Ava und Milena
Es war der Tag vor Silvester. Sie kamen von einem der langen Spaziergänge nach Hause, die sie seit Weihnachten täglich unternahmen. Ava war gerade dabei, ihren Mantel auszuziehen, als sie im Wohnzimmer das Handy klingeln hörte. Sie hatte es längst aufgegeben, es ständig mit sich herumzutragen. Wenn jemand anrief, dann war es meist Gabriel, der mit Felice sprechen wollte. Ihre Tochter hatte es noch nicht über sich gebracht, ihrem Papa zu gestehen, dass sie jetzt ein eigenes hatte.
Als Ava die verschmutzten Schuhe von den Füßen gestreift hatte, schaute sie, wer es gewesen war. Sie kannte die Nummer nicht, registrierte jedoch, dass der Anruf aus Frankreich stammte. Wahrscheinlich eine Weinhandlung, die ihr Abschiedsmail übersehen hatte. Zwischen den Jahren würde sie gewiss nicht zurückrufen. Es war die Frage, ob sie es überhaupt jemals tun sollte – schließlich war sie freigestellt.
Kurze Zeit später hatte sie den Anruf bereits vergessen. Milena kochte alkoholfreien Punsch und servierte selbstgebackene Schokoladenkekse, auf die sich Felice stürzte, als hätte sie seit Tagen nichts mehr zu essen bekommen. Das Kaminfeuer knisterte. Der Christbaum leuchtete. Es roch nach Tannenzweigen und Holz, und Ava fand, dass die Szenerie beinahe schon zu kitschig wirkte, um real zu sein.
Sie fühlte sich so entspannt wie schon lange nicht mehr. Nie hätte sie glauben können, dass ausgerechnet in diesem Haus – dem Haus, in dem sie ihre schlimmsten Jahre verbracht hatte! – so viel Frieden und Freude herrschen konnte. Dank Felice und Milena war sie auch ohne Job viel zu beschäftigt, um von tristen Erinnerungen heimgesucht zu werden.
Das Techtelmechtel mit Milena war das Sahnehäubchen, das ihr die Abende und Nächte versüßte. Sie hatte alle anfänglichen Bedenken zur Seite geschoben. Milena mochte ein bisschen verliebt in sie sein, aber sie erwartete keine Liebesschwüre oder forderte Planungen zur gemeinsamen Lebensgestaltung, die über den nächsten Tag hinausgingen. Das machte die Sache unkompliziert. Im Bett harmonierten sie von Mal zu Mal besser. Milena war eindeutig die aufmerksamste und einfühlsamste Partnerin, die sie je gehabt hatte. Sie schien intuitiv zu wissen, worauf es ankam.
Seit Ava den Grund für ihr Inkognito kannte, machte sie sich auch keine Sorgen mehr, mit einer Verbrecherin unter einem Dach zu wohnen. Unbescholten war Milena freilich nicht. Allerdings waren die Betrugsdelikte, die sie begangen hatte, nicht gleichzusetzen mit Taten, bei denen ein Mensch körperlichen oder seelischen Schaden erlitt. Im Grunde hatte nicht einmal jemand Geld verloren.
Die ganze Angelegenheit war einfach nur bedauerlich. Ava konnte nach wie vor nicht nachvollziehen, weshalb Milena nicht einmal mit einem Anwalt reden wollte. Sie hatten seit Heiligabend nicht mehr darüber gesprochen, und manches Mal umschlich Ava der Eindruck, dass sie sich mehr Gedanken um Milenas Zukunft machte als sie selbst. Milena schien an ihrem Ziel festzuhalten, die Zeit bis zur Verjährung irgendwie abzusitzen. Sie dagegen fragte sich, wie sich fünf verlorene Jahre wieder wettmachen ließen. Wenn andere längst voll im Berufsleben standen, musste Milena noch einmal fast von vorne anfangen.
Es ist nicht mein Problem, ermahnte sich Ava, während sie am frühen Abend Hackfleisch und Tomaten aus dem Kühlschrank nahm. Sie wollten gemeinsam Lasagne machen; Felice hatte sich das gewünscht. Ava griff nach ihrem Handy, um das Rezept im Internet abzurufen, und entdeckte die Nachricht.
Ava, ruf mich bitte an. Es ist wichtig. Gustave.
Sie kannte nur einen Gustave – Gustave Bernard, den Firmengründer von La Maison Française. Es war Jahre her, dass sie das letzte Mal miteinander in Kontakt gewesen waren, und Gustave musste mittlerweile fast achtzig sein.
Wollte er ihr etwa sagen, wie enttäuscht er von ihr war? Dass er es gar bereute, sie damals eingestellt zu haben? Nein. Das war nicht seine Art. Möglicherweise will er sich nur noch mal persönlich von mir verabschieden, dachte Ava. Schließlich hatte sie ja lange genug für sein Unternehmen gearbeitet.
Nun gut, sollte er. Am besten, sie brachte dieses finale Gespräch hinter sich. Sie hatte bereits auf Rückruf gedrückt, als ihr ein weiterer Gedanke kam: Vielleicht wusste Gustave gar nichts von ihrer Kündigung und es ging um etwas ganz anderes?
Unwahrscheinlich, sagte ihr eine innere Stimme, und da hörte sie auch schon Gustaves heisere Stimme an ihrem Ohr.
»Ava. Gut, dass du dich meldest.«
»Hallo, Gustave. Wie geht es dir?«
Er litt seit Jahren unter COPD, der Grund, weshalb er sich aus dem aktiven Geschäft zurückgezogen hatte.
»Immer schlechter, was denkst du denn?« Wie zur Bestätigung hustete er ins Telefon.
»Das tut mir leid.«
»Ach, papperlapapp! Ich hatte ein herrliches Leben, und ein paar Jahre wird es schon noch gehen.« Das Lachen, das seinen Worten folgte, ging erneut in Husten über. »Ich habe dich nicht angerufen, um über meine Gesundheit zu sprechen. Ich wollte dir mitteilen, dass ich so richtig in der Firma aufgeräumt habe. Anscheinend war das dringend notwendig. Cécile hat aus La Maison Française etwas gemacht, was nicht in meinem Sinne ist. Wir stehen für solide französische Einrichtung, Tradition und Werte, nicht für Verrücktheiten und Ein-Tages-Trends.«
»Oh.«
Ava war überrascht. Sie hatte Céciles Aufstieg von der Leiterin der Buchhaltung über das Controlling bis hinein in die Chefetage verfolgt. Gustave Bernard hatte große Stücke auf sie gesetzt. Sollte sie tatsächlich seinen Unmut geweckt haben? Recht geschähe es ihr, dachte sie mit leichter Häme, während Gustave fortfuhr.
»Deine Kündigung war für mich das Tüpfelchen auf dem i. Du hast über zehn Jahre für mich gearbeitet und warst immer loyal. – Um es kurz zu machen: Cécile wird La Maison Française zum Jahresende verlassen. Dieser junge Kerl, der zuletzt Marketing gemacht hat … wie hieß er doch … André … ach nein, Adrien … den habe ich gefeuert. Total unfähig, der Mann! Viel heiße Luft und nichts dahinter! Ich habe umstrukturiert und dabei gleich Céciles Anhängerschaft ausgedünnt. Vertrieb und Marketing werden künftig wieder in einer Hand liegen und direkt der Geschäftsführung unterstellt sein. Also mir.«
»Du … du steigst noch einmal aktiv ein?«
Es war das Einzige, was sie sagen konnte. In ihr drehte sich alles: Cécile weg, Adrien weg, ein paar andere entweder entmachtet oder auch gekündigt. Bei La Maison Française blieb kein Stein auf dem anderen.
»Was bleibt mir anderes übrig? Es muss ja jemand dieses Unternehmen führen! – Aber jetzt zu dir. Ich möchte, dass du zurückkommst. Vergiss die Kündigung, vergiss Cécile. Ich will, dass du für Vertrieb und Marketing zuständig bist. Außerdem werde ich dir Managementkurse zahlen. Wir werden eng zusammenarbeiten, du und ich. Du wirst lernen, zu denken wie ich – und genauso erfolgreich zu sein.«
Seinen Worten folgte ein langer Hustenanfall. Er ließ ihr dennoch wenig Zeit, die Neuigkeiten einzuordnen, denn sobald er sich unter Kontrolle hatte, folgte die eigentliche Offenbarung.
»Ich will dich zu meiner Nachfolgerin aufbauen, Ava. Ich will, dass du La Maison Française nach meinem Tode übernimmst!«
Ein paar Sekunden lang war Ava wie vor den Kopf geschlagen. Sie hörte sich »Oh« und »Ich fühle mich geschmeichelt« sagen. Zu mehr kam sie nicht. Gustave Bernard legte ihr infolge umfassend dar, wie er sich die Zusammenarbeit vorstellte. Ein persönliches Treffen auf seinem Landsitz in Romilly-sur-Andelle, knapp zwei Stunden westlich von Paris, sei unumgänglich. Er erwarte sie für den 5. Januar.
Noch am selben Abend schickte er ihr ein e-ticket für den Flug am Vorabend von Wien-Schwechat nach Paris.
*
Sie verbrachten den Silvesterabend damit, Käsefondue zu essen, mit Felice Monopoly und Mensch-ärgere-dich-nicht zu spielen und ein altes Puzzle mit vierhundert Teilen zusammenzusetzen, das im Zuge ihrer Aufräumarbeiten aufgetaucht war. Es war nett und gemütlich, dennoch vermisste Ava die unbeschwerte Heiterkeit der letzten Tage.
Gustave Bernard hatte mit seinem Anruf das Ende ihres Aufenthalts eingeläutet. Bisher war sie zu feige gewesen, Milena davon zu erzählen. Gabriel würde Felice am Sonntag abholen. Vermutlich hatte Milena daraus längst geschlossen, dass sich auch Avas Aufenthalt in Salzburg dem Ende zuneigte. Jedenfalls wirkte sie insgesamt stiller als zuvor und zeitweise sehr nachdenklich. Avas Gedanken kreisten darum, was aus ihr werden sollte. Milena wieder auf die Straße zu schicken, war ausgeschlossen. In gewissem Sinne fühlte sie sich für sie verantwortlich.
Am Neujahrstag telefonierte sie heimlich mit Gabriel. Auch wenn sie intuitiv gewusst hatte, dass er ihrem Vorschlag offen gegenüberstehen würde, fühlte sie sich nach dem Gespräch dennoch von einer Last befreit. Gabriel hatte immer eine soziale Einstellung gehabt. Aus seiner finanziell gesicherten Position heraus hatte er schon damals, als sie sich kennenlernten, Notunterkünfte für Obdachlose unterstützt und sich dafür eingesetzt, dass Supermärkte ihre überzähligen Lebensmittel an Bedürftige spendeten, anstatt sie im Müll zu entsorgen.
Schwieriger war das Gespräch mit ihrem Bruder.
Trotzdem trug sie ihren so penibel ausgearbeiteten Plan noch einen ganzen weiteren Tag mit sich herum. Während sie ahnte, dass Milena ihre Abreise nicht besonders gut aufnehmen würde, konnte sie gleichzeitig überhaupt nicht einschätzen, was sie von dem Vorschlag hielte, den sie ihr unterbreiten wollte.
Es war Milena, die schließlich den Auftakt zu diesem unausweichlichen Gespräch machte. Sie hatten sich geliebt und lagen nebeneinander im Bett, als sie ohne Überleitung fragte: »Wann geht dein Rückflug?«
Sie verzog keine Miene, als sie die Antwort hörte, was es Ava leichter machte, zu ihrem Vorschlag überzuleiten.
»Ich habe mit Gabriel gesprochen. Wie du weißt, hat er als Felices Vormund Mitspracherecht, was mit dem Haus passieren soll, laut der Klausel im Schenkungsvertrag darf er es aber nicht verkaufen. Und er will das auch gar nicht. Regelmäßig von Wien aus nach dem Rechten schauen kann er allerdings auch nicht. Er wäre froh, wenn das jemand in Zukunft übernehmen könnte. Ich habe ihm von dir erzählt, und er fände es eine prima Idee, wenn du weiterhin hier wohnen bleibst und dich um alles kümmerst.«
Milena sagte eine ganze Weile nichts, sondern starrte nur auf die Decke.
»Es geht nur darum, dass Haus zu heizen, damit die Leitungen nicht einfrieren, den Postkasten zu leeren, die Katzen zu versorgen«, fuhr Ava fort. »Wir würden dir dafür auch etwas zahlen. Nicht viel, aber so, dass es für das Nötigste reicht.«
Milena drehte sich ihr zu.
»Bisher hat das dein Bruder gemacht.«
»Nachdem er von der Schenkung weiß, will er sich lieber nicht mehr darum kümmern müssen«, erwiderte Ava. Das war nicht ganz korrekt, was Milena aber nicht zu wissen brauchte. Obwohl Max es satt hatte, täglich für die Katzen zu sorgen, wollte er doch weiterhin Zugang zum Haus. Er hoffte immer noch, den Geldschatz zu finden. Dass jemand anderes nun alle Zeit der Welt haben sollte, in Ruhe danach zu suchen, erfüllte ihn mit Argwohn.
»Und wer würde mich bezahlen? Du und Gabriel?«
»Ja.«
Milena erwiderte nichts darauf, doch Ava spürte, wie unangenehm ihr die Aussicht war, von ihnen Geld anzunehmen. Doch es war noch nicht alles gesagt. Was Ava ihr als nächstes unterbreiten würde, riefe garantiert erst einmal Widerstand hervor.
»Du kannst hier auf unbestimmte Zeit wohnen, allerdings gibt es eine Bedingung. Ich möchte, dass du mit einem Anwalt redest. Gabriel hat einen Bekannten, der Rechtsanwalt in Wien ist, und –«
Milena schnellte hoch. Ungläubig starrte sie Ava an.
»Du hast mit Gabriel über mich geredet? Du hast ihm meine Geschichte erzählt?«
»Ja, aber er behandelt das selbstverständlich vertraulich. Er will nur –«
Sie kam nicht weiter. Milena schnappte sich ihre Decke und stürmte aus dem Zimmer. Kurze Zeit später hörte Ava, wie sie die Türe vom Zimmer ihrer Mutter hinter sich zuschlug.
Super, das ist ja prima gelaufen, sagte sie zu sich selbst. Der Sarkasmus half ihr nicht über die Enttäuschung hinweg. Sie hatte es nur gut gemeint. Warum konnte Milena ihr nicht vertrauen?
*
Milena heulte ins Kopfkissen. In ihr tobten Wut, Verbitterung und Schmerz. Sie fühlte sich gedemütigt und verraten.
Natürlich, sie hatte immer gewusst, dass Avas Aufenthalt in Salzburg irgendwann zu Ende war. Dass sie nach Paris zurückgehen und allenfalls ein sporadischer Gast in Österreich sein würde. Trotzdem schnitt ihr die Vorstellung, sie nicht mehr um sich zu haben, wie ein Messer in die Seele. Sie konnte nicht länger vor sich selbst verleugnen, dass genau das passiert war, was sie hatte vermeiden wollen: Sie war in Ava verliebt.
Dass die Frau, der sie so viel Vertrauen entgegengebracht hatte wie seit Billie keiner anderen, sie nun dermaßen hinterging, ließ ihre Wut beinahe überkochen. Wie nur hatte sie es wagen können, Gabriel ihre Vergangenheit zu erzählen? Ausgerechnet Gabriel, in dem sie vor Weihnachten noch beinahe den pädophilen Übeltäter gesehen hatte! Sicher, die beiden hatten sich wohl ausgesprochen. Aber war das Grund genug, ihm Geheimnisse anzuvertrauen? Nein, entschied Milena bitter.
Und dann noch dieses Angebot, dass sie im Haus wohnen bleiben konnte. Wie großzügig. Noch großzügiger war es natürlich, ihr auch noch Geld dafür zu zahlen. Sie sah es als das, was es war: als einen Akt des Mitgefühls und der Fürsorge. Einige schickten regelmäßig Geld nach Afrika, um einem Mädchen den Schulbesuch zu ermöglichen, Ava und Gabriel wollten in Zukunft großzügig dafür sorgen, dass die obdachlose Polin nicht verhungerte.
Die Erkenntnis, dass Ava in ihr eine Bedürftige sah, aber keine Geliebte, mit der sie auf einer Ebene stand, tat weh.
Nachdem sich ihre erste Wut gelegt hatte und aus ihren Augen keine Tränen mehr kommen wollten, fühlte sie sich zuerst nur ausgelaugt und traurig. Dann zwang Milena sich zu einer gnadenlosen Bilanz. Sie hatte keine Bleibe, keinen Job und kein Geld und war polizeibekannt. Ava bot ihr weiterhin ein Dach über dem Kopf und genug zu essen, um über den Winter zu kommen. Dass sie mit einem Rechtsanwalt sprechen sollte, war der Preis, den sie dafür zahlen musste. Sie würde das Gespräch hinausschieben, bis Ava zu viel Druck auf sie ausübte, sich anhören, was der Mann zu sagen hatte, und dann wieder abtauchen. Mit etwas Glück würde er ohnehin erst im März oder April einen freien Termin für sie finden. Bis dahin war die Pandemie hoffentlich abgeklungen, und die Gastronomie konnte wieder öffnen. Irgendwer würde sie schon servieren lassen oder zumindest unangemeldet als Küchenhilfe beschäftigen.
Am nächsten Tag erschien sie zum Frühstück und tat, als wäre nichts geschehen. Auch wenn Ava sich in der Gegenwart von Felice nichts anmerken ließ, so schien sie doch überrascht. Milena konnte sich nicht erinnern, in den Wochen mit ihr jemals ein von so höflichen Floskeln begleitetes Frühstück geführt zu haben wie an diesem Tag.
Auch Felice wirkte niedergeschlagen.
»Aber wann kommst du dann wieder?«, wollte sie von Ava wissen.
»Bald.«
Das Mädchen ließ sich mit dieser Antwort nicht abspeisen.
»Aber wann genau?«
»Sobald ich wieder Urlaub nehmen kann«, erwiderte Ava, und Milena ahnte, dass sie weit davon entfernt war, ein Datum benennen zu können. Wenn sie wirklich Vize-Chefin werden wollte, würde sie sich in den folgenden Monaten mit voller Energie in die Arbeit stürzen müssen.
»Aber wann ist das?«
Felice ließ immer noch nicht locker.
»Du bist erst einmal bei deinem Papa und bei Peggy«, sagte Ava. »Und du hast jetzt einen kleinen Bruder. Bist du denn gar nicht neugierig auf ihn?«
Felice zuckte mit den Schultern.
»Ich habe es doch schon mal gesagt: Ich mag keine Babys. Die schreien nur.«
»Ach, Felice.« Ava strich ihr übers Haar. »Du wirst sehen –«
»Ich mag Peggy nicht!«, platzte plötzlich aus Felice heraus, was Milena längst geahnt hatte. »Sie schreit immer rum und macht aus jeder Kleinigkeit ein Tamtam! Ich möchte lieber mit dir, Papa und Milena zusammenwohnen.«
»Das geht nicht.« Ava fuhr sich nervös durchs Haar. Es war offensichtlich, dass ihr die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, zusetzte.
»Weil du wieder nach Paris gehst und mich vergessen wirst«, erwiderte Felice ernst. »So wie früher. Und Milena wirst du auch vergessen, und alles wird ganz furchtbar werden.«
Ava sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Milena beschloss, dass es an der Zeit war, einzugreifen, ehe die Diskussion noch hässlicher wurde.
»Dramaqueen«, sagte sie und gab Felice einen leichten Klaps. »Natürlich wird sie uns nicht vergessen. Deine Mama hat uns in diesen Wochen so liebgewonnen, dass sie ohne uns kaum mehr leben kann. Jedes Wochenende, das sie ohne uns verbringen muss, wird eine einzige Folter für sie sein.«
Ava lächelte dünn.
»Ganz sicher?«
Felice suchte nochmals die Bestätigung.
»Mehr als nur sicher«, sagte Milena überzeugt – zumindest, was Felice betraf. Ava hing inzwischen so sehr an dem Mädchen, dass es ihr schwerfiel, sie wieder in Gabriels Obhut zu geben.
»Natürlich werde ich euch beide vermissen«, schaltete sich Ava nun ein. »Aber wir haben ja Handys und können miteinander telefonieren.«
»Milena hat kein Handy.«
»Sie hat das Festnetztelefon deiner Oma. Da können wir sie erreichen, wann immer wir Sehnsucht nach ihr haben.«
Als ob du das jemals haben wirst, dachte Milena, erwiderte jedoch nichts darauf.
Am frühen Nachmittag traf Gabriel ein.
Milena wunderte sich im Stillen, wie gravierend sich ihre Vorstellung von ihm von der Wirklichkeit unterschied. Ohne dass sie genau sagen hätte können, weshalb, hatte sie sich automatisch ein stattliches Kaliber wie Max vorgestellt – jemanden, der nicht nur körperlich groß war, sondern auch im Reden. Doch Gabriel war eher klein und drahtig und wirkte sanft und bescheiden.
Ehe er sich mit Felice und Bobo auf den Rückweg nach Wien machte, tranken sie gemeinsam Kaffee. Die Atmosphäre war ganz anders als an Weihnachten mit Max. Sogar Ava war entspannt, berichtete von der Weihnachtsfeier und den langen Spaziergängen, die sie nach Beendigung der Quarantäne unternommen hatten. Gabriel erzählte vom Krankenhaus und seinen Erfahrungen auf der Covid-Station, lobte das Engagement der Ärzte und die Freundlichkeit des Pflegepersonals.
Milena fand ihn auch deshalb sympathisch, weil er sie weder wie ein Sozialprojekt behandelte noch wie ein lästiges Anhängsel der Mutter seiner Tochter. Er behandelte sie aufmerksam und respektvoll, als sei sie eine seiner Uni-Kolleginnen, und als er sich dafür bedankte, dass sie sich um das Haus kümmerte, klang sogar das ehrlich.
Das Abschiednehmen fiel allen sichtlich schwer. Milena saß ein dicker Kloß im Hals, als Felice ihr in die Arme fiel und sich weinend verabschiedete. Tränen flossen auch, als Felice schließlich Ava umarmte, und dies auf beiden Seiten. Gabriel stand betreten daneben. Die Verwunderung über den dramatischen Abschied stand ihm im Gesicht. Vermutlich hatte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt, dass die Frau, die ihm einst ihr Baby aufs Bett gelegt hatte und verschwunden war, innerhalb so kurzer Zeit eine so enge Bindung zu ihrer Tochter aufbauen würde.
Milena schämte sich angesichts der gefühlvollen Szene vor ihren Augen. Sie hatte keinen Grund, sich von irgendjemandem verraten zu fühlen. Gabriel war anscheinend ein hochanständiger, feiner Mann, der niemandem etwas Böses wollte. Und Ava wollte wohl wirklich nur ihr Bestes. Sie hatte getan, was sie nur tun konnte, um sie für die nächsten Monate abzusichern. Mit welchem Recht hatte sie noch mehr von ihr erwartet? In der Nacht hatte sie eindeutig überreagiert, das sah sie nun ein. Kaum war Gabriels Auto außer Sichtweite, trat sie daher auf Ava zu und nahm sie in die Arme.
»Tut mir leid«, sagte sie leise. »Danke für alles. Ich weiß, dass das zwischen uns nur eine Affäre war. Es waren nicht nur deshalb die schönsten Wochen, die ich seit Langem hatte. Ich habe mich auf jeden Tag mit dir und Felice gefreut.«
»Ich mich auch.« Ava küsste sie vorsichtig auf die Wange und sah ihr dann prüfend in die Augen. »Ist das zwischen uns … für dich etwa aus?«
»Na ja, du gehst nach Paris zurück. Unsere Leben trennen sich wieder. Und wer weiß, was sich bei jeder von uns getan hat, wenn wir uns in ein paar Monaten wiedersehen sollten?« Milena griff nach Avas Hand und drückte sie. »Wenn du allerdings vermutet hast, dass ich jetzt und sofort einen Schlussstrich ziehen will – nein, das will ich eigentlich nicht. Ich würde mich auf einen letzten gemeinsamen Abend mit dir freuen.«
Ava lächelte verhalten.
»Ich mich auch«, sagte sie. »Und über eine gemeinsame Nacht.«