Ava

»Vorhangstoff. Ringe. Vorhangbänder. Parkettreinigungsmittel. Klo­papierAva sah von ihrem Zettel auf. »Sonst noch etwas

»Tintenfisch-Spaghetti, Scampi, Tomaten, frischer Oregano«, ergänzte Milena. »Außerdem hast du dir dieses Fischgericht aus dem alten griechischen Kochbuch gewünscht, das wir oben am Speicher gefunden haben. Dafür bräuchten wir Paprika, Petersilie, Zitrone und Kabeljau

»Ja, aber das bestellen wir alles bei Feinkost Gruber

»Und die Sachen fürs Haus bestellen wir wo

»TatatataAva breitete theatralisch die Arme aus. »Die bestellen wir gar nicht! Ich muss den Stoff fühlen! Wir gehen einkaufen

Milena trat zu ihr und legte ihr die Hand auf die Stirn.

»Okay, im Fieberwahn bist du nicht«, stellte sie trocken fest. »Hast du was getrunken

»NeinAva lächelte. »Aber du vielleicht. Sonst wüsstest du, welches Datum heute istAn Milenas fragendem Gesichtsausdruck erkannte sie, dass diese gerade komplett auf der Leitung stand. »Heute ist unsere Quarantäne zu Ende!«, half sie ihr auf die Sprünge. »Ich will nur eines: an die frische Luft

»Einkaufen«, wiederholte Milena ungläubig. »Du willst an die frische Luft, um dich in einen überfüllten Laden zu stürzen? In einer Woche ist Heiligabend, da ist die Hölle los

Ava konnte durchaus nachvollziehen, wie unsinnig das für eine Person klingen musste, die seit Wochen freiwilligoder auch aus finanzieller Not herausnicht mehr in einem Geschäft war. Rational betrachtet, war es sicher Unsinn, sich ins Getümmel zu werfen. Allerdings sehnte sie sich nach ihrer unfreiwilligen Klausur nach einer gewissen Normalität. Und dazu gehörte es eben auch, in Läden zu gehen und Dinge einzukaufen. Mit einer inneren Verzweiflung, die ihr noch vor einem Monat fremd gewesen war, wünschte sie sich nichts mehr, als aus dem Haus und unter Leute zu kommen. Inzwischen konnte sie gar nicht mehr begreifen, weshalb sie während des Lockdowns in Paris lieber Manou einkaufen geschickt hatte, als selbst zu gehen. Vielleicht, weil es einfach etwas anderes ist, wenn man freiwillig entscheidet, zu Hause zu bleiben, als wenn man dazu gezwungen wird, gab sie sich die Erklärung.

»Ich brauche auch dies und das für Heiligabend«, fuhr sie fort. »Ich bin kein großer Weihnachtsfan, aber ich möchte es für Felice schön gestalten

»Heißt das, wir werden auch einen Christbaum kaufen

»In den Wald gehen und ihn selbst schlagen werde ich wohl kaum. Also: Ja, werden wir

Milena lachte.

»Ich traue dir mittlerweile alles zu. Wer so professionell Parkett schleift und versiegelt, fällt auch locker einen Baum

Ava lachte ebenfalls, fühlte sich aber geschmeichelt. Es gefiel ihr, für ihre handwerklichen Fähigkeiten bewundert zu werden, auch wenn sie die Ehrfurcht, die viele vor diesen Tätigkeiten hatten, selbst nicht ganz nachvollziehen konnte. Sie stand auf. »Komm, gehen wir. Felice spielt mit Bobo im Hof, wir müssen die beiden nur noch ins Auto einladen

»Bobo kommt auch mit

Ava rollte mit den Augen.

»Ja. Angeblich bleibt er nicht alleine

»Angeblich«, wiederholte Milena.

Sie sahen einander an und lachten.

*

Warum war mit Milena alles so einfach und dennoch kompliziert, fragte sich Ava nachdenklich, als sie am Abend desselben Tages gemeinsam mit ihr und Felice den Christbaum schmückte. Sie hatten entschieden, ihn nicht erst an Heiligabend aufzustellen, um mehr davon zu haben. Ava hatte alles neu gekauft: Lichterketten und Christbaumkugeln, die mit den neuen Wandfarben harmonierten. Zwar gab es eine ganze Kiste mit Weihnachtsschmuck auf dem Dachboden, doch sie wollte nicht an die Zeit erinnert werden, in der sich ihre Mutter noch die Mühe gemacht hatte, einen Christbaum aufzustellen.

Milena hatte recht gehabt: Die Läden waren voll gewesen. Da der nächste Lockdown bereits angekündigt worden war, strömten die Leute in die Geschäfte. Mancherorts war an Abstand halten nicht zu denken. Trotzdem hatte der Einkaufsnachmittag Spaß gemacht. Ava fühlte sich mit der FFP-2-Maske aus der Apotheke ziemlich sicher. Dass sie und Felice trotz negativer Tests über zwei Wochen lang eingesperrt wurden, nur weil sie Kontaktpersonen eines Covid-Erkrankten waren, erfüllte sie noch immer mit Groll. Oft hatte sie sich in den vergangenen Tagen gefragt, wo das eigentlich enden sollte: in einem europaweiten Dauerlockdown? In einer lebenslangen Kontaktsperre? Ohne Milena wäre sie so manches Mal an der Quarantäne und der Vorstellung, dass dieser Wahnsinn so schnell nicht enden würde, verzweifelt. Milena bot nicht nur Ablenkung, sondern hielt sie auch stets davon ab, sich in ihren Ärger auf das Pandemiemanagement der Regierung hineinzusteigern. »Du kannst es nicht ändern«, sagte sie stets. »Du musst einfach nur abwartenso, wie wir es letztendlich alle tun müssen. Mit deinem Ärger schadest du dir nur selbst

Das war der einfache Teil an Milena: dass sie trotz allem verhalten optimistisch oder auf jeden Fall pragmatisch war, was die nähere Zukunft betraf. Dass sie sie zum Lachen und auf andere Gedanken brachte.

Der andere Teil war komplizierter, und Ava wusste sehr gut, dass das auch an ihr selbst lag. Seit sie vor dem Kaminfeuer gesessen und sich Dinge anvertraut hatten, die zumindest sie noch niemandem erzählt hatte, war ihr Verhältnis enger und freundschaftlicher geworden. Sie hatte nicht mehr das Gefühl, Milena nicht vertrauen zu können. Im Gegenteil: Sie merkte, dass sie sich ihr jeden Tag mehr öffnete, mehr von sich preisgab, mehr aus ihrer Jugend erzählte. Es überraschte sie, wie einfach es plötzlich war, Dinge, die sie tief in ihrem Inneren verborgen hatte, hervorzukehren und in Worte zu fassen.

Dass Milena sie attraktiv fand, war offensichtlich. Allein die Art, wie sie sie anschaute, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, sprach Bände. Dass Frauen sie attraktiv fanden, war indes nichts Ungewöhnliches, seit sie sich von der unansehnlichen Sophie in die hübsche Ava verwandelt hatte. Seither weckte ihr Äußeres Interesse. Mit Manou war das nicht anders gewesen.

Je ne peux pas croire que tu es lesbienne. Tu es bien trop jolie!Ich kann nicht glauben, dass du lesbisch bist. Du bist viel zu hübsch!

Das waren Manous erste Worte an sie gewesen, als sie sich vor über drei Jahren auf der Party einer gemeinsamen Bekannten begegneten. Sie hatten sie zunächst vor den Kopf gestoßennicht etwa, weil sie sich selbst immer noch für ein hässliches Entlein hielt, sondern, weil sie sie erst einmal nicht verstand. In den ersten Jahren in Paris hatte sie bewusst Kontakt zur Szene gesucht und die verschiedensten Frauentypen kennengelernt. Darunter waren einige sehr gut aussehende Lesben gewesen.

Später wurde ihr klar, dass mit zu hübsch eigentlich zu feminin gemeint war – etwas, worüber sie nie nachgedacht hatte. Als Ava hatte sie immer so aussehen wollen wie eine Frau aus dem Modekatalog, der maximale Kontrast zu ihrem alten Ich, der unattraktiven Sophie, lesbisch hin oder her. Aufgrund ihrer sexuellen Orientierung in Schubladen gezwungen zu werden, behagte ihr nicht.

Im Unterschied zu Manou und anderen Bekanntschaften hatte sie bei Milena jedoch nicht das Gefühl, dass es nur um Äußerlichkeiten ging. Milena gab ihr das Gefühl, auch als Person interessant und begehrenswert zu sein. Die Komplimente, die sie ihr machte, fühlten sich an wie zärtliche Streicheleinheiten auf ihrer Seele und ließen sie sogar kurzzeitig vergessen, dass sie sich quasi mitten in einer Trennung befand. Denn auch wenn ihr Manou per WhatsApp aufgelistet hatte, welche Bücher und CDs sowie gemeinsam angeschafften Möbelstücke sie mitnahm, weigerte sich ein Teil von ihr, die Trennung als endgültig zu akzeptieren.

Mit geübten Fingern befestigte Milena die Christbaumkugeln an den Zweigen. Ava wurde heiß bei dem Gedanken, dass diese Finger auch sie berühren würden, wenn sie es nur zuließe. Ein kleiner Wink des Entgegenkommens, und Milena schliefe mit ihr. Geküsst hatten sie sich ja schon. Ava wusste noch immer nicht, ob sie Peggy dankbar sein sollte oder sie dafür verwünschen, dass sie den Augenblick durch ihren Anruf zerstört hatte.

»Weißt du, was fehlt

Milena stieg von der Leiter.

»Vorhänge?«, bemerkte Ava mit Blick auf die noch kahlen Fenster. Der eingekaufte Stoff wartete noch auf Verarbeitung. Sie würde in den nächsten Tagen die Nähmaschine flottmachen und sie nähen.

Milena winkte ab.

»Ja, das auch, aber das meine ich nicht. – Musik! Wir haben alles getan, um ein vorweihnachtliches Feeling in dieses Haus zu bringen: Kekse gebacken, Kaminfeuer angezündet, Tannenbaum aufgestelltaber was noch fehlt, ist die Weihnachtsmusik

»Oh, bitte nicht Coming home for ChristmasAva stöhnte. »Das haben wir auf der Autofahrt mindestens dreimal im Radio gehört

»Keine Sorge, ich war eher für Im dreaming of a white Christ­­mas«, scherzte Milena, fügte dann aber ernst hinzu: »Ich dachte an eine echt stimmungsvolle, schöne Musik. Irgendetwas aus der Plattensammlung deiner Mutter

»Ich weiß nicht, ob es da außer Opern und Operetten was gibtBeim Aufräumen war Ava auf die gut hundert Schallplatten gestoßen, hatte sich aber nicht die Zeit genommen, sie einzeln durchzuschauen. Nach etwa dem halben Stoß hielt sie triumphierend eine Scheibe in die Höhe. »Italienische Barockweihnacht. Okay

»Klingt verheißungsvoll

Ava musste sich erst wieder ins Gedächtnis rufen, wie ein Plattenspieler funktionierte, doch Minuten später war der Raum von Musik erfüllt, die hin und wieder von einem leisen Quietschen begleitet wurde. Ihre Mutter hatte sich stets beharrlich geweigert, auf einen CD-Player umzusteigen.

»Und heute Abend schauen wir gemeinsam einen Weihnachtsfilm!«, meldete sich Felice zu Wort. »Entweder ein Märchen oder irgendwas Lustiges

Und irgendwann hängt mir dann Lametta aus den Ohren, ging es Ava durch den Kopf.

Laut sagte sie: »Natürlich, das können wir machen

*

»Hallo, Ava. Wie geht es dir

Da die Nummer, die Felice so oft vergeblich angerufen hatte, im Handy unter seinem Namen abgespeichert war, hatte Ava den Anrufer erkannt, ehe sie abhob. Gabriels schwache Stimme so nahe an ihrem Ohr zu hören, war dennoch erst einmal ein Schock und ließ spontan Erinnerungen an eine Phase ihres Lebens aufkommen, die sie lieber verdrängt hätte.

»Danke. Gut

Sie klang so unsicher und piepsig wie die junge Studentin, die sie einst gewesen war, und hasste sich dafür.

»Mich hat es ganz schön erwischt«, hörte sie Gabriel sagen. »Ich dachte schon, das wars

»Ja«, erwiderte Ava nur, unschlüssig, was sie darauf erwidern sollte. Er war ihr so fremd. Du bist eine erwachsene Frau, mahnte eine strenge Stimme in ihrem Inneren. Benimm dich auch so! Sie straffte die Schultern. »Gut, dass es dir besser geht. Es war ein ganz schöner Schock für alle

»JaPeggy hat mir schon berichtet, dass du dich um Felice gekümmert hast. Dass ihr in Salzburg seid. Danke dafür. Peggy ist im Moment leider etwas überfordert, das wäre wahrscheinlich nicht gut gegangen mit den beiden

Wieso dankt er mir? Es ist auch mein Kind, dachte Ava mit leichtem Groll.

»Gerne«, sagte sie trotzdem und ärgerte sich erneut, wie schnell sie in der Kommunikation mit ihm in alte Muster zurückfiel. »Wir haben es sehr nett

»Das freut mich. Es war ja auch ein großer Wunsch von ihr, dich kennenzulernen. So hatte mein Ausflug ins Krankenhaus immerhin etwas Gutes. Kurzatmig bin ich noch immer, außerdem habe ich fünf Kilo abgenommen, aber ansonsten geht es aufwärts. – Ist Felice in der Nähe

»Sie spielt mit MiBobo draußen im Hof. Ich kann sie holenAva wusste, dass sich Felice nichts mehr wünschte, als endlich wieder mit ihrem geliebten Papa reden zu können, und öffnete die Haustür. Bobo hetzte gerade einem Ball hinterher, den Milena ans andere Ende des Hofes geworfen hatte, und Felice hüpfte in ihrem roten Dufflecoat umher. Sie wirkte dabei selbst wie ein Gummiball.

»Felice! Dein Papa ist am Telefon

»Wirklich

Ein paar Sekunden lang staunte Felice ungläubig, dann kam Bewegung in sie. Bobo, Milena und der Ball waren vergessen. Sie rann­te auf Ava zu und riss ihr das Telefon beinahe aus der Hand.

»Papa!«, rief sie glückselig, und der entrückte Ausdruck, der auf ihr Gesicht trat, versetzte Ava einen Stich ins Herz. Noch nie hatte Felice sie so angesehen.

Es war sicher besser für ihr Seelenheil, sich die Unterhaltung der beiden nicht anzuhören. Also ließ sie Felice in Ruhe telefonieren und kehrte an die Nähmaschine zurück. Zwei Vorhänge hatte sie bereits genäht. Sechs weitere lagen zugeschnitten vor ihr. Es war keine aufwendige Arbeit; im Grunde ging es nur darum, die Stoffbahnen zu säumen und das Vorhangband einzunähen, doch es kostete Zeit. In drei Tagen war Heiligabend. Bis dahin sollte zumindest das Wohn­zimmer heimelig aussehen.

Es war das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit, dass sie die Weihnachtsfeiertage in Europa verbringen und auch noch traditionell feiern würde. Minusgrade statt karibischer Sonne, Punsch statt Mai Tai, Tanne statt Palme. Dafür aber das erste Weihnachten mit Tochter. Es hatte Spaß gemacht, Geschenke für Felice zu besorgen, und umso weniger konnte sie verstehen, wa­rum ihre eigene Mutter so wenig Energie aufgebracht hatte, ihnen zu Weihnachten oder zum Geburtstag Überraschungen zu bereiten. Sie brannte schon darauf, Felices Gesicht zu sehen, wenn sie die neue Bettwäsche mit den rosafarbenen Sternen auspackte und die Cupcake-Form mit zugehörigem Backbuch entdeckte, die sie sich so sehr gewünscht hatte.

Sogar für Bobo hatte sie etwas besorgt und war dabei über ihren eigenen Schatten gesprungen. Die Vorstellung, dass er an Heilig­abend auf dem frisch lackierten Parkettboden an einem riesigen Kauknochen aus Rinderhaut herumbeißen würde, jagte ihr einen Schauder des Entsetzens über den Rücken. Sie wusste aber, dass Bobos Geschenk auch Felice freuen würde, und so hatte sie beschlossen, tapfer die Zähne zusammenzubeißen, wenn der Hund die seinigen bald in diesen stinkigen Knochen versenken würde.

»HierFelice kam ins Wohnzimmer und streckte ihr das Handy entgegen. Dufflecoat und Mütze hatte sie abgelegt, die Stiefel bereits ausgezogen. Anscheinend war die Outdoor-Spielstunde mit Bobo beendet, was Ava überraschte.

»Wolltet ihr nicht länger draußen spielen?«, fragte sie, während sie auf das Fußpedal der alten Nähmaschine trat und den Stoff über die Stichplatte zog.

»Ich muss packen«, erwiderte Felice. Ihre Backen schimmerten rot vor Aufregung. »Peggy holt mich heute Nachmittag ab

»WasAva entglitt der Stoff. Die Maschine gab ein hässliches metallenes Geräusch von sich, ehe sie stoppte. »Wieso

»Weil Papa vor Weihnachten aus dem Krankenhaus kommt und wir dann gemeinsam feiern

Die Selbstverständlichkeit, mit der Felice sie vor vollendete Tatsachen stellte, traf Ava wie ein Schlag in die Magengrube.

»Aberwir wollten doch hier feiern«, sagte sie und kam sich zugleich dümmlich vor. Offenbar war Felices Abreise schon beschlossene Sache, und niemand hatte es für notwendig erachtet, sie in diese Entscheidung miteinzubeziehen.

Felice sah zu dem geschmückten Baum hinüber.

»Ich weiß«, sagte sie und klang dabei sogar etwas traurig. »Milena wollte ja auch eine Weihnachtstorte für mich backen. Und wir haben das Zimmer so schön geschmückt. Aber Papa kommt extra wegen Weihnachten aus dem Krankenhaus. Und Peggy hat auch schon einen Christbaum gekauft. Den werden wir gemeinsam schmücken, sagt Papa. Mit Schokokugeln und Zuckergebäck und echten Kerzen

»Na dann

Ava stand auf. Ihr war die Nählust vergangen. Die Welt um sie herum hatte sich schlagartig verdunkelt, und das ganz ohne Vorhänge vor den Fenstern.

*

Nachdem Felice eine halbe Stunde später noch immer nicht auf den Hof zurückgekehrt war und Bobo vom Ballspielen schon die Zunge heraushing, ging auch Milena zurück ins Haus. Sie hängte ihren Mantel über Felices Dufflecoat und wunderte sich über die Stille, die drinnen herrschte. Weder das Kind noch das Geratter der Nähmaschine waren zu hören.

Als sie das Wohnzimmer betrat, fand sie Avas Platz verwaist vor. Eine halbfertige Vorhangbahn lag achtlos am Boden. Das kam ihr seltsam vor. Die ordentliche Ava warf nie etwas zu Boden, schon gar nicht einen Stoff, wegen dem sie drei verschiedene Geschäfte angefahren waren.

Milena ging in den Flur, den zentralsten Punkt des Hauses.

»Ava? Felice

Die erhoffte Antwort blieb aus, doch Bobo lief bereits die Treppe nach oben. Sie folgte ihm bis zu Felices Zimmertüre und öffnete sie, bevor er daran scharren konnte. Felice saß mit Kopfhörern und Avas Tablet auf dem Bett. Davor stand ihr giftgrüner Kofferabreisebereit. Erst als Bobo zu ihr aufs Bett sprang und seine Nase in ihrem Haar vergrub, sah sie auf.

»Hallo

»Hallo. Was machst du da

»Einen Film fertig anschauen. Mistelzweige küsst man nicht. Wenn ich wissen will, wie er ausgeht, muss ich ihn jetzt noch zu Ende schauen. Papa mag nicht, wenn ich so was gucke. Er sagt, diese Ami-Schmanzotten vergiften mein Hirn

Milena runzelte die Stirn. Es dauerte etwas, bis sie das, was Felice da sagte, einzuordnen wusste.

»Du fährst nach Wien zurück? Wann

»Heute. Peggy kommt mich holen

»Ach

Milena fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Eben hatten sie noch alles für ein gemeinsames Weihnachtsfest vorbereitet, und nun wollte Felice so abrupt abreisen?

»Wieso das alles?«, hakte sie nach.

»Weil Papa morgen entlassen wird und weil er sagt, wir dürfen Mama nicht so sehr belasten

»Und was sagt deine Mama dazu

Felice hob die Schultern.

»Die hat gesagt, dass sie Kopfweh hat und sich hinlegen muss

»Okay«, erwiderte Milena, dachte aber das Gegenteil. Nichts war in Ordnung. Kaum war dieser Gabriel wieder auf den Beinen, pfuschte er dazwischen. Sie konnte sich denken, was Avas plötzlichen Kopfschmerz verursacht hatte.

Felice setzte sich die Kopfhörer wieder auf, und Milena wunderte sich kurz, wozu eigentlichallein, in ihrem Zimmer, hinter geschlossener Tür. Die unergründliche Logik einer Zwölf­jährigen, sinnierte sie kopfschüttelnd, während sie über den Gang hinüber zu Avas Zimmer ging. Einer Zwölfjährigen, die keinerlei Gespür dafür hat, dass sie jemanden verletztoder besser gesagt: dass ihr Vater jemanden verletzt.

Andererseits: Konnte man es ihm wirklich verdenken? – Ava hatte sich schließlich jahrelang nicht um Felice gekümmert. Wie konnte er ahnen, dass sich bei ihr emotional in diesen Tagen des Zusammenseins etwas geändert hatte? Nicht einmal Felice konnte das wissen, denn Ava artikulierte sich dazu nie. Kein Ich hab dich lieb, kein Du bist mir wichtig. Milena ging davon aus, dass Ava selbst als Kind nie Worte dieser Art gehört hatte und deshalb nicht in der Lage war, sie auszusprechen. Zwei- oder dreimal hatte Felice ihrer Mutter die Frage gestellt, warum nie ein Brief von ihr aus Paris gekommen war. Ava war immer darüber hinweg­gegangen und ihr die Antwort schuldig geblieben.

Gleichzeitig konnte Milena fast täglich beobachten, wie Avas Zuneigung wuchs. Mit jeder Geste, mit jeder Berührung, mit jedem Wort, das sie an Felice richtete, wurde klar, dass Avas Mutterliebe erwacht war und wuchsauch wenn sie es nie aussprach. Daher war sie von dumpfen Vorahnungen erfüllt, als sie die Klinke zu Avas Zimmer hinunterdrückte.

Ava lag auf dem Bett. Sie hatte ihr den Rücken zugedreht und lag so still, dass Milena im ersten Augenblick dachte, sie würde vielleicht schlafen. Dann sah sie das leichte Zucken der Schultern. Leise trat sie ein, zog die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel im Schloss. Felice sollte ihre Mutter nicht so sehen, falls sie auf die Idee kam, nach ihr zu schauen.

»AvaMilena setzte sich auf das Bett und strich der Weinenden sanft über den Rücken. »Felice hat es mir erzählt. Es tut mir leid

Ava drehte sich um. Ihre Augen waren rot, ihr Gesicht tränen­nass.

»Er hat mir nicht gesagt, was er vorhat! Er hat mich nicht einmal gefragt, was ich will! Er hat das einfach mit Felice so ausgemacht und mich vor vollendete Tatsachen gestellt! Ich habe vorher mit ihm gesprochen und er«, sie schluchzte, »er tat so freundlich und unverbindlich, dass es zum Kotzen war, und dann macht er so etwas

»Du solltest nochmal mit ihm reden«, schlug Milena vor. »Vielleicht ist ihm gar nicht bewusst, dass er dich traurig macht, wenn er Felice vor Weihnachten holen lässt

»Er übergeht mich einfach«, fuhr Ava fort. »So, wie er es immer getan hat. Was ich willdas war ihm doch sowieso egal. Er hat immer die Entscheidungen getroffen und sich null Gedanken gemacht, wie es mir dabei geht! Erst wollte er Sex, den hat er bekommen. Dann war ich schwanger, und er sagte, wie schön, er freue sich darauf, Vater zu werden! Er hat überhaupt nicht gefragt, ob ich Mutter werden will! Das hat er einfach vorausgesetzt! Genauso, wie er es jetzt für selbstverständlich hält, dass er Felice einfach wieder abholen kann

Zwischen Gabriel und Ava war einiges ungeklärt geblieben. Das lag auf der Hand. Aber konnte man den Mann so einfach verurteilen? Auch wenn Milena ihn nicht kannte, weigerte sich ein Teil von ihr vehement, ihn als den Bösewicht zu sehen. Er hatte Felice zu einem lieben Mädchen erzogen, ihr Werte vermittelt. Er war für sie da gewesen. Das war mehr, als es über Ava zu sagen gab. Dass in der Kommunikation der beiden seit jeher alles schief lief, was nur schief laufen konnte, kristallisierte sich für Milena dagegen umso klarer heraus.

»Ava, du musst mit ihm reden«, sagte sie daher. »Ihr müsst über die Vergangenheit reden, und ihr solltet euch auch Gedanken machen, wie das in Zukunft mit Felice laufen soll. Du wirst sie ja auch weiterhin sehen wollen

»Ich weiß nicht, wie ich das machen sollAva setzte sich auf und griff nach einem Taschentuch. »Ich kann sie nicht jedes Mal nach Paris einfliegen lassen, oder? – Ich habe alles falsch gemacht! Ich hätte sie nie zurücklassen und gehen dürfenErneut füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Ich ernte jetzt nur das, was ich gesät habe«, flüsterte sie. »Es ist eine gerechte Strafe, oder? Jetzt, wo ich sie will, kriege ich Felice nicht mehr

»Rede erst mal mit Gabriel, ehe du den Teufel an die Wand malst. Ich bin überzeugt, dass sich das alles regeln lässt. Du bist keine zwanzig mehr, du kannst ihm sagen, was du willst

»Und was, wenn er das Gegenteil davon will

»Und das wäre

»Mir Felice wegnehmen. Weil er nicht möchte, dass sie zu häufig in meiner Nähe ist. Weil er Angst hat, dass ich sie negativ beeinflusse

»Unsinn. Das wird er nicht. Du musst mit ihm sprechen. Am besten, du rufst ihn gleich an, dann könnt ihr das klären

Ava schüttelte stumm den Kopf.

»Ich kann nicht«, sagte sie nach einer Weile. »Ich klinge geradetotal kaputt. Ich will nicht, dass er mich so hört

»OkayDas konnte Milena nachvollziehen. »Soll ich dir einen Tee machen?«, bot sie stattdessen an. »Einen mit Rum vielleicht, zur Aufheiterung

Ava schüttelte den Kopf. Sie starrte mit leerem Blick an Milena vorbei an die Wand. »Nimm mich in den Arm«, bat sie dann leise. »Bitte. Ich brauche das jetzt

Milena zog Ava in ihre Arme. Sie wusste inzwischen, dass nicht viel passieren musste, um sie zum Weinen zu bringen, und dass sie selbst anscheinend über die magische Gabe verfügte, sie in diesen Tiefs zu trösten. Sie dachte sich nichts dabei, als sie Avas Kopf auf ihrer Schulter spürte und fühlte, wie sich Arme fest um sie schlangen. Und sie dachte sich noch nicht einmal viel dabei, als Ava ihr ein kleines Küsschen auf die Wange drückte, so sanft und unschuldig, dass es auch von Felice hätte kommen können.

Erst als Avas Lippen ihren Mund suchten, als sie sich küssten und ihr Herz heftig in der Brust zu schlagen begann, ahnte Milena, dass Ava nicht vorhatte, es bei einer freundschaftlichen Umarmung zu belassen. Doch dieser Kuss und auch der nächste waren zu leidenschaftlich, um sich dagegen zu wehren. Letztendlich habe ich selbst genau das die ganze Zeit herausgefordert, dachte sie, während ihr Körper schon Schritte weiter war als ihr Verstand. Eine Hitzewelle durchflutete sie. Ava küsste sich indessen ihren Hals entlang bis zum Dekolleté. Forschende Hände fuhren unter das Shirt und lösten den Verschluss ihres BHs.

Milena ließ sich auf das Bett sinken und zog Ava mit sich. Sie küssten sich, und mit jedem Kuss wuchsen Leidenschaft und Verlangen. Irgendwann streifte Ava Shirt und BH ab. Ihre Haut war hell und makellos, ihre Brüste straff und genauso perfekt, wie Milena sie sich in ihren Tagträumen immer vorgestellt hatte. Sie küsste die Brustwarzen, umspielte sie mit ihrer Zunge, entlockte Ava ein leises Stöhnen.

Als ihre eigene Kleidung zu stören begann, zog Milena sich komplett aus und drückte ihren Körper ganz nah an Avas. Haut an Haut. Ein unbeschreibliches Gefühl. Ava schien es ähnlich zu gehen. Sie seufzte genussvoll.

Dann nahm Ava ihre Hand und führte sie zwischen die Beine. Sie trug nur einen Slip.

Milena streichelte Avas Schenkel und ihre Mitte. Sie spürte die Feuchtigkeit, die ihren Weg durch den Stoff fand, und schob ihre Finger schließlich unter den Zwickel. Ava keuchte auf, als sie ihre Perle berührte, und bog sich ihr entgegen. Ihr vor Erregung zitternder Körper schürte die Glut in Milenas Innerem. Stöhnen erfüllte den Raum, wobei sie nicht mehr hätte sagen können, aus wessen Kehle. Ihr kam es vor, als stünde sie kurz vor einer lustvollen Explosion, obgleich Ava sie noch nicht einmal an ihrer empfindlichsten Stelle berührt hatte.

Ava keuchte in ihr Ohr, als sie nun langsam zwei Finger in sie hineinschob. Sie war nass, aber auch so eng, dass Milena zunächst zögerte. Erst als Ava ihr ein heiseres »Bitte« zuraunte, gewann das Selbstvertrauen die Oberhand.

Forsch drang sie in sie ein und wusste plötzlich intuitiv, dass es genau das war, was Ava wollte und brauchte: einfach nur Sex. Sex ohne viel Drumherum, ohne Nachdenken, ohne übermäßige Rücksichtnahme, dafür mit viel Leidenschaft.

Sie stieß tiefer in sie, zog sich zurück, stieß wieder. Ava bewegte sich auf ihr; mit einem Bein lag sie nun zwischen Milenas Schenkeln und rieb es an ihrer Mitte. Sie fanden in einen Rhythmus, der ihre Erregung weiter nach oben trieb, bis ein Zittern Avas Körper erfasste; sie stöhnte auf, ließ sich fallen, suchte erneut Milenas Mund.

Dann rollte sie sich auf den Rücken.

Eine ganze Weile war nur ihr tiefer, schneller Atem zu hören.

Milena durchlief ein Schauder der Enttäuschung. War es das jetzt gewesen? Ihr eigener Körper kühlte ab, ohne dass sie zum Höhepunkt gekommen war. Alles begann sich zu drehen. Zweifel drängten sich auf und fuhren in ihrem Kopf Karussell.

War das, was sie getan hatten, richtig? Würden sie sich künftig noch in die Augen schauen können?

»Ich hatte schon lange keinen Sex mehr«, durchbrach Ava plötzlich die Stille, die sich zwischen ihnen auftat wie eine Kluft. »Irgendwie hatte ich fast schon vergessen, wie es ist

Milena hob verwundert die Brauen. »Dabei warst du noch vor Kurzem in einer festen Beziehung

»Mit Manou und mirhat das sexuell nie so harmoniert. Irgendwann haben wir es dann gelassen

»ErnsthaftMilena konnte sich nicht vorstellen, neben einer Frau, mit der sie eine Beziehung führte, einzuschlafen und aufzuwachen, ohne sexuelles Verlangen zu spüren. »Und mit mir, äh, harmoniert es? Wie lautet denn deine Definition von harmonieren genau

Ava drehte sich zu ihr und sah sie an. Zu Milenas Erstaunen umspielte ein kleines Lächeln ihre Lippen.

»Es harmoniert auf jeden Fall besser«, sagte sie. »Es warschön

»SchönMilena kniff ungläubig die Augen zusammen. »Mehr fällt dir nicht dazu ein? Was ich mir erwarte, ist das Prädikat außerordentlich superfantastisch

Sie hielt es für besser, sich wie so oft in Scherze und Neckereien zu flüchten, als ein Offenbarungsgespräch zu riskieren. Sie glaubte auch so zu wissen, dass der Sex, den sie gerade hatten, vor allem die Antwort auf Avas Bedürfnisse gewesen war.

»Ich brauche mehr, um mir ein umfassenderes Urteil zu bilden«, erwiderte Ava. Sie streckte die Hand nach ihr aus und zeichnete mit dem Zeigefinger Milenas Profil nach. »Lass es uns nochmal machen, damit ich das Ganze bewerten kann

»Unter einer BedingungMilena grinste.

»Und die wäreAva stützte sich auf die Unterarme.

»Zieh deinen Rock und den Slip aus. Das erfüllt sonst so ein Porno-Klischee. Fehlen nur noch die Stiefel

»Oh, und du magst keine Pornos

»Wenn du so genau danach fragst: neinMilena rutschte näher heran und küsste sie. »Ich mache es lieber selbst, als anderen dabei zuzuschauenUnd damit wanderte ihre Hand auch schon wieder nach unten zwischen Avas Beine.

*

»Als ich mir eingestehen musste, dass ich schwanger bin, war ich schon im vierten Monatein eindeutiger Beweis, wie naiv ich damals war. Schließlich ist eine Schwangerschaft die durchaus wahrscheinliche Folge von Sex, wenn man nicht verhütet

Ava lag in Milenas Armen, den Kopf an ihre Brust gelegt. Milena streichelte über ihr Haar und ihr Gesicht. Auch wenn ihr eigener Orgasmus eher als ein zufälliges Nebenprodukt entstanden war, fühlte sie sich in diesem Augenblick befriedigt. Ava an ihrer Seite war warm und weich und roch nach ihrem Mango­shampoo und nach Sex, eine wohltuende olfaktorische Mischung, die Milena in einen sonderbaren Schwebezustand des Glücks versetzte.

»Mutter war natürlich völlig entsetzt, als sie begriff, was mit mir los ist. Sie wollte, dass ich abtreibe

»Im vierten Monat

»Ein Bekannter meines Vaters, ein Gynäkologe, hätte es noch gemacht. Im Hinterzimmer, quasi. Als ich Gabriel davon erzählte, flippte er völlig aus und stellte meine Mutter zur Rede. Es gab einen riesigen Streit, und Mutter war fortan der Meinung, dieser Mann wäre der Satan persönlich

Das hat Gabriel ziemlich richtig gemacht, ging es Milena durch den Kopf. Laut sagte sie: »Ich wusste gar nicht, dass deine Mutter religiöse Tendenzen hatte. Satan, das klingt so nach Himmel und Hölle

»Mit Religion hatte das wohl recht wenig zu tun. Für sie war jeder, der ihr Widerworte bot, Satan persönlich

Das wiederum konnte sich Milena gut vorstellen. Sie selbst hatte nie Streit mit Alwine provoziert, sondern stets rechtzeitig den Rückzug angetreten, wenn die Frau ihre Launen hatte. Trotzdem hatte sie gespürt, dass mit ihr auch im nüchternen Zustand kein gutes Auskommen war.

»Was wolltest du denn, AvaDie Frage drängte sich ihr auf. »Deine Mutter wollte, dass du abtreibst, Gabriel wollte, dass du das Kind bekommstund du

»Ich hatte damals keinen eigenen Willen. Eine Abtreibung erschien mir aber als falsch

»Und doch hast du es ein paar Monate später nach Paris geschafft

»Während meiner Schwangerschaft hat sich etwas in mir verändert. Ich gewann die Gewissheit, dass es so nicht weitergehen konnte. Mein Widerstand erwachte. Schon vorher habe ich mich immer in andere Welten geträumt. Mir vorgestellt, dass ich irgendwann attraktiv und schlank sein werde. Dass ich beruflich erfolgreich bin und von Leuten bewundert werde. Ich sah mich als Möbeldesignerin oder Innenarchitektin. Aber alles war so unerreichbar. Jedenfalls begriff ich allmählich, dass sich nie etwas ändert, wenn ich nicht selbst die Zügel in die Hand nehme. So habe ich angefangen, mich über Studiengänge zu informieren. Ich wusste, dass ein Neuanfang nur dann möglich ist, wenn ich ganz weit weg von Mutter bin. Und Frankreich war schon immer mein Sehnsuchtsland. Die Sprache und Kultur lagen mir. Ich wollte da unbedingt hin

Das erklärte die vielen französischen Bücher, die sie bei Ava im Regal entdeckt hatte.

»Und das Baby? War dir von Anfang an klar, dass du Felice bei Gabriel lassen wirst

Ava seufzte.

»Ich weiß, wie unreif das jetzt klingt, aber ich habe schlichtweg nicht darüber nachdenken wollen, ob sich ein Kind mit meinen heimlichen Plänen vereinbaren ließe. Mein Körper war mir so fremd. Dass da etwas in mir heranwuchs, war mir einfach nur unheimlich. Dann war das Kind da, und ich habe wirklich versucht, mich um es zu kümmern. Aber ich hatte überhaupt keinen Bezug zu diesem schrumpeligen, schreienden Ding. Mutter war mir natürlich auch keine Hilfe. Ihr einziger Kommentar zu allem lautete, ich sei selbst schuld. Sich vom Professor schwängern lassen! Das war für sie nur ein Beleg für meine Unfähigkeit und Dumm­heit

»Man hätte ihn anzeigen können«, stellte Milena in den Raum. »Er hat sein Autoritätsverhältnis ausgenutzt. Zumindest ein Disziplinarverfahren hätte es gegeben

Ava sagte längere Zeit nichts. Milena glaubte schon, ihr Mit­teilungs­bedürfnis sei zum Erliegen gekommen, als sie erwiderte: »Das hätte nicht nur Gabriel geschadet, sondern auch mir. Solche Fälle kommen immer irgendwann herausund sei es durch Gerüchte. Das Letzte, was ich gewollt hatte, war unnötige Aufmerksamkeit. Ich wollte einfach ein anderes Leben

»Und dann hast du Felice zu Gabriel gebracht …«

»Nach knapp drei Wochen war ich völlig am Ende. Gabriel war da schon wieder in Wien; er hatte ja in Salzburg nur eine Gastprofessur. Es war nicht so, dass er nicht für mich und das Baby da sein wollte. Aber ich wohnte noch bei meiner Mutter, und die hatte ihm wegen des Streits Hausverbot erteilt. Ich sah mich auch nicht in einer Beziehung mit ihm, hatte auch kein Verlangen, ihn zu treffen. Als ich kurz davor war, die Nerven zu verlieren, habe ich ihn nach Salzburg bestellt. Erer war absolut glücklich, dass ich mich bei ihm melde. Er hatte Felice bis dahin noch kein einziges Mal gesehen. Aus heutiger Sicht ist mir klar, wie sehr er darunter gelitten haben muss

»Er wollte also immer wirklich Vater sein«, schlussfolgerte Milena und ergänzte in Gedanken: vielleicht auch Partner?

So groß ihr Mitgefühl für Ava auch war, so sehr sah sie sich doch in ihrem Verdacht bestätigt, dass Gabriel bei dieser ganzen Geschichte nicht nur die Rolle des gewissenlosen Verführers zukam. Mittlerweile ahnte sie, dass seine Version der Geschichte möglicherweise eine ganz andere war.

»Ja, er wollte gern die Vaterrolle übernehmen«, gab Ava unumwunden zu. »Und als ich das begriff, war es eigentlich ganz einfach: Ich wickelte Felice in eine dicke Deckerichtige Baby­kleidung hatte ich damals kaumund brachte sie ihm aufs Hotelzimmer. Als er kurz auf der Toilette war, ließ ich sie einfach auf dem Bett liegen und ging

»Er hat nicht versucht, dich aufzuhalten und noch einmal mit dir zu reden

»Ich stieg unten ins nächste Taxi und ließ mich zum Bahnhof bringen. Das Zugticket für den Nachtzug nach Paris hatte ich schon in der Tasche, einen Koffer mit dem Notwendigsten in einem Schließ­fach deponiert und mir sogar schon ein Zimmer organisiert. Es war eine gut geplante Flucht

»Wie konntest du dir das alles leisten

»Meine Großmutter hatte Max und mir jeweils eine hübsche Summe Geld vererbt. Das hat mir alles ermöglichtauch das Studium in Frankreich

»Hat Gabriel denn nie versucht, dich zu finden? Er hat doch sicher im ersten Moment gar nicht begriffen, wo du bist und warum er plötzlich mit dem Baby dasteht

»Doch, das hat er. Ich habe ihm auch einen Brief hinterlassen. Er wusste, dass ich nicht zurückkommen würde. Später hat er dann meine Adresse in Paris herausgefunden und mir immer wieder mal Fotos von ihr geschickt und mir von ihren Fortschritten geschrieben. Felice kann jetzt laufen. Felice kann Purzelbäume schlagen. Felice kann lesenso etwas in der Art. Ich habe aber nie darauf geantwortet

»Hast du es je bereut, sie bei ihm gelassen zu haben

Ava hob den Kopf und sah sie ernst an.

»In den ersten Jahren nicht. Ich habe mich nicht einmal besonders für die Fotos interessiert. Ich war einfach nur froh, endlich frei zu sein. Später dann schon. Ich meine: Bereut habe ich es nie. Ich wusste, dass sie es bei ihm besser hat als bei mir. Aber ich habe öfter an sie gedacht und mich gefragt, ob sie mir wohl ähnlich siehtwofür sie sich interessiert, was für ein Mensch sie sein wird

»Du hättest Kontakt zu ihr aufnehmen können

»Ich hatte Angstund sah eigentlich auch keinen Sinn darin. Ich dachte, es ist gut, so wie es ist

»Und dann haben dich dein Bruder und Gabriel bei der Beerdigung überrumpelt, und knapp drei Wochen später verzweifelst du an der Vorstellung, sie wieder hergeben zu müssen

»JaAva seufzte. »Ich weiß, wie bescheuert das klingt. Ich weiß auch, dass ich Fehler gemacht habe. Dass das, was ich damals getan habe, einfach unverzeihlich ist. Welche Mutter lässt schon ihr Kind zurück? – Aber ich ertrage den Gedanken einfach nicht, dass ich sie jetzt nicht mehr sehen werde

Erneut legte sich verzweifelte Traurigkeit über ihr Gesicht.

»Du wirst sie immer wiedersehen«, versicherte Milena ihr schnell. Sie wollte nicht, dass Ava erneut zu weinen begann.

»HoffentlichAva klang nicht sonderlich überzeugt, wollte das Thema aber nicht weiter vertiefen, denn ihre Lippen schlossen sich jetztum Milenas Brustwarze. Gleichzeitig begann sie ihr über den Bauch zu streicheln.

Heißes Verlangen stieg in Milena auf. Ihre Mitte pulsierte in freudiger Erwartung. Sie öffnete die Schenkel, um Ava Zugang zu ermöglichen. Ava küsste sich ihren Bauch entlang nach unten. Ihr heißer Atem streifte über die Haut. Dann berührten Avas Lippen ihre empfindlichste Stelle, und Milena schmolz wie Wachs in der Sonne. Sie musste sich nicht vergewissern, wie feucht sie bereits war …

»Mama! MamaFelice Stimme ertönte am Gang. »Ma­maDie Türklinke bewegte sich. »Schläfst du noch

Panisch zerrte Ava an der Bettdecke, um ihre nackten Körper zu bedecken. Milena, die darauf lag, nicht darunter, wurde unsanft zur Seite gestoßen. Ihre Lust verpuffte. Noch nie hatte sie dieses Kind so verwünscht wie in diesem Augenblick.

»Mama. Peggy ist am Telefon!« Felice rüttelte jetzt an der Tür.

»Ich habe vorhin abgesperrt«, flüsterte Milena, als sie Avas verwirrten Blick bemerkte.

»Tut mir leid. Ich wollte wirklichverdammtAva schälte sich aus dem Bett, die Bettdecke lose umgeschlungen. »Ja! Felice, einen Moment!«, sagte sie laut. Sie öffnete die Tür nur gerade einen Spalt. »Ich bin eingeschlafen. Was ist mit Peggy

»Sie ist an deinem Handy. Du hast es unten liegen lassen. Sie hat schon das dritte Mal angerufen, deshalb bin ich rangegangen. Und ich kann Milena nirgends finden. Außerdem geht das Feuer im Kamin bald aus, und es ist kein Holz mehr da

Felices Stimme triefte vor unausgesprochenen Vorwürfen. Milena warf einen Blick auf Avas Armbanduhr, die sie irgendwann im Laufe ihres Liebesspiels abgenommen hatte, und erschrak. Sie lagen seit fast drei Stunden miteinander im Bett. Peggy musste bald da sein, um Felice abzuholen! Resigniert begann sie sich anzuziehen.

»Dann gib mir das Handy«, hörte sie Ava sagen. »Ich komme gleich runter und kümmere mich ums Feuer, okay

»Aber …«, begann Felice, doch Ava wiederholte mit Nachdruck »gleichund schloss die Türe von innen.

»Peggy? Hallo?«, hörte Milena sie dann ins Handy sagen. »Zeigt dir das Navi den Weg nicht richtig an? Sag mir einfach, wo du bist, und ich beschreibe ihn dir

Avas Stirn legte sich in Falten.

»Du bist noch nicht aus Wien weggefahren? – Aber Gabriel sagteoh. OhJetzt wirkte sie fast erschrocken. »In der wievielten Woche bist du, sagtest du? – In der siebenunddreißigsten? – Okay. Okay …« Ava setzte sich auf das Bett. »Hast du schon jemanden angerufen? – Nein, außer mir natürlich! – Ach so. – Blut? – Nein. Nein, das heißt es nicht, reg dich nicht auf, das bedeutet nicht gleich, das was nicht stimmt! Trotzdem solltest duPeggy? Peggy?! – Okay. Ja, ich weiß, dass es wehtut. Ich fürchte, du hast wirklich schonwie oft hattest du das in den letzten Stunden? – Was heißt: weißt du nicht? Da solltest du darauf achten! Das ist entscheidend! – Na, um abschätzen zu können, wie weit du schon bist, Peggy! Dein Baby kommt, was denkst du denn? Das sind Wehen

Ava verdrehte die Augen und klatschte sich auf die Stirn. Milena musste sich auf die Zunge beißen, um nicht zu lachen.

»Peggy. Hör mir genau zu. Du packst jetzt deine Tasche mit allem, was du im Krankenhaus brauchstMutter-Kind-Pass, Personal­ausweisKulturbeutel, Nachthemd, mehrere SlipsHandtüchereine Jogginghose. Und dann rufst du ein Taxi und fährst in die Klinik, bei der du dich angemeldet hast. – Nein, das ist egal! – Peggy, die nehmen dich trotzdem. – Nein. Nein. – Okay. – Du wirst sehen, es wird alles gut gehen, mach dir keine Sorgen! – Ja, natürlich. – Viel Glück

Ava legte auf und atmete tief durch.

»Doktorandin in Technischer Physik. Ich will das einfach nicht glauben

»Das Baby kommtMilena setzte sich zu ihr auf das Bett.

»Sieht so aus. Sie hat Blutungen und Wehen. Ich verstehe ja, dass sie sich Sorgen macht. Aber sie ist komplett konfus und völlig unvorbereitet

»Ich finde es irgendwie witzig, dass sie ausgerechnet dich anruft …«

»Na ja, sie wollte Bescheid geben, dass sie Felice nicht mehr abholen kann. Außerdem erreicht sie Gabriel nicht. Und da sie sonst nur männliche Freunde hat, wie sie mir gerade anvertraute, bin ich wohl die nächstbeste Anlaufstelle

»Das heißt, Felice bleibt wohl doch hier

Ava kam nicht dazu, etwas darauf zu erwidern, denn ihr Handy klingelte erneut.

»Peggy«, sagte sie mit einem Seufzen, dann nahm sie den Anruf entgegen. Diesmal war die Stimme so laut und hysterisch, dass auch Milena jedes einzelne Wort verstand.

»Meine Fruchtblase ist geplatzt! Ich hab Dauerwehen! Was soll ich jetzt bloß tun

»Ruf die Rettung«, erklärte Ava trocken. »Und stell dich dadrauf ein, dass dein Baby möglicherweise im Krankenwagen zur Welt kommt

*

Der kleine Christopher erblickte nicht im Krankenwagen das Licht der Welt, sondern in einem Privatspital in Wien. Ava saß rund eine Stunde später gerade mit Felice und Milena beim Abendessen, als die Nachricht auf ihrem Handy eintraf. Peggy hatte ein Selfie von sich und dem Baby geschickt. Ava betrachtete Peggys junges, erschöpftes Gesicht und das glückliche Lächeln, das auf ihren Lippen lag. Sie hatte damals gewiss eher weniger glücklich ausgesehen. Einen Beleg dafür gab es nicht. Niemand war auf die Idee gekommen, ein Foto von ihr und Felice zu machenwas auch daran lag, dass keiner sie im Krankenhaus besucht hatte.

Trotzdem konnte sie sich noch erinnern, dass Felice ein viel kräftigeres Baby gewesen war, eines mit rosiger Haut und Bäckchen. Im Gegensatz zum kleinen Christopher war sie jedoch auch erst zehn Tage nach dem errechneten Geburtstermin zur Welt gekommen, nicht drei Wochen zu früh.

DANKE DANKE DANKE, hatte Peggy in Großbuchstaben geschrieben. Ohne dich hätte ich das echt nicht gepackt. Du bist so nett!!!! Hinter die unzähligen Ausrufezeichen hatte sie rote, grüne und lilafarbene Herzen gesetzt.

Ava reichte das Handy an Milena weiter, die einen Blick auf das Foto warf und es dann an Felice weiterreichte.

»Igitt, ist der aber hässlich!«, kommentierte das Mädchen angewidert. »Der ist gar kein süßes Baby, sondern schaut aus wie eine schrumpelige Dörrzwetschge

Milena wedelte mit dem Zeigefinger.

»Rede nicht so über deinen Bruder! – In ein paar Tagen wird er schon besser aussehen

»Und schreien«, bemerkte Felice lakonisch. »Sein Kinderzimmer wird genau neben meinem sein. Bestimmt kann ich überhaupt nicht mehr schlafen

»Die erste Zeit wird er sowieso bei deinem Papa und Peggy schlafen«, beruhigte Ava sie. »Und irgendwann sieht er dann nicht mehr wie eine Dörrzwetschge aus, sondern wie ein süßes Baby, und dann wirst du dich freuen, dass du mit ihm spielen kannst

»Spielen«, wiederholte Felice stirnrunzelnd. »Mama, ich bin zwölf

»Ich meinte eigentlich, dass du Peggy helfen kannstihn zu baden, ihn zu beschäftigen, ihn zu füttern«, erklärte Ava, während sie die inzwischen geleerten Teller stapelte. »Vielleicht macht es dir ja Spaß

»Sicher nichtFelice verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. »Ich mag keine Babys

»Das heißt also, du bist total froh, dass du noch länger bleiben darfst?«, neckte Milena. »Du willst gar nicht nach Hause, gibs zu! Weil du auch nur bei uns die tolle Weihnachtstorte bekommst, die vielen Geschenke, die volle Aufmerksamkeitkeine Peggy, kein schreckliches Baby …«

Sie piekste Felice mit den Fingern in die Rippen, bis sich diese kichernd auf ihrem Stuhl wand.

»Hör auf, hör auf, du bist gemein

»Also, gib es zu«, forderte Milena sie scherzend auf. »Gib zu, dass du lieber bei uns bist

Felice japste nach Luft.

»Hör auf, hör auf! – Ich gebe es zu. Aber ich würde den Papa gern da haben

Diesen Wunsch werde ich dir ganz sicher nicht erfüllen, dachte Ava, die allmählich begriff, dass Felice und ihre Stiefmutter in spe nicht das beste Einvernehmen hattenein Umstand, der von beiden Seiten auszugehen schien. Für Peggy war Felice das lästige Anhängsel von Gabriel, für Felice bedeutete Peggy einen Störfaktor in ihrem Leben mit ihrem Papa. Es würde wohl für beide in den nächsten Jahren nicht leicht werden.

Sie nahm den Stapel mit den Tellern und trug ihn in die Küche. Nebenan hörte sie Milena mit Felice weiter herumscherzen. Sie war froh darüber, dass beide beschäftigt waren und ihr nicht folgten. Seit sie ihr Zimmer am Nachmittag verlassen hatte, sehnte sie sich nach Ruhe. Mit Milena zu schlafen war gewiss nicht geplant gewesen. Nichtdestotrotz war es nun einmal passiert. Sie hatte es aufregend und erfüllend gefunden, nach drei Jahren etwas anderes im Bett zu erleben als oberflächliche Berührungen und flüchtige Küsse. Ganz ohne Gleitgel, ohne das zwischen ihr und Manou gar nichts mehr möglich gewesen war. Milena wusste anscheinend intuitiv, was sie brauchte, und ihr Körper reagierte darauf.

Sie war sich durchaus bewusst darüber, dass sie sich auch bei Milena nicht sehr ins Zeug gelegt hatte. Schon immer war sie eher der passivere Part gewesen, was teils aus Unsicherheit, teils aus einer gewissen Bequemlichkeit resultierte. Diesmal kam hinzu, dass sie es auch nicht für notwendig erachtet hatte. Letztendlich hatte Milena ja nur darauf gewartet, Sex mit ihr zu haben, oder? – Nun hatte sie ihn bekommen.

Für Ava war es damit erst einmal erledigt. Am liebsten hätte sie einfach einen imaginären Haken dahinter gesetzt, um dann zur Tagesordnung überzugehen: die letzten Vorhangbahnen nähen, ein paar längere Spaziergänge, gemeinsames Kochen und Essen. Ein ungezwungenes Miteinander, wie sie es bisher gehabt hatten.

Die Art, wie Milena sie seither ansahmal abwartend, mal hoffnungsvoll, mal voller Zuneigung –, ließ sie jedoch ahnen, dass dies eine Wunschvorstellung bleiben würde. Milena empfand etwas für sie, was über freundschaftliche Gefühle hinausging. Das war nicht gut und würde unter Umständen nur zu Problemen führen. Solche Erwartungen konnte sie nicht erfüllen. Ihr Leben war gegenwärtig kompliziert genug. Sie wusste nicht, wie es beruflich weitergehen würde, ob sie Felice in Zukunft regelmäßig sehen konnte, was mit Manou war.

Aus Paris war ein WhatsApp eingetroffen, die erste seit der Nachricht, welche CDs und Möbel sie mitnehmen würde. Manou hatte darin ein Fischrestaurant erwähnt, dass sie vor der Pandemie öfter gemeinsam besucht hatten, und geschrieben, dort hoffentlich irgendwann wieder eine der legendären Meeresfrüchte-Platten mit ihr teilen zu können. Es tue ihr zudem leid, dass Ava ihren Job verloren habe, aber sie werde bestimmt bald etwas Neues finden. Die Nachricht hatte sie mit den Worten Bisous, Manou geschlossen und Ava damit verwirrt. Sollten die Küsse nicht eher für Aurelie reserviert bleiben?

Die stille Wut auf Manou, die mittlerweile in ihr herangereift gewesen war, hatte sich jedenfalls vorerst verflüchtigt. Zurückgeblieben waren Trauer und der leise Schmerz der Erinnerung an glückliche Zeiten.

Ava schaltete die Spülmaschine an und wischte mit einem feuchten Lappen über die Oberflächen. Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, hatten Milena und Felice ein Brettspiel aufgebaut, das ihnen bei den Aufräumarbeiten in die Hände gefallen war.

Sie suchte gerade nach einer Ausrede, warum sie an diesem Abend nicht mitspielen konnte, als ihr Handy klingelte. Gabriels Name erschien auf dem Display. Ohne abzuheben, reichte sie das Telefon an ihre Tochter weiter.

»Hallo PapaFelice nahm den Anruf freudestrahlend entgegen. »Ja, weiß ich schon! – Hmmmhmm. Ja. Süß. – Ja, Peggy hat ein Foto geschickt. – Nein. Milena backt eine Weihnachtstorte und wir kochenwie heißt das …«

Sie sah hilfesuchend zu Ava.

»Coq au vin

»Cockowa«, wiederholte Felice. »Und wir haben einen Christ­baum aufgestellt mit ganz vielen elektrischen Lichtern und blauen und goldenen Kugeln! – Nein, morgen müssen wir noch das Haus putzen, und Mama näht die Vorhänge fertig. Wir haben nämlich das Wohnzimmer ganz neu gemacht, das sieht jetzt voll schön aus! Und nach Weihnachten, wenn die Farbe da ist, streichen wir mein Zimmer hier. – NeeiiiiinSie kicherte. »In einer ganz tollen Farbe! Rosa

Ava mochte sich lieber nicht vorstellen, was Gabriel darauf erwiderte. Was sie überraschte, war die Selbstverständlichkeit, mit der Felice nun plötzlich davon ausging, dass sie auch nach Weihnachten noch in diesem Haus wohnen würde. Vorhin hatte sie noch mit derselben Selbstverständlichkeit ihren Koffer gepackt, um nach Wien abzureisen. Ihre Tochter machte sich offensichtlich weit weniger Gedanken, was die nahe Zukunft bringen würde.

Weil sie eben noch ein Kind ist, gab sie sich selbst die Antwort.

»Gute Nacht, Papa! Ich hab dich sooooo liebFelice drückte ein paar schmatzende Küsse aufs Handy. Dann gab sie es Ava zurück.

»Papa will dich auch noch kurz sprechen

Auch das noch, dachte Ava, der nach einem koordinierten Rückzug zumute warohne Felice, die ihrem Vater Küsse entgegen­hauchte, sich von ihr aber nur widerwillig umarmen und drücken ließ, ohne Milena, die sie abwartend musterte, und erst recht ohne Gabriel, der sie gleich vermutlich belehren wollte, dass ein rosa Zimmer eine entsetzliche geschmackliche Entgleisung war, der sie niemals hätte nachgeben dürfen.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als den Anruf entgegenzunehmen.

»Hallo

»Hej, du

Gabriels sanfte Stimme und die Tatsache, dass er sie mit genau denselben Worten begrüßte wie damals, als sie vor seiner Hotelzimmertür gestanden hatte, ließen sie unwillkürlich zusammenzucken. Sie sah an Milenas besorgtem Blick, dass ihr der Schreckmoment nicht entgangen war.

Das brauchte sie gerade am allerwenigsten: dass Milena mit anhörte, wie sie mit Gabriel telefonierte. Sie ging über den Flur in die Bibliothek und zog energisch die Türe hinter sich zu.

»Danke, dass du heute so für Peggy da warst«, sagte Gabriel. »Sie hat mir erzählt, wie sehr du ihr geholfen hast, als es losging. Das war großartig. Vielen, vielen Dank nochmal

Ava schluckte. Gabriel verstand es immer wieder, sie aus dem Konzept zu bringen.

»Gerne«, erwiderte sie blechern. »So eine wahnsinnig große Hilfe war ich auf die Entfernung wohl eher nicht

Gabriel lachte sein weiches, öliges Lachen.

»Oh doch, ganz sicher. Peggy ist meisterhaft darin, komplexe Zusammenhänge zu erkennen und schwierigste Rechnungen zu lösen, aber im alltäglichen Leben ist sie leider oft überfordert. Ich kann mir gut vorstellen, wie hilflos sie war. Daher bin ich wirklich froh, dass du ihr gesagt hast, was zu tun ist. Besser hätte ich es nicht machen können

Ava wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Gabriels Lob kam ihr übertrieben vor und ließ sie sich wieder fühlen wie die unbedarfte Studentin, die auf Anerkennung und Zuspruch angewiesen war.

»Tut mir leid, dass der kleine Christopher den Plan durchkreuzt hat«, fuhr Gabriel fort. »Vor Weihnachten werden wir es nicht schaffen, Felice in Salzburg abzuholen. Peggy fällt ja jetzt erstmal aus, und auch wenn ich morgen früh nach Hause darfeine dreistündige Autofahrt traue ich mir nicht zu; ich bin noch immer ziemlich fertig. Ich habe aber schon mit Max gesprochen. Er würde Felice am ersten oder zweiten Weihnachtsfeiertag nach Wien holen

Wie bitte?

Die Lähmung, die sie im Gespräch mit Gabriel bisher befallen hatte, löste sich mit einem Schlag. Eine Welle kalter Wut überrollte sie. Wie konnte er es wagen, mit Max etwas auszuhandeln, ohne sie vorher um ihre Meinung zu fragen!

»Felice soll also nach Hause kommen und euch dabei zusehen, wie ihr um ihren kleinen Halbbruder herumtanztAva gab sich keine Mühe, ihren Ärger zu verbergen. »Weil es bei mir so furchtbar ist und du mich für unfähig hältst, mich um sie zu kümmern? Weil du sie mir schnellstmöglich wieder wegnehmen willst, um mich zu bestrafen? Ist es das? – Wenn ja, dann sag es einfach geradeheraus und verschone mich mit deiner Süßholzraspelei! Und lass künftig meinen Bruder aus dem Spiel. Wenn du mir etwas zu sagen hast, kannst du mir das auch direkt mitteilen

Am Ende der Leitung herrschte Schweigen.

Ava ihrerseits kämpfte schon wieder mit den Tränen und hasste sich dafür. Warum nur war sie so nahe am Wasser gebaut, wenn etwas sie aufwühlte!

»Ich halte dich nicht für unfähig, dich um Felice zu kümmernGabriel hörte sich völlig perplex an. »Ich wollte dich nur entlasten. Ich dachte, es wird dir zu viel mit ihr. Du hast sie immerhin schon drei Wochen, und das, wo du nicht gewohnt bist, ein Kind um dich zu haben. Ich dachte einfach, es wäre in deinem Sinne, wenn wir sie zu uns holen

»Ich will mit ihr Weihnachten feiern«, sagte Ava, die Tränen tapfer zurückhaltend. »Ich habe einen Christbaum und Geschenke

»OkayGabriel hörte sich noch immer verblüfft an. »Entschuldige bitte. Ich hatte das total falsch eingeschätzt. Ich dachte auch, du willst baldmöglichst nach Paris zurück

»Ich habe noch keinen Rückflug gebucht

»Oh

Es folgte eine kleine Pause.

Ava tupfte sich mit einem Papiertaschentuch über die Augen.

»Ich höre aus deinen Worten heraus, dass du sie in Zukunft regelmäßig sehen willst. Vielleicht sollten wir uns demnächst mal zusammensetzen und darüber reden, wie wir das weiter handhaben. Ein Wochenende bei mir, eines bei dir wird wegen Paris kaum machbar sein. Möglicherweise kann es ja eine FerienGeschichte werden. Natürlich müssen wir Felice fragen, was sie sich vorstellt

»Natürlich«, bestätigte Ava.

Ihre Augen wurden schon wieder feucht, auch wenn sie nicht verstand, weshalb. War das nicht genau das, was sie gewollt hatte? Gabriels Einverständnis, dass sie ihre Tochter jederzeit sehen konnte? Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, überwogen schon wieder Ärger und Wut. Warum eigentlich brauchte sie Gabriels Einverständnis? – Felice war ebenso ihre Tochter!

Sie drehte sich gedanklich im Kreis. Sie konnte ihm das fünfmal vorhalten, und alles, was er erwidern würde, war: Okay. Bis er irgendwann bestimmt die Nase voll hatte und er sie daran erinnern würde, dass sie ihm das Baby einfach auf das Bett gelegt hatte, um kaltherzig zu gehen und sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Sie wollte das nicht hören, schon gar nicht aus seinem Mund!

»Warum hast du das getan?«, platzte es daher plötzlich aus ihr heraus. »Warum hast du damals mit mir geschlafen

Ein paar schreckliche Sekunden verstrichen. Sie begann ihre Frage zu bereuen. Es war doch sinnlos, hier am Telefon dieses komplexe Thema aufzurollen! Sinnlos und vermutlich auch schmerzhaft. Gleich würde sie Dinge aus seinem Mund hören, die sie mehr verletzen würden als die Ungewissheit, die sie über Jahre mit sich herumgeschleppt hatte.

»Weil wir es beide wollten«, sagte Gabriel dann. »Du wolltest es genauso wie ich, Ava. Oder habe ich das damals völlig fehl­inter­pretiert? Ist es deiner Erinnerung nach etwasetwas, wozu ich dich gezwungen habe

Er wirkte fast schon erschrocken.

»Ich weiß es nichtNein, nein, ich glaube nichtIhre Zunge hatte sich gelockert. Plötzlich drängte es sie regelrecht danach, weiterzusprechen. »Ich war in der Tat neugierig und wollte wissen, wie es ist, mit jemandem zu schlafen«, gab sie unumwunden zu. »Aber dudu hättest jede haben können. Warum ausgerechnet mich? Ich war dick, hässlich und unreif. War es, weil ich so einfach zu haben war? Weil sich gerade keine andere angeboten hat

»Du hattest schöne Augen und ein liebes Lächeln. Du warst klugdas bist du noch immer. Du warst auch unsicher und kindlich, aber ich dachte, es würde sich legen, wenn ich mich intensiv um dich kümmere. Aber du hast mich weggestoßen und bist immer wieder auf Distanz gegangenbis du mich schließlich gar nicht mehr sehen wolltest. Ich war sehr unglücklich damals. Ich war in dich verliebt, Ava Sophie

Die Ernsthaftigkeit in seinen Worten fühlte sich an wie eine Messerspitze, die sich ihr in den Bauch bohrte. Verliebt. Unglücklich. Er hatte tatsächlich etwas für sie empfunden.

»Ich habe gedacht, wenn ich dich gehen lasse, wirst du irgendwann zurückkehren«, fuhr er fort. »Ich habe lange gehofft, dass du, wenn du dich selbst gefunden hast, wieder Kontakt zu uns aufnimmst. Erst vor einigen Jahren habe ich begriffen, dass du gar nicht daran interessiert bistauch niemals an mir interessiert warst. Ich habe das falsche Geschlecht

Er sagte das ohne jeglichen Vorwurf.

»Ich wusste es damals selbst nicht«, sagte sie, immer noch getroffen von seiner Offenbarung. Verliebt. Unglücklich. Gehofft, sie würde zurückkommen.

»Ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht für dich war«, sagte er. »Mit deiner Mutter und der ganzen Situation. Es tut mir sehr leid, dass ich das damals nicht klar genug erkannt habe. Ich hätte dir als Freund da heraushelfen sollen, nicht als Liebhaber. Umso mehr bewundere ich, was du aus dir gemacht hast, Ava. Du hast dir deine Träume erfüllt, Karriere gemacht, eine Beziehung …«

»Und das weißt du woher

Ihr Interesse war echt.

»Ich habe dich öfter mal gegoogelt«, gab er unumwunden zu. »Felice hat immer wieder nach ihrer Mutter gefragt. Ich wollte mir keine Lügenmärchen ausdenken. Es gab ein Foto von dir und einer Manou bei der Eröffnung eines Yoga-Zentrums. Unter dem Foto stand: die Besitzerin Ava Jakob mit ihrer Lebenspartnerin

Sie erinnerte sich vage, dass sie auf der Eröffnungsparty fotografiert worden waren.

»Ich habe mich wirklich gefreut, dich neulich zu sehenauch wenn der Anlass kein froher war«, fuhr Gabriel fort, und sie merkte, dass er wieder kurzatmig wurde. Das viele Sprechen schien ihn anzustrengen. »Es war gut, dass du gekommen bist, vor allem für Felice. Je älter sie wird, desto wichtiger wird es für sie, ihre Mutter zu kennen

»Du hast sie gut erzogenEs war ihr plötzlich wichtig, auch ihm ein Kompliment zu machen, dass von Herzen kam. »Sie hätte es mit dir als Vater nicht besser treffen können

Er lachte leise.

»Siehst du, und nun hat sie uns beide. So soll es bleiben. – Bevor ich gleich auflege, weil mich die Nachtschwester schon mit Blicken hinrichtet, noch eine einzige Frage: Wer, bitteschön, ist Milena? – Felice schwärmt von ihr wie von einem Popstar

Auch Ava lachte jetztdas erste Mal, dass sie in einem Gespräch mit Gabriel dazu in der Lage war. Seine offenen Worte hatten eine Blockade in ihrem Inneren gelöst. Das Gefühl, für immer in der Rolle der naiven, hilflosen Studentin verharren zu müssen, war verschwunden.

»Milena hat hier mit meiner Mutter gewohnt«, sagte sie dann, ihre Worte mit Bedacht wählend. »Und da sie im Augenblick keinen Job findet, wohnt sie erst mal weiterhin hier

»Oh, Max hat mir gar nicht erzählt, dass sie eine Pflegerin hatte

Ava zog es vor, darauf nichts weiter zu erwidern.