.

»Du kommst auch nicht ins Krankenhaus. Ich bin überzeugt, dass das ein Irrtum ist. Ich werde das sofort klären

Ava stand auf und ging mit ihrem Handy hinüber in die Bibliothek. Hinter der geschlossenen Tür hörten sie sie telefonieren. Als sie zurückkam, wirkte sie aufgewühlt.

»Die sind doch komplett irre!«, sagte sie und warf das Handy so schwungvoll auf den Tisch, dass sie damit beinahe ihr Glas Orangensaft zum Sturz gebracht hätte. Milena konnte es in letzter Sekunde auffangen. »Der Test war positiv, das ist alles, was für diese Bürokraten zählt. Unsere Quarantäne wurde daher um zehn Tage verlängert. Kannst du dir das vorstellen? – Das heißt, ich bin dann ganze drei Wochen hier gefangen, wegen nichts! Das ist gegen jede Menschenwürde

»Ich habe das Haus seit Oktober kaum verlassen«, erwiderte Milena ungerührt. »Was des einen Leid, ist des andern Freud, wie es so schön heißt.« Die Spitze konnte sie sich nicht verkneifen.

»Das ist etwas anderes«, widersprach Ava. »Du konntest immerhin spazieren gehen oder mal kurz zum Einkaufen. Ich dürfte rein rechtlich nicht mal vor die Tür

»Milena darf das jetzt auch nicht mehr«, meldete sich Felice zu Wort. »Sonst steckt sie jemanden an. Und der könnte dann sterben!«

Ava und Milena wechselten einen Blick.

»Das heißt also, sie muss hierbleiben«, stellte Felice zufrieden fest und griff nach einer weiteren Semmel. »Denn sonst sind wir schuld, wenn sie jemanden insiinwi…«

»Infiziert«, half Milena nach. »Ich glaube aber nicht, dass ich das Virus in mir trage

»Das kannst du nicht wissen«, widersprach Ava unerwartet. »Wir sollten vielleicht lieber nichts riskieren

Milena runzelte die Stirn. Der plötzliche Kurswechsel irritierte sie. »Das heißt was genau?«, fragte sie nach.

Ava stocherte in ihrem Obstsalat herum, um ein kleines Apfelstückchen auf der Gabel zu fixieren.

»Bleib mit uns in Quarantäne. In Anbetracht der Umstände macht es keinen Sinn, irgendwo anders unterzukommen

Sie will nicht mit Felice allein sein.

Die Art, wie Ava es sagte, ließ für Milena nur diesen Schluss zu. Zu gerne hätte sie ihr die versteckte Bitte abgeschlagen. Doch Stolz konnte sie sich in ihrer Situation nicht leisten.

»Okay«, sagte sie daher. »Ist sicher vernünftiger

*

Nach dem Frühstück spielte Milena mit Felice Brettspiele und fragte sie Englischvokabeln ab, die sie am Montag für das Homeschooling können sollte. In Parterre hörte sie Ava herumräumen. Irgendwann war es unten jedoch so beunruhigend still, dass Milena beschloss, hinabzugehen. Letztendlich stand vielleicht doch noch ein klärendes Gespräch zwischen ihnen an, das nicht für Felices Ohren gedacht war.

Sie fand Ava im Wohnzimmer am Boden neben dem Sofa. Das Sofa war mit Schaum bedeckt, dessen beißender Geruch Milena Tränen in die Augen trieb. Auch Avas Augen waren gerötet. Dass auch bei ihr der Schaum dafür verantwortlich war, konnte Milena jedoch rasch ausschließen.

»Was ist los

Sie kniete sich neben sie, rechnete aber insgeheim bereits mit einer Abfuhr.

»Ich weiß nichtAva schüttelte den Kopf. »Mir ist das alles zu viel. Ich will mein Leben zurück

»Das mit der Freundin, die dich verlassen hat, und der Chefin, die deinen Einsatz nicht zu schätzen wusste

Ihre trockene Bemerkung bewirkte, was sie hatte bezwecken wollen. Ava gab ein glucksendes Lachen von sich, ehe sie wieder in ihren depressiven Status zurückfiel.

»Manou und ich hatten gute Zeiten

»Manouist das die Chefin oder die Ex

»Die Freundin. AlsoEx-Freundin

»Irgendwann wirst du wieder eine gute Zeit mit jemand haben

»Da bin ich nicht sicher. Ich bin nicht gutin so was

»In so was? Du meinst, darin, eine Beziehung zu führen

Ava nickte.

»Ja. Überhauptmit Menschen. Ich mache alles falsch

Sie begann zu weinen. Milena ließ sie einfach gewähren. Der Umgang mit dieser Frau war ein ewiger Eiertanz. An einem Tag gab sie sich offen und suchte Trost, am nächsten spielte sie die Unnahbare, die sie kaltherzig vor die Türe setzen wollte. Nochmal würde sie nicht auf diese Wechselhaftigkeit hereinfallen.

»Ich kriege hier einen Lagerkoller«, schluchzte Ava. »Ich weiß nicht mal, was ich den ganzen Tag tun soll, so ohne Job und Aufgabe

»Dasselbe wie ich. Mit Felice und dem Hund spielen, Kekse backen und lesen. So schlimm ist das nicht, Ava

»Ich kann das nicht! Ich brauche was zu tun! Wenn ich nichts tue, denke ich nur über mich nach, und dann …« Es folgte wieder ein heftiger Schluchzer.

»Was hat Mama denn

Felice stand im Zimmer und sah fragend auf sie hinab.

»Eine Krise«, antwortete Milena, weil Ava noch immer mit heulen beschäftigt war.

»Papa hat das nieFelice schüttelte sich, als sie den Schaum bemerkte. »Igitt! Was ist das für ein Zeug

»Anti-Covid-Spray«, erwiderte Milena ernst. »Hilft gegen Virusinfektionen, gegen neugierige Kinder und gegen verdreckte Polster. Und natürlich gegen Psychokrisen aller Art

»HahaFelice rollte mit den Augen. »Sehr witzig

Ava griff bereitwillig nach dem Taschentuch, das ihr Milena jetzt entgegenstreckte. Die Tränenflut war ihr vor den Augen ihrer Tochter sichtlich unangenehm.

»Peggy hatte auch mal eine Krise«, erzählte Felice nun unbekümmert. »Da hat sie Geschirr an die Wand geworfen, gesagt, dass sie sich umbringt und geheult

»Na servus!«, entfuhr es Milena.

Ava sah auf. Auch sie wirkte schockiert.

»Wieso das denn

»Wegen ihrer Doktorarbeit. Sie kam da nicht weiter, glaube ich. Da ist sie ausgeflippt

»DoktorarbeitAva klang nun völlig entsetzt.

»Ja. Technische Physik oder soFelice schlenderte wieder in Richtung Tür. »Ich lass Bobo mal in den Garten. Danach können wir gemeinsam Monopoly spielen, oder

»Klar«, sagte Milena automatisch.

»Technische Physik!«, platzte es aus Ava heraus, kaum, dass Felice die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Du hättest sie am Telefon hören sollen! Sie klingt wirklich nicht wie die hellste Kerze auf der Torte

»Du musst an deinen Vorurteilen arbeiten, meine Liebe«, flötete Milena, die Avas Empörung nun doch belustigte. »Du urteilst andere sehr schnell ab

Ava runzelte die Stirn. »Wieso sagst du das zu mir

»Weil es sonst keiner tutMilena grinste. »Und jetzt, wo Ma­nou aus dem Rennen ist …«

»Sie hat auch nie meine Liebe gesagtAva erhob sich und klopfte sich den Staub von der Jeans. »So eine Beziehung hatten wir nicht

»Was für eine dannMilena sah Ava dabei zu, wie sie den fast getrockneten Schaum nun mit Wasser und Bürste tiefer in die Polster einarbeitete.

»Ich weiß nicht. Jedenfalls keine, in dem wir uns kitschige Sachen gesagt hätten

»Wie zum Beispiel ma chère, je taime

Trotz ihrer Vorsätze, auf Distanz zu bleiben, konnte Milena nicht anders. Ava mit Scherzen aus der Reserve zu locken und zu hinterfragen, war einfach zu amüsant. Auch diesmal entlockte sie ihr wieder ein schmales Lächeln.

»Warum reden wir eigentlich immer nur über mich und meine Be­ziehung?«, hielt sie Milena entgegen. »Warum nicht über dich

»Weil ich seit Jahren Single bin, ma chère. Da gibt es nichts zu berichten

»Hör auf damit. Ich bin nicht ta chère

Milena grinste.

»Warte nur ab. Wenn du erst mal eine weitere Woche mit mir auf engstem Raum lebst, wirst du dir das vielleicht noch wünschen«, scherzte sie. »Stichwort Lagerkoller

»Treib es nicht auf die Spitze

Ava hob warnend den Zeigefinger.

»O ja, ich weiß. Du kannst mich jederzeit vor die Tür setzen. Keine Sorge, ich hab mir das gemerkt

Avas Lächeln erlosch.

»Tut mir leid. Vielleicht war ich nicht ganz fair

Sie hielt kurz inne, schrubbte dann aber mit einer Inbrunst weiter, die Milena vermuten ließ, dass am Ende des Tages nicht viel vom Polsterüberzug übrig bleiben würde.

»Sollte das etwa eine Entschuldigung sein?«, erkundigte sie sich dann vorsichtig. »So in der Art von: Ich habe dich genauso vorschnell verurteilt wie Peggy, und ich sehe ein, dass ich einen Fehler gemacht habe

Ava stoppte in der Bewegung und sah sie an. Einige Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und fielen ihr in das gerötete Gesicht. Mit der unnahbaren Porzellanpuppe im Designerkostüm, die Anfang des Monats hier hereinstolziert war, hatte sie nichts mehr gemeinsam, stellte Milena erfreut fest. Diese Ava war authentischer, ja, menschlicher.

»Ich weiß noch nicht, ob ich einen Fehler gemacht habe«, gab Ava offen zu. »Ich bin nur zu dem Entschluss gekommen, dass ich diese endlose Quarantäne lieber mit einer Erwachsenen an meiner Seite verbringen will als mit Felice allein. Ich brauche jemanden zum Reden, sonst drehe ich noch durch

Wie gerade eben.

Milena verkniff sich die Bemerkung und ließ die Information sickern. Im Grunde konnte es ihr egal sein. Hauptsache, sie hatte weiterhin ein Dach über dem Kopf.

»Aber mach dir keine Sorgen«, fuhr Ava fort, wobei ihre Stimme nach dem Gegenteil klang. Bei Milena begannen die Alarmglocken bereits zu schrillen, als sie todernst fortfuhr: »Ich werde dich schonungslos ausbeutenDie Hände in die Hüften gestützt, ließ sie ihren Blick durch das geräumige Zimmer schweifen. »Wir werden das hier alles völlig umgestalten. Ich brauche was zu tun, und ich halte den Saustall hier kaum noch aus. So kann ich nicht leben! Außerdem ist es eine Investition für die Zukunft. Das Haus gehört schließlich meiner Tochter

»Und was hast du vor

»Parkett abschleifen, Fenster neu lackieren, Wände streichen, Mobiliar aufarbeiten. Wir werden das Wohnzimmer völlig neu ge­stal­ten

»Das Wohnzimmer? Warum ausgerechnet das

»Weil es der Raum ist, in dem wir uns am meisten aufhalten. Außerdem, irgendwo muss ich ja anfangen. Eine Parkettschleifmaschine zum Ausleihen und Lacke habe ich schon online bestellt; das kommt alles am Montag. Werkzeug liegt im Keller. Du wirst künftig für Kost und Logis hart körperlich arbeiten

»PuhMilena fasste sich mit einer theatralischen Geste an die Brust. »Jetzt bin ich aber froh, dass du mir vorher eine Job­­be­schreibung geliefert hast, sonst hätte ich mich schon als eine Art Sexsklavin in deinen Händen gesehen

Ava runzelte die Stirn, lächelte aber dünn.

»Du bist etwas fixiert, kann das sein

Milena erwiderte ihr Lächeln.

»Ich sagte dir ja, ich bin seit Ewigkeiten Single. Ich bin auf Entzug. Da drängen sich solche Gedanken ganz von selbst auf

Ava setzte zu einer Erwiderung an, doch im selben Augenblick kam Felice zurück, und sie schüttelte nur den Kopf. Dass ihr ein nicht ganz jugendfreier Kommentar auf der Zunge gelegen hatte, konnte Milena am Zucken der Mundwinkel ablesen.