Ava

Wenn der liebe Gott sich im Himmel langweilt, dann öffnet er das Fenster und betrachtet die Boulevards von Paris.

Ava stand am Fenster und starrte hinaus auf die menschenleere Straße ihres Wohnviertels Saint-Germain-des-Prés, die noch vor einem Jahr trotz der herbstlichen Temperaturen mit Leben gefüllt gewesen war, und versuchte sich zu erinnern, von wem das Zitat stammte. Von Rainer Maria Rilke oder von Heinrich Heine?

Egal! Sowohl der eine als auch der andere würde seine Meinung revidieren, wenn er die Stadt jetzt so zu Gesicht bekäme. Wegen der steigenden Infektionszahlen hatte Präsident Macron von Ende Oktober an einen weiteren Lockdown verhängt. Bars, Cafés, der Einzelhandel sowie sämtliche Kunst- und Kultureinrichtungen hatten geschlossen. Die Ausgangsbeschränkungen waren zwar weniger rigide als noch im April, doch das, was die Regierung den Bürgerinnen und Bürgern abverlangte, erinnerte Ava immer mehr an ein bürokratisches Absurdistan. Ehe sie die Wohnung verließ, musste sie sich ein Attest ausstellen, gleich, ob sie im erlaubten Radius von einem Kilometer ums Haus joggte oder in den nächsten Supermarkt ging. Neuerdings stand dort auch ein mit Schlagstock bewaffneter Wachmann, und zwar vor dem Regal mit Spielsachen. Die durften nämlich nicht verkauft werden, da sie nicht unter Artikel des täglichen Bedarfs fielen. Wer kein ausgedrucktes Attest mit sich führte, zahlte. Die Geldstrafen waren empfindlich hoch und trafen auch die Besserverdienenden. Wer mehrmals erwischt wurde, dem drohte letztendlich sogar Haft. Aus dem Land, das sie einst als ihre Wahlheimat geliebt hatte, war ein restriktiver Polizeistaat geworden. Das Virus war gefährlich, wie die tägliche Berichterstattung in den Medien zeigte. Sie hielt sich an die Auflagen, empfand die gesamte Situation aber von Tag zu Tag bedrückender.

Ava verdiente ihren Lebensunterhalt in der Einrichtungsbranche. Die ersten Schließungen im März und April hatte sie irgendwie gemeistert. Sie war gerade erst frisch zur Vertriebsleiterin ernannt worden und so vertieft in ihre Arbeit gewesen, dass die Tage hinter geschlossener Wohnungstür schneller vergingen als erwartet. Dann kam der Sommer, und alles wurde wieder etwas normaler, auch wenn sie in diesem Jahr bewusst auf Auslandsreisen verzichtete.

Jetzt aber hatte sie das Gefühl, dass ihr jeden Moment die Decke auf den Kopf fiel. Ihr Nacken schmerzte von der durchgängigen Sitzerei vor dem Laptop, und ihre Augen waren trocken. Die Augentropfen, zu denen sie inzwischen alle zehn Minuten griff, brachten kaum Linderung.

Als stärkste Belastung empfand sie jedoch die ständige Geräuschkulisse, die sie trotz geschlossener Tür nicht ganz ausblenden konnte. Im Gegensatz zu ihr saß Manou nicht ständig in irgendwelchen Zoom-Besprechungen oder Online-Meetings, sondern vertrieb sich die Langeweile damit, Freunde und Verwandte abzutelefonieren oder irgendwelche Netflix-Serien anzusehen. Manchmal machte sie auch Yoga oder Pilates oder kochte aufwendige Menüs nach Rezepten, die sie im Internet aufgetrieben hatte.

Ava wusste, dass Manou mit all dem nur die innere Verzweiflung überspielte, die sie Tag für Tag mehr in die Knie zwang. Erst vor rund einem Jahr hatte sie gemeinsam mit einer Freundin ein Yoga-Studio im 7. Arrondissement eröffnet. Schneller als erwartet war ein beachtlicher Kundenstock entstanden, der es den beiden ermöglichte, ihre sonstigen Trainingsjobs in diversen Fitness-Studios aufzugeben. Und dann kam Corona.

Als der erste Lockdown in Kraft trat, hing Manou in Indien fest, wo sie eine weitere Yoga-Ausbildung absolvieren wollte. Nachdem sie die ersten Aufrufe, zurückzufliegen, geflissentlich ignoriert hatte, wie es nun mal typisch für sie war, wurde die Abreise aus einem im Chaos ertrinkenden Land zur echten Herausforderung. Rund ein Monat verstrich, ehe sie für teures Geld einen Rückflug nach Paris bekam. Der Frühling war inzwischen weit fortgeschritten, die Zahl der Infizierten zurückgegangen. Die Maßnahmen wurden Woche für Woche gelockert, das Leben erträglicher. Auch das Yoga-Studio durfteunter strengen Hygieneauflagenwieder öffnen, und wann auch immer Manou von ihrer unfreiwillig verlängerten Zeit im Yoga-Ashram sprach, hörte es sich in Avas Ohren an wie endloser Urlaub. Natürlich, auch dort war das Leben zeitweise heruntergefahren worden, aber im Ashram durften sich die Schülerinnen und Schüler relativ frei bewegen, meditierten weiterhin im Schatten der Palmen und philosophierten in Kleingruppen über die Tristesse ihres derzeitigen Daseins, was Ava, gefangen in der Pariser Stadtwohnung, wie ein Hohn vorgekommen war.

Trotzdem: Manous Abwesenheit war ein eindeutiger Pluspunkt, den Ava sich in der jetzigen Situation auch wünschte. Manou konnte nichts leise machen und: Manou war schlampig. Für Ava waren kreuz und quer in der für Pariser Verhältnisse geräumigen Altbauwohnung verteilte T-Shirts, Leggins, Socken und Sport-BHs eine einzige Provokation. Benutztes Geschirr räumte Manou erst Stunden später in die Spülmaschine, wenn überhaupt, und nie kam es ihr in den Sinn, auch nur ein Mal mit dem Tuch über das japanische Designer-Tischchen aus Walnussholz zu wischen, wenn ihre Teekannen und -tassen darauf Abdrücke hinterließen.

Ava machte das wahnsinnig, und sie fragte sich zum wiederholten Mal, ob ein gemeinsames Dach nicht zu voreilig gewesen war. Sie waren seit fast drei Jahren ein Paar und wohnten seit eineinhalb Jahren zusammen, wobei Ava in Vor-Corona-Zeiten mehrmals pro Monat Dienstreisen unternommen hatte. Manou, im Gegensatz zu ihr auch an Outdoor-Sport interessiert, verbrachte die Sommerwochenenden sehr oft in den Bergen. Es hatte daher Monate gegeben, in denen sie bestenfalls sechs bis acht Tage wirklich miteinander verbrachten, und das nicht am Stück. Jetzt, wo sie Tag für Tag aufeinanderklebten, bekamen die Unterschiede zwischen ihnen für Ava mehr Gewicht als die Gemeinsamkeiten. Außerdem hatten sie viel weniger Sex als zuvor.

»Ava, quest-ce que tu en penses? Les Scandinaves vont-ils sauter dessus?«

Céciles Stimme rief ihr in Erinnerung, dass die Telefonkonferenz, in der es um Detailfragen zu einer Fotoserie ging, noch nicht zu Ende war. Ob der skandinavische Markt darauf ansprang, war für sie nicht gerade die brennendste aller Fragen.

Hastig kehrte Ava an den Schreibtisch zurück. Ihr eigenes Foto trat aus der Galerie der Kolleginnen und Kollegen hervor, als sie ihr stumm geschaltetes Mikrofon freischaltetedas Portrait einer Frau um die Dreißig, das mit deren momentaner Lebensrealität wenig gemein hatte. Die Studioaufnahme zeigte ein dezent geschminktes Gesicht, das blonde Haar sorgfältig zu einer aufwendigen Frisur aufgesteckt, mit kleinen silbernen Steckern an den Ohrläppchen und in einem kobaltblauen Blazer, aus dem der Kragen einer weißen Rüschenbluse hervorblitzte. Im Gegensatz zur echten Ava wirkte ihr Abbild frisch und positiv. Zwar gehörte sie nicht zu jenen, die in Jogginghose und Schlabberpulli im Homeoffice saßen, doch betrieb sie längst nicht mehr so viel Aufwand mit ihrem Äußeren wie zu den Zeiten, in denen sie Kundentermine in ganz Europa wahrgenommen und quasi ständig in irgendwelchen Meetings gesessen hatte. Sie verzichtete inzwischen auf Foundation und Puder, was sie zwangsläufig blasser wirken ließ und ihren dunklen Augenringen eine Präsenz gab, die sie nicht verdient hatten. Sie zog ihren Lippenstift nicht mehr stündlich nach und ließ am Morgen oft das Mascara weg.

Von Tag zu Tag wurde sie müder und lustloser, das Bild von sich selbst, das sie über Jahre durch Disziplin und Sorgfalt aufgebaut hatte, aufrechtzuerhalten. Corona und die damit verbundenen Regierungsmaßnahmen raubten ihr die letzte Motivation.

Daher verzichtete sie auch diesmal darauf, die Kamera zu aktivieren, obgleich sie wusste, dass Cécile dies nicht guthieß. Ihre Chefin hielt Online-Meetings ohne Sichtkontakt für unpersönlich. Sie selbst hatte sich mit Beginn des zweiten Lockdowns mit Ehemann, Au-pair und den drei Kindern in ihr Landhaus in der Bretagne zurückgezogen und schien von Videokonferenz zu Videokonferenz erholter und vergnügter, als sie es zu Bürozeiten je gewesen war.

Ava gab einen kurzen Abriss dessen, was ihr die potenziellen Vertriebspartner in Kopenhagen, Stockholm, Oslo und Helsinki beim letzten Zoom-Meeting gesagt hatten, und versuchte dabei, die unverblümte Wahrheit in blumige Phrasen zu packen: dass die Skandinavier helle Farben, zweckmäßige Möbel und schlichtes Design bevorzugten und möglicherweise noch nicht bereit waren für ausladende Polstermöbel, samtüberzogene Bettgestelle, Schmuckelemente aus Messing und Marmor, schwere Veloursvorhänge im Stile von Louis XV., üppige Kronleuchter und kunstvolle Blumenarrangements in bauchigen Vasen.

Für Cécile, seit zehn Jahren nach dem alternden Firmengründer Gustave Bernard die Nummer zwei im stetig expandierenden Nobel-Innenausstatter La Maison Française, war das eine Antwort, die sie nicht akzeptieren konnte. Nach zehnminütigem Solovortrag über strategische Marktaufbereitung und den Willen zum Erfolg fühlte Ava sich wie ein getadeltes Kind, obgleich die Chefin ihre Worte an alle gerichtet hatte.

Anscheinend ging es nicht nur ihr so. Adrien, Leiter der Marketingabteilung, hatte das Bedürfnis, sich zu verteidigen.

»Cécile, aufgrund der aktuellen Situation haben die Leute im Moment anderes im Kopf, als sich über ihre Einrichtung Gedanken zu machen. Nicht wenige quälen existenzielle Sorgen. Ich denke, wir sollten den Markteintritt in Skandinavien auf nächstes Jahr verschieben. Dann hätten wir auch länger Zeit, PR-Artikel in den relevanten Zeitschriften zu lancieren und Stimmung für französisches Lebensgefühl zu machen. Ich denke da an Kooperationen mit französischen Weinhandlungen, Lebensmittelketten, Restaurants und …«

Er kam nicht dazu, seinen Satz zu Ende zu führen.

»Gerade weil die Leute wegen Covid-19 zu Hause sitzen, wollen sie ein schönes Heim haben!«, fuhr ihm Cécile scharf ins Wort. »Es ist ein idealer Zeitpunkt! Und finanzielle Gründe lasse ich da nicht gelten. Dass unsere Kunden aufgrund von ein paar Monaten Geschäfts­einbußen gleich den Gürtel enger schnallen, ist lachhaft! Und wenn guter Geschmack plötzlich eine Geldfrage ist, dann ist es um den Fortbestand der Menschheit ohnehin schon geschehen

Dem ersten Teil ihrer Aussage stimmte Ava noch innerlich zu: Wer in guten Zeiten für eine Designerstehlampe oder ein Nachtkästchen mehrere tausend Euro lockermachte, würde wegen einer temporären wirtschaftlichen Flaute nicht gleich verarmen. Was den zweiten Satz betraf, so offenbarte Cécile wieder einmal unwillentlich, in welch elitärer Blase sie lebte. Ihr Mann besaß ein erfolgreiches Bauunternehmen, wie Ava wusste. Auch ohne ihren gut dotierten Posten als stellvertretende Geschäftsführerin hätte sie ein Leben geführt, in dem es an nichts mangelte. Da Ava bereits in Ungnade gefallen war, verzichtete sie auf mühsame Erklärungen, dass sich die finanziellen Verhältnisse erwiesenermaßen sofort in der Wohnsituation widerspiegelten.

Auch die anderen Kollegen schwiegen betreten.

»Deine Idee, Adrien, ist natürlich ausgezeichnet: Lass uns mit dem Kulinarik-Sektor kooperieren! In einem Monat erwarte ich dein ausgearbeitetes Konzept

Adrien, der seine Kamera brav eingeschaltet hatte, riss die Augen auf und schnappte nach Luft.

»Aberaber so war das nicht gemeint! Ichich dachte an Veranstaltungen, an Live Events, an …«

»An was du dachtest, spielt keine RolleCécile warf ihr dunkles Haar in den Nacken und reckte dabei ihr Kinn nach vorneeine Pose, die sie immer dann einnahm, wenn die Diskussion für sie ein Ende fand. »Es wird aufgrund der Umstände eben ein Online-Konzept. Ich predige euch schon seit Anfang Februar, dass wir eine stärkere Web-Präsenz brauchen. Aber was ist bisher geschehen? – Nahezu nichts

Das ärgerte Ava. Es war ein klarer Seitenhieb gegen sie und ein ungerechtfertigter noch dazu. Seit Anfang April war sie darum bemüht, die Vertriebspartner mit ausgefeilten Konzepten und Ressourcen beim Auf- und Ausbau ihrer Onlineshops zu unterstützen. Ein paar größere Ketten, die La Maison Française-Interieur anboten, hatten das inzwischen auch gut hinbekommen. Kleinere Einrichtungsboutiquen scheiterten meist an der erforderlichen Logistik. Was nutzte es da schon, wenn La Maison Française ihnen einen sensationellen Web-Auftritt finanzierte, dann aber keiner da war, um die Möbel vom Shop oder aus dem kleinen Lager zum Kunden zu liefern. Sie hatte diese Problematik unzählige Male zur Sprache gebracht, aber Cécile war auf diesem Ohr taub. il y une volonté, il y a un moyen. Wo ein Wille, da ein Wegso lautete ihre Devise.

»Setz dich hierzu mit Ava zusammen«, ordnete Cécile nun auch schon an. »Ich erwarte eure Präsentation Mitte Dezember

Ava seufzte in Gedanken. Wer Cécile kannte, wusste, dass sie mindestens schon eine Woche vor der angesetzten Frist ein Ergebnis sehen wollte.

*

»Es ist zehn nach zehn am AbendManou kam ins Zimmer, eine halbvolle Flasche Bordeaux in der rechten Hand, ein gefülltes Weinglas in der linken. »Wäre es nicht endlich an der Zeit, mal Schluss zu machen

Ava sah von der Excel-Liste auf, die den ganzen Bildschirm ihres Notebooks füllte, und rieb sich die Augen.

»Das muss bis morgen fertig sein. Ich muss noch achtzig Adressen checken

»Nein, musst du nicht

Die Frau mit den großen, dunklen Augen im herzförmigen Gesicht schob einen Stapel Unterlagen beiseite und setzte sich auf die Kante des Schreibtisches. Ihr kurzes Spitzennachthemd rutschte dabei so weit nach oben, dass ihr neckischer Tanga hervorblitzte.

Ava unterdrückte ein Seufzen. Bitte nicht jetzt.

»Ich muss die Liste morgen an Adrien weiterleiten

Sie rang um einen neutralen Tonfall. Bloß keinen Streit. Wenn Manou merkte, dass sie sie am liebsten loshaben wollte, würde das zwangsläufig zu einer dieser endlosen Diskussionen führen, in denen Ava immer die Argumente ausgingen. Ihre Freundin war rhetorisch wesentlich versierter als sie selbst.

»Du arbeitest seit knapp zwei Wochen quasi non-stop

Manou hatte offenbar nicht vor, sich so einfach abschütteln zu lassen. Sie nahm die Weinflasche und wollte Avas Glas nachfüllen, das links neben dem Notebook stand, stellte aber fest, dass es noch unberührt war. »Ich habe dir den Wein vor zwei Stunden gebracht, und du hast nicht mal gekostet? – Was ist mit dirMit unüberhörbarer Frustration in der Stimme stellte sie die Flasche ab. »Du trinkst nichts, isst mein Essen nicht …«

»Unsinn«, wehrte Ava ab. »Dein indisches Curry heute war exzellent, und ich bin dir wirklich dankbar …«

dass du das Kochen übernimmst.

»Erstaunlich, dass du das sagst. Du hast kaum einen Viertel Teller davon gegessen. Mon dieu, Ava, warum können wir nicht das machen, was normale Pärchen in dieser beschissenen Zeit machen: vögeln, gemeinsam Brot backen, lange ausschlafen, uns den Bauch vollschlagen und den Weinkeller leerräumen?!«

Manou fuhr sich durch ihren dunklen Bob, der mangels der Möglichkeit, einen Friseur zu besuchen, täglich mehr außer Form geriet. Zu Avas Erstaunen schien ihr das nicht einmal aufzufallen. Sie selbst störte sich sehr daran, dass ihr dunkelblonder Haaransatz schonungslos offenbarte, was sie sogar Manou verschwiegen hatte: dass ihr schöner Goldton auf Wasserstoff­per­oxid zurückging und das Werk eines teuren Coiffeurs an der Rue Mouffetard war.

»Vermutlich, weil wir keinen Weinkeller habenAva hatte gehofft, scherzhaft zu klingen, doch wie so oft, wenn sie witzeln wollte, hörte sie sich verbissener an denn je. Sie gab auf. »Unser Lebensunterhalt hängt von meinem Job ab, Manou. Wir müssten diese Wohnung hier aufgeben und in ein heruntergekommenes Appartement in Barbès-Rochechouart ziehen. Also lass mich lieber arbeiten, ehe es soweit kommt

Kaum ausgesprochen, wusste sie schon, dass ihre Freundin es in die falsche Kehle bekommen würde. Manou, die gerade einen Schluck Wein hatte nehmen wollen, stellte ihr Glas so ruckartig auf den Schreibtisch, dass der Inhalt beinahe überschwappte. Ava zuckte unwillkürlich zusammen.

»Und jetzt lässt du wieder raushängen, dass ich gerade wenig finanziell beisteuern kann. DankeSie schnaubte. »Aber weißt du was? Ich brauche das alles hier nichtSie machte eine ausschweifende Geste durch den Raum. »Dieser ganze Einrichtungsschnickschnack, dieses Designer-Zeugdas ist alles dein Ding! Ich finde es nett, ja, und ich liebe die große Wohnung. Aber ich wäre tausendmal glücklicher, wenn wir einfach nur ganz normal leben könnten

»Ganz normal«, wiederholte Ava beherrscht. Sie würde sich nicht auf diese Diskussion einlassen. Sicher nicht! »Damit meinst du: Du, ich und die Brotbackmaschine

Ein paar Tropfen waren doch über den Rand gelangt, am Glas nach unten gekrochen und hatten inzwischen den Sockel erreicht. Ava spürte, wie die Anspannung in ihr wuchs.

»Wenn das witzig sein sollte, ging es daneben. Du weißt genau, was ich meine

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, gab Ava vor und sprang auf. Der Wein hatte jetzt auf dem Schreibtisch eine winzige rote Pfütze gebildet. Sie stürmte in die Küche und packte den feuchten Fetzen, den Manou wie immer im Spülbecken hatte liegen lassen. Zurück im Wohn- und Arbeitszimmer, hob sie das Glas an und wischte hastig über die Tischplatte.

»Du bist so krank«, stellte Manou resigniert fest. »Fällt dir das eigentlich nicht selbst auf

Ava blieb ihr die Antwort bewusst schuldig.

Sie ließ sich wieder vor ihrem Notebook nieder und starrte demonstrativ auf den Bildschirm, in der Hoffnung, dass Manou aufgeben und ins Nebenzimmer verschwinden würde. Doch Manou blieb eisern sitzen.

»Du hast nicht nur einen Putzfimmel, sondern irgendeine Störung. Dein Ordnungssinn und Sauberkeitswahn sind nicht normal! Kein Mensch wechselt alle zwei Tage die Bettwäsche, außer er ist Gast in einem Hotel! Keiner entsorgt den Müllsack, sobald er nur halb voll ist. Und keiner lässt dreimal in der Woche die Putzfrau kommen, wenn ohnehin niemand zu Hause ist

»Die Putzfrau kommt nicht mehr

Manou lachte bitter.

»Ja, wegen Corona! Aber das ist auch der einzige Grund. Muss ja für dich die Hölle sein, dass sich jetzt hin und wieder irgendwo Staub ansammelt

Es war tatsächlich belastend, aber das behielt Ava für sich.

»Manou, was willst du eigentlichAva sah ein, dass sie der Auseinandersetzung nicht aus dem Weg gehen konnte. Manou war offensichtlich in Kampfeslaune. »Ich bin, wie ich bin. Ich bin zweiunddreißig Jahre alt und werde mich nicht mehr ändern! Ich akzeptiere deine Ecken und Kanten doch auch

»Nein, tust du nichtManou rutschte vom Schreibtisch und nahm die Weinflasche und das Glas wieder an sich. »Du sagst zwar nichts, das stimmt, aber du kritisierst mich stillschweigend indem du Geschirr, das ich gerade abgewaschen habe, nochmal wäschst, als hätte ich es nicht gründlich genug erledigt, oder indem du meine Jacke vom linken Garderobenhaken auf den rechten hängst. Es sind diese kleinen Gesten und Handgriffe, Ava, über deren Bedeutung du dir gar nicht bewusst bist. Aber jeder ist wie ein Schnitt in meine Seele

Ava setzte an, um etwas zu erwidern, ohne genau zu wissen, was sie sagen würde, doch Manou gab ihr keinen Raum.

»Dein Handy leuchtet. Du bekommst einen Anrufübrigens schon das dritte Mal, seit ich hier sitze. Du solltest abheben, vielleicht ist es jemand von deiner geliebten Arbeit

Damit zog sie die Tür hinter sich zu.

Ava massierte mit beiden Händen ihre Schläfen. Die Kopfschmerzen, die sie schon den ganzen Tag begleitet hatten, waren stärker geworden. Sie fühlte sich ausgelaugt und müde. Manou zu widerlegen war unmöglich. Sie wusste selbst, dass sie oft übertrieb. Das Problem war, dass sie nicht aus ihrer Haut heraus konnte. Sämtliche Vorsätze, die Dinge gelassener zu sehen, scheiterten bereits an einem Tröpfchen Wein auf der Tischplatte oder einer Decke, deren Kanten nicht exakt aufeinanderlagen.

Resigniert griff sie nach dem Handy. Sie hatte es absichtlich lautlos gestellt. Die unbekannte Nummer war bereits am späteren Nachmittag auf ihrem Display erschienen. Sie gehörte der Vorwahl nach zu einem österreichischen Mobilfunkbetreiber, und das war der Grund, weshalb sie nicht abhob. Gerade in Zeiten wie diesen, in denen es ihr ohnehin nicht gut ging, fühlte sie sich nicht stark genug für eine Konfrontation mit der Vergangenheit.

Sie wollte das Gerät schon zur Seite legen, als sie entdeckte, dass eine SMS eingegangen war. Die Neugier, wer hier so dringend etwas von ihr wollte, war stärker als ihre innere Abwehr.

Als sie die drei Worte las, die ihr in schwarzer Schrift auf grauem Hintergrund entgegenprangten, wurde ihre Kehle eng:

Mutter ist tot.

*

Ava weinte nicht. Dazu gab es aus ihrer Sicht keinen Anlass. Das Verhältnis zu ihrer Mutter war immer komplex geweseneine zermürbende Mischung aus Liebe und Hass. Letzteres hatte irgendwann die Oberhand gewonnen.

Was sie fühlte, war Beklemmung. In ihren dunkelsten Stunden, wenn der Hass in ihr loderte, hatte sie ihrer Mutter manches Mal den Tod gewünscht und sich danach sofort dieser bösen Gedanken geschämt, die sie selbst zu dem schlechten Menschen machten, der sie nie hatte sein wollen. Beim Tod ihrer Mutter, so hatte sie immer gedacht, werde die Last von ihr abfallen, die auf ihrem Brustkorb lag wie ein schwerer Stein und sie immer wieder daran erinnerte, auf welch teurem Grund ihr Leben aufgebaut war. Stattdessen hatten die drei Worte dem imaginären Stein noch mehr Gewicht verliehen.

An diesem Abend schaffte sie es nicht mehr, sich auf Adressen und Umsatzzahlen zu konzentrieren. Am nächsten Tag auch nicht. Tausende Erinnerungen klopften an die Tür, die sie vor zwölf Jahren beim Verlassen ihres Elternhauses hinter sich geschlossen hatte. Mit den Erinnerungen kam die Schuld.

Was du tust, ist unverzeihlich.

Sie starrte auf den Monitor, während sie die Stimme ihrer Mutter hörte, als würde sie neben dem Schreibtisch stehen.

Du wirst es bereuen.

Was für ein Hohn es doch war, dass ausgerechnet die Frau, die nie Schuld eingestanden oder irgendetwas bedauert hatte, von Reue sprach!

Ava kniff die Lider zusammen und blinzelte angestrengt. Die letzte Ampulle Augentropfen hatte sie vor einer Stunde verbraucht. Irgendwann musste sie zur Apotheke. Die Aussicht, sich selbst wieder einen Bescheid auszustellen, von wann bis wann sie außer Haus ging und warum, hatte sie die trockenen Augen erst einmal ertragen lassen.

Es wird dich immer wie ein Schatten verfolgen.

Das waren die letzten Worte ihrer Mutter gewesen, als sie da­­mals nach der Ankunft in Paris zu Hause angerufen und ihr gestan­den hatte, was sie getan hatte. Sie solle nicht nach ihr suchen – und auch nicht nach dem Baby.

Es ärgerte sie, dass ihre Mutter recht behalten sollte. Während sie in den ersten Jahren nie daran gedacht und stattdessen geradlinig ihrem Weg gefolgt war, wuchs sich der Schatten nach und nach zu einem stillen Begleiter von monströsem Ausmaß aus. Der Tod der Mutter schien sein Wachstum zu maximieren.

Sie hatte nicht vorgehabt, auf die Nachricht, deren Absender nur ihr Bruder sein konnte, überhaupt zu reagieren. Doch Ava fand nicht zur Ruhe. Vielleicht war es besser, sich den Geistern zu stellen, um sie endgültig loszuwerden. Mit zitternder Hand griff sie schließlich zu ihrem Handy und rief die Nummer auf, von der die drei so endgültigen Worte gesendet worden waren.

Ihr Herz klopfte. Nach dreimaligem Läuten kam sie sich dämlich vor. Was erwartete sie von diesem Gespräch? Tot war tot. Da gab es wohl kaum neue Erkenntnisse. Und mit allem, was damit in Verbindung stand, musste sie sowieso alleine fertigwerden.

Sie wollte gerade auflegen, als die leicht spöttische Stimme ihres Bruders erklang.

»Sieh an, sieh an! Nun meldet sich mein Schwesterherz nach fast zwei Tagen doch noch! Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass die Nummer auf der Website dieses französischen Schickimicki-Möbelladens wohl die falsche ist

Er machte eine Pause, die zu kurz für eine Entgegnung war, aber lang genug, um sie seine selbstempfundene moralische Überlegenheit spüren zu lassen.

»Allerdings hätte ich mir ja denken können, dass du einfach nur zu beschäftigt bist, um dich mit so etwas Profanem wie dem Tod deiner Mutter zu befassen

Jetzt triefte seine Stimme vor Sarkasmus. In Ava stieg kalte Wut auf. Ihre linke Hand schloss sich zu einer festen Faust. Die Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in ihre Handflächen. Sie würde sich nicht provozieren lassennicht mehr. In den zwölf Jahren, in denen sie sich nicht mehr gesprochen hatten, war sie eine andere geworden.

»Danke, dass du mir Bescheid gegeben hast«, sagte sie und war fast schon stolz darauf, wie neutral sie dabei klang. »Woran ist sie gestorbenIhr Interesse war ehrlich. Bei einer Vierundsechzigjährigen dachte man nicht sofort an die üblichen Todesursachen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall, zumal, wenn sie körperlich so fit gewesen war wie ihre Mutter. »War esCorona

Die Horrorberichte in den Medien waren auch an ihr nicht spurlos vorübergezogen.

»Sie ging zuletzt kaum mehr aus dem Haus, sondern hat quasi alles online bestellt und sich liefern lassen. Mit dem Internet war sie erstaunlich sattelfest. Grundnahrungsmittel habe ich ihr vorbei­gebracht. Freunde kamen keine. Wer auch? – Corona hätte mich bei ihr sehr überrascht

Der süffisante Spott war verschwunden. Ihr acht Jahre älterer Bruder klang nun beinahe wie früher der Vater.

»Was dann

»Sie hat sich das Genick gebrochen. Ein Sturz über die Treppe. Deshalb war auch die Kripo im Haus. Hätte ja sein können, dass jemand sie gestoßen hat. Also, in der Theorie

Ava runzelte die Stirn.

»Aber sie war doch allein

Sie sah den Aufgang vor sich, der in den ersten Stock führte. Sie selbst war schon einmal auf den glatten Holzstufen ausgerutscht. Allerdings war sie damals noch ein Kind gewesen.

»Es konnte zumindest kein Fremdverschulden nachgewiesen werdenWieder machte er eine Pause, doch diesmal war sie frei von jedweder Feindseligkeit. »Sie hatte eins Komma vier Promille im Blut. Für die Kripo war damit alles klar

»Mutterhat wieder zu trinken angefangen

Fassungslosigkeit ergriff von ihr Besitz. Die Frau, die sie damals verlassen hatte, war seit über einem Jahr trocken gewesen. Ava war davon ausgegangen, dass sich daran nichts geändert hatte.

»Was hast du denn erwartet? Dass du von zu Hause abhaust und sie trotzdem stabil bleibt

Da war er wieder, dieser vorwurfsvolle Unterton, auf den sie nicht eingehen wollte. »Der Weinhändler wurde wieder zu ihrem besten Freund, kann man sagen

Eins Komma vier Promille.

Ihre Mutter war also im Suff zu Tode gekommen.

Sie wollte die offensichtliche Tatsache bereits abhaken, als etwas an der Aussage ihres Bruders dumpf an ihre Schläfen klopfte.

»Du sagst, für die Kripo war alles klar. Für dich nicht

Sein Zögern am Ende der Leitung gab ihr bereits die Antwort.

»Irgendetwas war anders im Haus. Aber frag mich nicht, was. Ist vielleicht nur ein Gefühl. Und vor etwas über einem Monat wäre sie beinahe das Opfer von Trickbetrügern geworden. Das habe ich durch Zufall erfahren, von einem Kumpel, der bei der Polizei ist. Sie selbst hat es nicht für nötig befunden, mir davon zu erzählen

»Ist etwas weggekommen

Ava dachte sofort an den wertvollen Schmuck, den ihre Mutter gewiss nicht im Tresor verstaut hatte. Der Safe würde sich bestimmt irgendwann nicht mehr öffnen lassen, hatte sie immer behauptet und dem Teil, in dem ihr verstorbener Mann hin und wieder Bargeld und auch eine alte Pistole aufbewahrte, ein Familienrelikt aus dem Zweiten Weltkrieg, nie über den Weg getraut.

»Nicht, dass ich wüsste. Die Polizei war wohl gerade noch rechtzeitig zur Stelle

Eine Weile schwiegen sie beide.

Ava sah sich selbst am Absatz der Treppe stehen. Sie hörte das Klirren von Scherben und den Fluch, den ihre Mutter ausstieß. Noch ehe sie das Blut auf deren Kleidung sah, wusste sie, dass etwas Schlimmes geschehen war. Einen Moment lang fühlte sie sich so schuldig wie damals.

»In einer Woche ist die Beerdigung. Wirst du kommen

»Nein

Noch unter dem Eindruck der plötzlichen Erinnerung an die roten Flecken auf dem weißen Blusenstoff musste sie nicht lange überlegen.

»Das dachte ich mirDie leichte Verachtung war zurückgekehrt. »Wie auch immer. Ich werde mich dann wohl alleine um den Verkauf des Hauses kümmern

»Verkauf

Die Selbstverständlichkeit, mit der er davon sprach, das Haus loszuwerden, stieß Ava vor den Kopf. Trotz der wenig glücklichen Erinnerungen, die sie damit verband, war es immer noch ein Anwesen von beträchtlichem Wert und seit über hundert Jahren im Besitz der Familie.

»Natürlich. Was soll ich denn mit der alten Bude? Da stecken hunderttausende Euro an Renovierungskosten drin. Das ist so oder so ein Minusgeschäft. Besser, es zu verkaufen, sobald das Erbe freigegeben ist. Das wird zwar noch dauern, aber da ohnehin klar ist, wer alles erbt, kann ich ja schon mal einen Makler beauftragen

War das wirklich so klar?

»Soviel ich weiß, steht mir immer noch ein Pflichtteil zu

»Das ist nicht dein Ernst, oderEr gab einen wenig amüsierten Lacher von sich. »Du machst dich einfach davon, lässt uns alle sitzen, tauchst für über ein Jahrzehnt abund jetzt, da es ums Erben geht, hältst du die Hand auf

Einen Augenblick lang fühlte sie sich tatsächlich wie die Erbschleicherin, als die er sie darstellte. Dann aber besann sie sich.

»Sieh es als ein Schmerzensgeld, das mir zusteht«, sagte sie. »Ich habe lange genug gelitten

Er lachte auf.

»Du hörst dich schon an wie Mutter. Du bist das Opfer, und alle haben Schuld. Hat dir das deine Therapeutin souffliert

Seine provokante Frage brachte das Fass zum Überlaufen. Sie hatte seine Selbstgefälligkeit satt, und die Entschiedenheit, mit der er das Erbe für sich beanspruchte, war ein Schlag ins Gesicht. Es ging ihr weniger um Geld, das ihr zustand oder auch nicht, sondern schlichtweg darum, ihm eine Grenze zu setzen, als sie mit fester Stimme erklärte: »Ich werde nächste Woche zur Beerdigung da sein

*

Manou lag schon im Bett, als Ava später ins Schlafzimmer kam, und sah sich am Handy irgendein YouTube-Video an. Sie hob kaum den Kopf. Ava nahm an, dass sie noch immer verstimmt war. Am Nachmittag hatten sie wieder gestritten. Diesmal war es darum gegangen, wer Lebensmittel einkaufen sollte. Bisher war Ava der Ansicht gewesen, dass Manou gerne einen Grund hatte, nach draußen zu gehenschließlich hatte sie ja ansonsten nichts zu tun –, wurde aber eines Besseren belehrt: Ihre Freundin empfand den bürokratischen Aufwand, der jedem Gang nach draußen vorausging, genauso belastend wie sie. Letztendlich hatte Manou dann doch den Einkauf übernommen, war seither aber äußerst kurz angebunden.

Ava beließ es dabei. Nach dem aufreibenden Gespräch mit ihrem Bruder hatte sie keine Kraft mehr zu diskutieren. Schweigend schlüpfte sie unter die Decke und drehte ihr den Rücken zu. Doch der quälende Druck auf ihrem Brustkorb ließ sie keinen Schlaf finden.

Als sie einsah, dass sie auf diese Weise die ganze Nacht wach liegen würde, zog sie die Schublade ihres Nachttisches auf und griff nach der angebrochenen Schachtel Somnarisdas Schlafmittel, von dem sie nach Jahren der psychischen Abhängigkeit geglaubt hatte, losgekommen zu sein. Manou bemerkte es, kommentierte es aber nicht.

*

»Morgen? Du fliegst morgen nach Österreich? Und das sagst du mir heute erst

Manou sah ihr ungläubig zu, während sie sorgfältig Kleidung für vier Tage in den Koffer schichtete: zwei Röcke, eine dunkel­blaue Stiefelhose, Blusen, zwei elegant geschnittene Jacketts. Seidenstrumpfhosen, ein Nachthemd und Unterwäsche. Ava verstand Manous Fassungslosigkeit. Sie verstand, dass es in einer Beziehung üblich war, sich gegenseitig über wichtige Ereignisse umgehend zu informieren. Sie verstand, dass sie unzählige Gelegenheiten verpasst hatte, genau das zu tunso, wie sie es eigentlich vorgehabt hatte. Was sie nicht verstand, war sich selbst. Wieso verschwieg sie Manou den Tod der Mutter? Wieder einmal hatte sie als Partnerin versagt.

Begleitet von dem Gefühl, in zwischenmenschlichen Beziehungen immer wieder zu scheitern, und dem Unbehagen, das mit einer Rückkehr in die Heimat verbunden war, stieg Ava am nächsten Morgen in das Taxi zum Flughafen. Die Atmosphäre am Aéroport Charles de Gaulle war bedrückend. Der Betrieb war aufgrund der Pandemie auf ein Minimum heruntergefahren, Geschäfte und Restaurants geschlossen. Im Flieger selbst herrschte strikte Maskenpflicht, allerdings hatte die Fluglinie darauf verzichtet, den Mittelplatz in der zweiten Klasse frei zu lassen, was Ava überraschte. Sie hatte gehofft, dass sie während des fast zweistündigen Fluges weiterarbeiten konnte. Doch um ihren Laptop auszupacken, war es viel zu eng.

Adrien und sie kamen bei ihrem neuen Projekt nicht so zügig voran, wie Cécile es erwartete. Nur wenige französische Weinhändler und Delikatessenläden in Skandinavien hatten im Moment ein offenes Ohr dafür, über eine Kooperation mit einem französischen Innenausstatter nachzudenken. Bisher hatten gerade einmal drei von den insgesamt rund dreihundert kontaktierten Händlern weitere Informationen zu dem in Avas Anschreiben grob umrissenen Kooperationskonzept angefordertund das, obwohl ihre Mitarbeiterinnen Eve und Michelle angeblich den ganzen Tag nichts anderes taten, als den versandten Mails hinterherzutelefonieren. Ava war sich längst nicht sicher, ob die Frauen ihrer Arbeit im Homeoffice so gewissenhaft nachgingen, wie es im Büro der Fall gewesen wäre. Dass sie die beiden nicht kon­trollieren konnte, machte sie unruhig. Zudem hatte Michelle auch noch Kinder und schien ihren Nachwuchs während ihrer Arbeitszeit absolut nicht in den Griff zu kriegen. Bei Telefonkonferenzen hörte man die drei immer im Hintergrund herumtoben.

Cécile war über ihre abrupte Abreise daher nicht glücklich gewesen und hatte dem Antrag nur deshalb stattgegeben, weil Ava versicherte, trotz Urlaub auch von Österreich aus stundenweise zu arbeiten.

Da sie sich den Flug über nicht ablenken konnte, war Ava den widersprüchlichen Empfindungen, die in ihr tobten, schutzlos ausgeliefert. Hundertmal fragte sie sich, ob sie nicht besser ihrem Bruder das Feld hätte überlassen sollen, hundertmal antwortete ihr eine innere Stimme, dass ihr die Anwesenheit bei dem Begräbnis helfen würde, endlich einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen.

Ein Gewicht weniger, das auf ihrer Seele lastete.

Was das andere betrafsie würde dieses Fass nicht aufmachen. Dazu bestand kein Anlass. Den Fotos nach zu urteilen, die ihr Gabriel in den ersten Jahren noch zugeschickt hatte, führte Felice ein glückliches Leben. Eine Mutter, die nichts von dem erfüllte, was der Begriff gewöhnlich implizierte, hatte darin ganz sicher keinen Platz.